Für die 67-jährige Anne ist es keine leichte Entscheidung, ihren stark pflegebedürftigen, dementen Ehemann Gustav in ein Pflegeheim zu geben. Zu sehr ist sie ihm noch emotional verbunden. Aber es liegen lange Jahre der Pflege bereits hinter ihr. Gustav war erst vierzig, als er den ersten Schlaganfall erlitt. Es folgten noch etliche weitere. Zunächst büßte er sein Sprachvermögen, dann motorische Fähigkeiten und schließlich auch noch Gedächtnis und Persönlichkeit ein. Zunehmend reagierte er auch aggressiv. Was für Anne nun trotz ihrer regelmäßigen Besuche im Pflegeheim eine Art Befreiung und Unabhängigkeit hätte werden können, durchkreuzt das Schicksal erneut aufs härteste. Bei ihr wird ein Darmtumor entdeckt, der bereits Metastasen gebildet hat. Anne wird sterben. Dass ihre Geschichte in Zuunterst immer Wolle dennoch keine deprimierende oder dunkle geworden ist, verdankt sich der pragmatischen, manchmal etwas ruppigen Art, mit der Helga Flatland ihre Protagonistin ausgestattet hat.
So beginnt das Buch auch mit einer Schlachtszene, in der Anne ihren fünf schon etwas altersschwachen Hühnern, die sie nur noch aus nostalgischen Gründen auf dem längst stillgelegten Bauernhof hält, die Köpfe abhackt. Anne beginnt bereits ein wenig hinter sich aufzuräumen, ihre Angelegenheiten zu regeln. Da ist für Selbstmitleid oder Jammern kein Platz, maximal für ein wenig Nostalgie und Bedauern. Anne ist die eine Ich-Erzählerin in Zuunterst immer Wolle von Helga Flatland. Ihr zuzuhören ist zwar traurig, aber auch hoffnungsvoll und auf gewisse Weise ermutigend.
Mutter und Tochter
Anders erging es mir mit der zweiten Ich-Erzählerin, der Tochter Sigrid. Ihr Erzählen ist voller Wut und Selbstmitleid. Sie wirft ihrer Mutter immer noch unerbittlich vor, nicht genug für ihre Kinder da gewesen zu sein, als sie noch klein waren. Das ist einerseits verständlich, denn Sigrid war gerade mal acht Jahre alt, als der Vater den ersten Schlaganfall erlitt. Andererseits war Anne bereits als Mitte Dreißigjährige voll mit der Pflege ihres Mannes beschäftigt. Diese Pflege den Kindern vorgezogen zu haben, verzeiht Sigrid im Gegensatz zu ihrem älteren Bruder Magnus der Mutter bis heute nicht. Ihr Verhältnis ist angespannt, voller offener und verdeckter Vorwürfe und gefährlicher Minenfelder. Das ändert sich auch nur schrittweise in der nächsten Zeit, in der die Krankheit Annes voranschreitet.
Das Verhältnis Sigrids zu ihrer Mutter ist aber nur eines, in der es kriselt. Die 19-jährige Tochter Mia nabelt sich immer mehr von zuhause ab. Ihr Vater Jens, der die schwangere Sigrid einst sitzengelassen hat, ist nun nach Oslo zurückgekehrt und sucht den Kontakt zu seiner Tochter zu intensivieren, was Sigrid gar nicht gefällt. Obwohl oder weil sie selbst sich noch stark zu Jens hingezogen fühlt, gleichzeitig zu einem scheinbar anderen, freieren Leben. Aber da ist ja auch noch ihr langjähriger Lebensgefährte, der bodenständige Aslak, der Mia ein Ersatzvater ist, und mit dem sie noch den vierjährigen Sohn Viljar hat. Aber die Beziehung scheint ihre besten Tage auch bereits hinter sich zu haben.
Mitten im Leben
Dazu kommen die beruflichen Belastungen, denen Sigrid als Ärztin ausgesetzt ist. Eine junge, suizidgefährdete Patientin lässt sie viel zu nah an sich herankommen. Der Vater im Pflegeheim und nun noch die Krebsdiagnose der Mutter. Es ist der „normale“ Familienwahnsinn, den Helga Flatland in Zuunterst immer Wolle in ihrer tollen Art zu erzählen vor uns ausbreitet. Empathisch, nie urteilend, immer voller Respekt und Mitgefühl mit ihren Figuren erzählt sie von dieser immer wieder faszinierenden Gemeinschaft namens Familie, die so oft einengt und nervt und bedrückt. Und die doch auch Ankerpunkt, Festung und Rückhalt bedeutet. Geradlinig, ruhig erzählt Helga Flatland von Verletzungen, Verbitterung, Wut, aber auch von Vergebung, Verständnis, Nähe. Sie erzählt vom Schweigen, dass in vielen Familien herrscht, von unausgesprochenen Vorwürfen und wie man sich dennoch auch wieder annähern kann und sollte. Denn in jedem Leben wartet auch der Tod. Meist wird uns das zu spät bewusst. Dem Buch ist ein Gedicht von Tomas Tranströmer als Motto vorangestellt.
Mitten im Leben geschieht’s, daß der Tod kommt
und am Menschen Maß nimmt. Diesen Besuch vergißt man,
und das Leben geht weiter. Doch im Stillen wird der
Anzug genäht.
Beitragsbild by nirak68 (CC BY-ND 2.0) via flickr
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.Helga Flatland – Zuunterst immer Wolle
Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger
Weidle März 2022, 280 Seiten, fadengeheftete Broschur, € 25,00
Tolle Rezension, vielen Dank!
Sehr gern!
Die Erläuterungen in Ihrem Artikel sind gut. Danke, dass Sie ihn geteilt haben.
Sehr gerne!