Vielleicht ist der Mai mein Lieblingsmonat. Zumindest öffnet er das Tor zu meiner Lieblingsjahreszeit, dem Sommer. Ächzen und Stöhnen über zu viel Hitze oder Klagen, weil es nicht regnen will, sind mir weitgehend fremd. Natürlich, auch ich würde mir konstante 25° Celsius, Sonne, leichte Brise und nächtliche Regenschauer wünschen, wenn ich dürfte. Aber lieber 30° als 20° und lieber Garten gießen als ständig Regen. Bisher habe ich noch nicht allzu viel draußen lesen können, aber vielleicht ändert sich das ja im Juni. Meine Lektüre im Mai 2022 war aber schon sehr sonnig und schön. Ein abgebrochenes Buch und sonst nur gute bis sehr gute.
Virginia Woolf – Mrs. Dalloway
„Mrs. Dalloway sagte, sie werde die Blumen selbst kaufen.“ Der Anfangssatz von Mrs. Dalloway ist wohl einer der einprägsamsten der Literaturgeschichte. Doch wie es so manchen extrem bekannten Texten ergeht, haben gar nicht so viele Menschen, die den vielleicht berühmtesten Roman Virginia Woolfs zu kennen glauben, diesen auch tatsächlich gelesen.
Ich muss zugeben, dass auch ich dazu gehörte. Mrs. Dalloway schien mir durch den wunderbaren Roman von Michael Cunningham The Hours (deutsch Die Stunden), der 1999 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, reichlich vertraut. Andere Werke Woolfes kamen an die Reihe, aber dieser wurde immer wieder verschoben. Nun hat mich eine besonders schöne Ausgabe in der Reihe Manesse Bibliothek, in der Neuübersetzung durch Melanie Walz verführt, diesen 1925 entstandenen, bahnbrechenden Roman endlich einmal zu lesen.
Geschildert wird der Verlauf eines Junitages im Jahre 1923. Die 52-jährigen Clarissa Dalloway, Gattin eines Parlamentsabgeordneten, macht Besorgungen für einen großen Empfang, den sie und ihr Mann am Abend geben werden. In der Stadt begegnet sie einem alten Jugendfreund. Diese Begegnung löst Erinnerungen aus, sie denkt über das Altern und den Tod nach, über richtige und falsche Entscheidungen im Leben. Später trifft sie noch ihre Jugendliebe und ihren Ehemann. Parallel dazu begegnen wie dem Ehepaar Smith. Der Kriegsveteran Septimus Smith leidet an einem Trauma aus dem 1. Weltkrieg und an Depressionen. Später begeht er Selbstmord. Auf der Abendgesellschaft erfährt Clarissa durch dessen Arzt davon. So werden beide Handlungsstränge zusammengeführt. Immer wiederkehrender Bilder und Symbole, wie die Glockenschläge von Big Ben, strukturieren die Handlung, die aber keineswegs im Vordergrund steht und von so alltäglichen Dingen wie Essen und Einkaufen erzählt. Wichtiger sind Sinneseindrücke und Erinnerungen. Diese werden in direkter, indirekter und erlebter Rede und inneren Monologen geschildert. Es ist ein Bewusstseinsstrom à la „Ulysses“ und Mrs. Dalloway gilt als Meilenstein der modernen Literatur. Das ist nicht immer ganz leicht zu lesen, aber sehr fesselnd. Virginia Woolf breitet ein Panorama der britischen Gesellschaft nach dem 1. Weltkrieg aus, sein starres Klassensystem scheint wie das ganze Empire dem Untergang geweiht. Zu Recht ein Klassiker der Literaturgeschichte, den man unbedingt lesen sollte.
Margaret Laurence – Eine Laune Gottes
1966 im Original erschienen, ist A jest of god nun endlich in der Übersetzung von Monika Baark auch bei uns erschienen. Geschrieben wurde er direkt nach Der Steinerne Engel, der mir so sehr gefallen hat, und im Mittelpunkt steht wieder eine etwas exzentrische Ich-Erzählerin. Diesmal ist es aber keine alte Frau, sondern die erst 34-jährige Grundschullehrerin Rachel Cameron. Sie ist ein richtiges Mauerblümchen, Jungfrau und lebt bei ihrer verwitweten, hypochondrischen und extrem besitzergreifenden Mutter. Ihre Schwester Stacey hat beizeiten die Flucht ergriffen und lebt nun mit Mann und vier Kindern und kommt kaum noch vorbei. Rachel hingegen lässt sich von ihrer Mutter komplett einspannen und hat außer ihrer Kollegin Calla kaum Kontakte nach außen. Als sie ihrem Jugendfreund Nick wiederbegegnet, ist das für sie eine erotische Offenbarung. Zum ersten Mal stellt sie die Belange ihrer Mutter, die natürlich nicht sehr erfreut ist, hinter die eigenen und vergisst sämtliche Vorsicht.
