In diesem Monat erwarten euch hier bei der „Lektüre Juni 2022“ ausnahmsweise einmal eine ganze Reihe von größeren Besprechungen, und zwar von Büchern, die es (keinesfalls aufgrund mangelnder Qualität, sondern einfach aus Zeitgründen) nicht zu einem eigenen, großen, bebilderten Beitrag geschafft haben. Die aber auf jeden Fall nicht nur eine Erwähnng, sondern eine von Herzen kommende Empfehlung verdient haben. Alle Beiträge sind bereits auf Instagram erschienen, sollen aber auch hier vorkommen. Deshalb benötigt ihr dieses Mal vielleicht ein wenig mehr Zeit für meinen Überblick zum Lesemonat.
Abdulrazak Gurnah – Ferne Gestade
Der zweite neuaufgelegte Roman des überraschenden Literaturnobelpreisträgers von 2021 kündet noch mehr als der erste, Das verlorene Paradies, von der Meisterschaft des tansanischen, in London lebenden Schriftstellers. Die historischen Entwicklungen auf Sansibar bilden den Hintergrund für die Geschichte zweier Familien, die auf unglückselige Weise miteinander verbunden sind. Eine davon ist die von Saleh Omar. Dieser führt nach dem Tod des Vaters ein florierendes Möbelgeschäft, durch das er zu einigem Reichtum gelangt. Die andere ist die von Rajab Shabaan. Über Hussein, einen recht windigen Typen aus Bahrein, der sich Geld von Saleh Omar leiht und als Sicherheit das Haus von Rajab Shabaan verpfändet, sind die beiden Familien verbunden. Ein verzwickter Rechtsstreit entzweiht sie aufs Schärfste, über Jahrzehnte, über verschiedene Regierungen, über Gefängnis und Migration hinweg.
Eine recht komplexe Geschichte, die noch interessanter dadurch wird, dass Abdulrazak Gurnah beide Hauptprotagonisten, Saleh und Latif, zu Wort kommen lässt. Und ihre Sicht auf die Geschichte ist sehr unterschiedlich. Diese Unzuverlässigkeit in der Narration ist sehr reizvoll und überrascht immer wieder. Auch spielerisch eingestreute intertextuelle Verweise, zum Beispiel wiederholt auf Herman Melvilles „Bartleby der Schreiber“ und seinen berühmten Satz „I would prefer not to.“, bindet der Autor in seinen wirklich glänzend konstruierten Roman ein. Ein vielschichtiger Text, der die Auswirkungen der Kolonisation in Afrika, die Negierung kultureller Traditionen durch die Kolonisatoren, aber auch die Schwierigkeiten der unabhängigen Neustaaten mit tragisch verknüpften Familiengeschichten und modernen Migrationsgeschichten verbindet. Ein toller Roman, der neugierig macht auf den im September erscheinenden neuesten Roman des Nobelpreisträgers, Nachleben. Die bereits 2002 veröffentlichte Übersetzung von Thomas Brückner wurde durchgesehen, diffamierende Bezeichnungen aber bewusst belassen und mit einer editorischen Notiz versehen.
Robert Jones, jr. – Die Propheten
Wuchtig, erdig und bedeutungsschwer kommt der Debütroman von Robert Jones jr. daher, mit dem der 1951 geborene New Yorker Autor gleich auf der Shortlist des National Book Award 2021 landete und mit dem er eine Schwarze, queere Liebesgeschichte aus der Sklaverei des 19. Jahrhunderts erzählt. Die Propheten spielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf einer Baumwollplantage in Mississippi, eine tragische Geschichte von Leid, Gewalt, unerbittlicher Brutalität, wie man sie von ähnlichen Sklavengeschichten kennt. Im Mittelpunkt steht hier aber die queere Liebe zweier Männer, die für sie eine gewisse Freiheit bedeutet, wenn auch nur auf Zeit, und die Zerstörung jeder Form von Familienzugehörigkeit, von Abstammung und Tradition durch die Sklavenhalter. Den Schwarzen Menschen wurde damit ihre Geschichte geraubt. Das wird im Text durch Rückblenden in die vorkoloniale Zeit Afrikas verdeutlicht. Hier platzen in das Reich der Königin Akusa, in der auch gleichgeschlechtliche Ehen selbstverständlich waren, weiße Missionare und Sklavenhändler, die die Traditionen brutal zerstören. Zwei Afrikaner, Kosii und Elewa, die versklavt und mit dem Schiff nach Amerika verbracht werden, gehen den beiden Protagonisten Isaiah und Samuel dabei quasi voran.
Robert Jones jr. kann streckenweise enorm fesseln, packt aber vielleicht ein wenig sehr viel Dramatik, alttestamentarische Wucht und biblische Querverweise in seinen Text. Dadurch wird das Buch manchmal allzu wuchtig.