Wieder gelingt Margaret Laurence ein beeindruckendes und überzeugendes Frauenporträt, psychologisch sehr modern, scharfsichtig und bissig. Sie siedelt es wie auch bereits den steinernen Engel und einige andere Texte in ihrer fiktiven Stadt Manawaka in Manitoba an und schafft damit gleichzeitig das authentische Gesellschaftsporträt einer kanadischen Kleinstadt der Sechziger Jahre, ihrer Enge, ihrer Borniertheit, ihrer Spießigkeit. Eine neue Gelegenheit, eine großartige kanadische Autorin kennenzulernen.
J.M.G. Le Clézio – Bretonisches Lied
Zwei Erzählungen des 1940 in Nizza geborenen Literaturnobelpreisträgers mit Wurzeln in der Bretagne und auf Mauritius, wohin Vorfahren auf der Flucht vor der Französischen Revolution emigrierten. Während des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besatzung fühlte sich seine Mutter, die sowohl die französische als auch die britische Staatsbürgerschaft besaß und daher als feindliche Ausländerin galt, bald weder in der Bretagne noch in Nizza sicher und floh mit ihren beiden Söhnen in die Berge, wo sie bei Bauern unterkam. Der Vater schloss sich als Militärarzt der britischen Armee an und war lange Zeit in Nigeria tätig. Nach dem Krieg verbrachte J.M.G. Le Clézio einige Jahre in Afrika, bevor die Familie nach Frankreich zurückkehrte.
In „Bretonisches Lied“, der ersten der beiden Geschichten, erzählt Jean-Marie Gustave Le Clézio von der Bretagne, in die er während seiner Afrikajahre 1948 bis 1954 in den Sommern reiste. Hier liegt der Ursprung der Familie, hierher in den kleinen Ort Sainte-Marine an der Mündung des Flusses Odet südlich von Quimper kehrte sie Jahr um Jahr zurück. Eindrücke, Erinnerungen, kleine Anekdoten. Die zweite Geschichte „Das Kind und der Krieg“ erzählt von der ganz frühen Zeit in Südfrankreich während des Krieges 1940 bis 1945. Die Auswirkungen des Kriegs, besonders auch auf Kinder, stehen im Mittelpunkt des Textes. Die Flucht mit der Mutter in die Berge, die Angst und der ständige nagende Hunger, das sind Dinge, an die sich der Autor trotz des jungen Altersnoch recht gut erinnern kann.
Djaïli Amadou Amal – Die ungeduldigen Frauen
Munyal, munyal – wie ein stetig wiederkehrender Refrain durchzieht dieses Wort das Buch der kamerunischen Autorin und Frauenrechtsaktivistin Djaïli Amadou Amal. „Geduld“ trifft es nur unzureichend, dieses Munyal, das von den Frauen im Buch und mit ihnen mit Millionen Frauen Westafrikas und vieler anderer Gebiete der Welt ständig eingefordert wird. Geduld mit dem ihnen aufgezwungenen Schicksal, das allzu oft aus Ohnmacht, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalterfahrungen besteht. Drei Frauen lässt Djaïli Amadou Amal in Die ungeduldigen Frauen das Wort ergreifen. Drei Geschichten, die eng miteinander verwoben sind. Patriarchat, Zwangsheirat, Polygamie, Gewalt gegen Frauen, sexuelle Ausbeutung – davon erzählt Djaïli Amadou Amal in Die ungeduldigen Frauen aufs erschütterndste. Dabei bleiben die betroffenen Frauen im Widerspruch zum Romantitel vielfach viel zu geduldig. Munyal, dieses allesbestimmende Prinzip der Selbstbeherrschung, dem im strengen Moralkodex der Fulbe, dem pulaaku, eine zentrale Bedeutung zukommt, zwingt die Frauen, ihr Schicksal stillschweigend zu erdulden. Keine Klagen, sondern Unterwerfung unter die gottgewollte Ordnung, die immer eine patriarchale Ordnung ist. Einen Ausweg, das macht Djaïli Amadou Amal klar, gibt es nur über Bildung und Öffnung nach außen.
Sie selbst, 1975 im Norden Kameruns geborene Fulbe, wurde als 17jährige zwangsverheiratet, floh nach sechsjähriger Ehe, ging eine zweite polygame Ehe mit einem gewalttätigen Mann ein und befreite sich schließlich aus dieser als eine ihrer Töchter zwangsverheiratet werden sollte. 2012 gründete sie den Verein Femmes du Sahel.
Helga Flatland – Zuunterst immer Wolle
Für die 67-jährige Anne ist es keine leichte Entscheidung, ihren stark pflegebedürftigen, dementen Ehemann Gustav in ein Pflegeheim zu geben. Zu sehr ist sie ihm noch emotional verbunden. Aber es liegen lange Jahre der Pflege bereits hinter ihr. Gustav war erst vierzig, als er den ersten Schlaganfall erlitt. Es folgten noch etliche weitere. Zunächst büßte er sein Sprachvermögen, dann motorische Fähigkeiten und schließlich auch noch Gedächtnis und Persönlichkeit ein. Zunehmend reagierte er auch aggressiv. Was für Anne nun trotz ihrer regelmäßigen Besuche im Pflegeheim eine Art Befreiung und Unabhängigkeit hätte werden können, durchkreuzt das Schicksal erneut aufs härteste. Bei ihr wird ein Darmtumor entdeckt, der bereits Metastasen gebildet hat. Anne wird sterben. Dass ihre Geschichte in Zuunterst immer Wolle dennoch keine deprimierende oder dunkle geworden ist, verdankt sich der pragmatischen, manchmal etwas ruppigen Art, mit der Helga Flatland ihre Protagonistin ausgestattet hat. Zweite Protagonistin ist Tochter Sigrid. Ihr Erzählen ist voller Wut und Selbstmitleid. Sie wirft ihrer Mutter immer noch unerbittlich vor, nicht genug für ihre Kinder da gewesen zu sein, als sie noch klein waren, hadert mit dem Verhältnis zur eigenen Tochter und kämpft mit den Belastungen als Landärztin. Empathisch, nie urteilend, immer voller Respekt und Mitgefühl mit ihren Figuren erzählt Helga Flatland von dieser immer wieder faszinierenden Gemeinschaft namens Familie, die so oft einengt und nervt und bedrückt. Und die doch auch Ankerpunkt, Festung und Rückhalt bedeutet. Geradlinig, ruhig erzählt Helga Flatland von Verletzungen, Verbitterung, Wut, aber auch von Vergebung, Verständnis, Nähe. Sie erzählt vom Schweigen, dass in vielen Familien herrscht, von unausgesprochenen Vorwürfen und wie man sich dennoch auch wieder annähern kann und sollte. Denn in jedem Leben wartet auch der Tod. Meist wird uns das zu spät bewusst.
Diesen Roman über eine unzertrennliche Gruppe Jugendlicher, die allesamt Außenseiter sind, habe ich leider abgebrochen. Trotz vieler begeisterter Stimmen zum Buch fand ich keinen Zugang dazu, war mir wie leider oft bei Debüts alles zu gewollt bedeutungsvoll, divers, schräg, düster. „Kaśka Brylas manischer Realismus zieht uns in seinen Bann. „Die Eistaucher“ ist ein hochaktueller und schmerzhaft intensiver Roman.“ heißt es auf der Verlagsseite. Und „Dieser Roman ist nichts für schwache Nerven und alles für brennende Herzen!“ Ich habe es mit dem unangeforderten Leseexemplar wirklich versucht. Aber diese Art von Büchern ist fast nie etwas für mich.