Mario Schlembach – heute graben
Zwischendurch habe ich gedacht, dass sich das zu Beginn so grandios entfaltende Erzählkonzept von heute graben vielleicht doch erschöpft, die kurzen, tagebuchartigen Einträge vom Leben des angehenden Schriftstellers und Teilzeit-Totengräbers Mario sich in Redundanzen erschöpfen, die vielen kurzen bis mittellangen Begegnungen mit Frauen von B. bis Z. irgendwann zu schematisch erscheinen würden, die Exkurse zur Lungenkrankheit langweilen könnten. Aber nein, dieses schmale Buch, das immer wieder zurückkehrt zu A., der großen Jugendliebe, die vorwiegend in einem Regionalzug beheimatet war und der der Erzähler Mario, der so einiges mit dem Autor Mario gemeinsam hat, mit einem Text ein Denkmal setzen möchte, begeistert tatsächlich bis zum Ende und hallt weit über dieses hinaus.
„Aber wie lässt sich eine verlorene Liebe zu einem Roman korrigieren?“ fragt sich Mario zu Beginn. Und ja, so könnte es gelingen, ist man versucht zu sagen. Kleine alltägliche Beschreibungen – vom Graben auf dem Friedhof, bei dem der Erzähler seinem Vater zur Hand geht, von seinen Begegnungen mit Frauen einmal quer durchs Alphabet, alten Bekannten, Zufallsbekanntschaften oder Verabredungen aus Dating-Apps oder von seinen vielen Arztbesuchen. Denn bei Mario wird Morbus Boeck diagnostiziert, eine seltene entzündliche Krankheit, die vorwiegend in der Lunge zu Granulom- und Narbenbildung führt. Und an der Thomas Bernhard litt. Bernhard, eine der Leitfiguren der österreichischen Literatur und auch des Erzählers Mario. Der Autor Mario schrieb im Standard 2020 einen Text über diese, seine Krankheit mit dem Titel „Morbus Bernhard“. Eine Krankheit, deren „Behandlungsvorschlag klingt (so), als wäre er direkt einer Bibel des Östereichischen entnommen: Nichts tun und hoffen, dass alles besser wird.“
heute graben ist vielleicht ein typisch österreichischer Text, schwarzhumorig, intelligent, eigen.
„Es gibt kein Ende mit A. – keine Geschichte, die sie wie durch Zauberhand für alle Zeit an meine Seite bindet. Nur dieses Schreiben, das weder Anfang noch Ende kennt.“
Ein Tag vor Thanksgiving, am 24. November 1971 besteigt ein gut gekleideter Herr mittleren Alters, der sich Dan Cooper nennt, die Boeing 727 Flug 305 der Northwest Orient Airlines von Minneapolis nach Seattle bei einem Zwischenstopp in Portland. Mit an Bord bringt er eine Bombe, die er zu zünden droht, werden seine Forderungen nicht erfüllt. Diese umfassen 200.000 US-Dollar, vier Fallschirme, vollgefüllte Tanks und Verpflegung. Nach der Übergabe auf dem Flughafen Seattle dürfen die 36 Passiere, die von der Entführung nichts bemerkt haben, und zwei Flugbegleiterinnen das Flugzeug verlassen. Der Entführer und vier Mitglieder der Besatzung starten erneut durch, Ziel Mexiko. Ein vorgeschobenes Ziel, denn der Entführer verlässt das Flugzeug irgendwo über dem dünn besiedelten Gebiet des Bundesstaats Washington per Fallschirm.
Soweit ein realer Fall, der niemals aufgeklärt wurde. Zahlreiche Verdächtige gerieten ins Visier des FBI, unter anderem auch ein gewisser Richard McCoy, ein Vietnam-Veteran, der ein Jahr später 1972, bei einem ähnlichen Entführungsversuch geschnappt wurde, aber kurz danach starb. Überführt wurde niemand. 2016 wurden die Ermittlungen endgültig eingestellt. Was also wirklich mit „Dan Cooper“ und dem Geld geschah, bleibt Spekulation. Jens Eisel hat darüber nun einen spannenden, coolen Roman geschrieben, in dem er äußerst überzeugend Fakten und Fiktion vereint. Erzählt wird aus vier Perspektiven, der des Entführers, dem Eisel sicher nicht zufällig den wahren Namen Richard gibt, der der jungen Flugbegleiterin Kate, die für ihn an Bord so etwas wie eine Vertrauensperson wird, der des Piloten George und – in Form von Gesprächsprotokollen – der eines damals ermittelnden FBI-Beamten. Trotz des atemraubenden Themas und der großen Verdichtung des Erzählten auf nur gut 200 Seiten, ist der Roman auf keiner dieser reißerisch. Völlig unaufgeregt, nah dran an seinen Figuren und durch die Wahl der personalen Perspektive dennoch in einer gewissen Distanz, dialogreich und sehr unterhaltsam erzählt Jens Eisel von diesem Drama völlig unter Vermeidung von genretypischen Klischees und ohne die häufig gebrauchten Küchenpsychologie. Stattdessen entwirft er überzeugende Porträts und verknüpft die zeithistorischen Themen wie den Vietnamkrieg, die Regierung Richard Nixons, die aufkommende Friedens-, Frauens- und Hippiebewegung ganz unangestrengt mit seiner True-Crime-Story. Und die Tatsache, dass zwischen 1969 und 1974 in den USA mehr als 100 Flugzeugentführungen stattfanden, ist nur eines der Dinge, die man nebenbei noch erfährt. Das Ende legt sich zwar fest, bleibt aber dennoch wohltuend schwebend. Ein rundum gelungener Roman!