Sigrid Undset – Kristin Lavranstochter. Die Frau
Nachdem Kristin Lavranstochter im ersten Teil der Trilogie, für die die Autorin 1928 den Literaturnobelpreis erhielt, als junge eigenwillige Frau ihre Ehe mit dem angebeteten Erlend Nikulaussohn durchgesetzt hat, führt Sigrid Undset die Geschichte in Die Frau fort. Gegen den Willen ihres geliebten Vaters Lavrans Bjørgulvssohn hat sich Kristin diese Ehe ertrotzt. Ihre voreheliche Schwangerschaft konnte dadurch gerade noch legitimiert werden. Der schlechte Ruf Erlends, der zuvor mit einer anderen Frau in unehelicher Gemeinschaft lebte, aus der zwei gemeinsame Kinder stammen, erholt sich durch Kristins sorgsames Haushalten und erfolgreiche Geschäfte ihres Mannes langsam.
Wieder erzählt Sigrid Undset historisch präzise, mit viel Detailgenauigkeit für das Alltagsleben im 14. Jahrhundert, aber mit einem verblüffend modernen psychologischen Blick auf das Innenleben ihrer Protagonistin, ohne ihre Gedanken und Gefühle zu „modernisieren“.
Sarah M. Broom – Das gelbe Haus
Am 28. August 2005 braute sich auf der extrem aufgeheizten Meeresoberfläche des Golfes von Mexiko ein verheerender Sturm zusammen und zog Richtung New Orleans zur Küste Louisianas. Ray Nagin, der Bürgermeister von New Orleans, ordnet eine Zwangsevakuierung an. Geschätzt eine Million Menschen machen sich auf völlig verstopften Straßen nach Norden auf, weg von der Küste. Die, die nicht fliehen wollen oder können, werden im Superdome der Stadt untergebracht. Am Morgen des 29. August 2005 erreicht Hurrikan Katrina New Orleans mit einer sechs Meter hohen Bugwelle und drängt sich durch ein Netz von Wasserstraßen und künstlichen Kanälen bis ins Herz der stellenweise unter Normalnull liegenden Stadt. Entlang dieser Kanäle brechen Deiche und Flutmauern, ganze Stadtteile stehen teilweise bis zu den Dachfirsten unter Wasser. 1836 Menschen sterben, Unzählige verlieren ihr Zuhause. Dass sich die Deiche und Flutmauern als völlig unzureichend erweisen, ist nur das erste einer ganzen Reihe von behördlichen Versagen. Die Stadt wist nicht in der Lage, ihre Bevölkerung in den Tagen der Flut vor Plünderungen und Gewaltverbrechen zu schützen und ausreichend mit Nahrung und Medikamenten zu versorgen. Kein Strom, kein Licht, manche Stadtteile stehen wochenlang unter Wasser. Während das berühmte French Quarter recht glimpflich davonkommt und die wohlhabenderen, meist „weißen“ Gebiete relativ bald wiederhergestellt sind, kommen viele der ärmeren Nachbarschaften nicht wieder auf die Beine. Auch von Polizeigewalt ist die Rede. Viele der afroamerikanischen Bewohner kehrten später nicht wieder zurück.
Eine dieser afroamerikanischen Familien, die im Hurrikan Katrina ihren ganzen Besitz verlor, ist die von Sarah M. Broom, die deren Geschichte in ihrem Memoir Das gelbe Haus erzählt. 2019 erhielt sie dafür den renommierten National Book Award. Während Katrina im Süden tobte, lebte Sarah M. Broom bereits seit längerem in New York. Nach einiger Zeit in Burundi zieht Sarah M. Broom schließlich ins French Quarter, um New Orleans auch einmal von dieser, der privilegierten Seite aus, zu erleben. Sie schreibt die Geschichte ihrer Familie nieder, verbindet sie mit soziopolitischen Betrachtungen und historischen Recherchen. Das ist manchmal ein wenig zu detailliert und ausufernd, bringt aber interessante Aspekte wie den strukturellen Rassismus in den USA, die eklatante Vernachlässigung bestimmter Bevölkerungsgruppen und Stadtteile, Polizeigewalt und Behördenversagen auf eindrückliche Weise in den Fokus. Und ist eine Liebeserklärung an ihre große Familie.
Dies war meine Lektüre im Mai 2022 – vielfältig und überwiegend sehr gut. Ein Buch auch mal abzubrechen, wenn deutlich wird, dass man dazu keinen guten Zugang bekommt – dazu muss ich mich immer noch ein wenig zwingen. Aber ich mache Fortschritte. 😉