Madame 60a – der Name stammt von der Klappliege, die man der Ich-Erzählerin in den Schlafsaal unterm Dach des Hôtel-Dieu zwischen Bett 60 und Bett 61 quetscht. Denn die Abteilung für Gebärende ist überfüllt. Blutjunge Dienstmädchen und andere Ledige, Prostituierte und an Syphilis Erkrankte, oder auch nur bitterarme Frauen, die keinen anderen einigermaßen sicheren, einigermaßen hygienischen Ort für ihre Entbindung haben, finden hier im ältesten Krankenhaus von Paris eine Zuflucht. Das Buch spielt in der Zwischenkriegszeit, aber die Zustände sind so grauenhaft, die Lage, in der sich die Frauen befinden, die ungewollt oder gewollt schwanger, auf jeden Fall aber sozial in einer so schwierigen Situation sind, dass sie sich ein (weiteres) Kind eigentlich kaum leisten können, ist so unglaublich, dass die Leserin fassungslos ist, dass sich das alles kaum hundert Jahre zuvor abgespielt hat. Gleichgültiges, ruppiges Personal, durch die Enge und Ärmlichkeit zu körperlicher Schamlosigkeit gezwungen, voller Gerüche, Obszönitäten und vulgärer Reden verbringen hier die Frauen die letzten Tage vor ihrer Niederkunft und finden doch so etwas wie eine Ruheinsel, die ihnen zumindest für kurze Zeit eine gewisse Sicherheit und Sorglosigkeit bietet. Warum Madame 60a ihr Kind dort gebären muss oder möchte, ist nicht ganz klar. Sie spricht nur davon, „für mich allein“ ihr Kind bekommen zu wollen. Naheliegend ist die Vermutung, dass Henriette Valet hier aus eigenen Erfahrungen schöpft.
1900 in Paris in einfache Verhältnisse geboren, arbeitete sie als Telefonistin und war lange Jahre mit dem linken Philosophen und Soziologen Henri Lefebvre verheiratet. Wie so oft, erwähnt der berühmte Mann seine Frau im Werk an keiner Stelle. Und auch sonst ist über Henriette Valet wenig bekannt. Es könnte aber sein, dass sie mit ihm ein uneheliches Kind hatte. Die literarische Reportage über ihre Niederkunft im Hôtel-Dieu war nach ihrem Erscheinen 1934 recht erfolgreich. Dass sie dennoch heute fast vergessen war, ist leider auch keine Seltenheit. Zu den allgemeinen Schwierigkeiten, die Autoren durch Krieg und Verfolgung in dieser Zeit hatten und die fast nur zu überstehen war, wenn man bereits vorher bekannt war, kommt das Geschlecht der Autorin und das Thema, eindeutig ein „Frauenthema“, das Männer und damit die literarische Welt kaum interessiert hat (und überwiegend immer noch interessiert). Dabei ist Madame 60a nicht nur ein erschütterndes, interessantes Zeitdokument, sondern in seiner psychologischen dichte und nüchternen, authentischen Sprache auch literarisch bemerkenswert. Und ein enorm politisches Werk, denn die nicht wirklich sympathische, stets passive und recht überhebliche Erzählerin prangert nicht nur die Zustände, in denen sich die Frauen befinden an, sondern beklagt auch vehement deren Schicksalsergebenheit. Keine klagt das gesellschaftspolitische System oder die Männer an, die sie in ihre Situation gebracht und sich danach überwiegend aus der Verantwortung gezogen haben. Almosen werden angenommen, die soziale Ungleichheit aber nicht verurteilt. An dieser Haltung erkennt man Valets linke Ideale. Bei allen Missständen, die auch heute noch bestehen, besonders, wenn man global denkt (aber auch gerade wieder an die so „fortschrittlichen“ USA), weiß man nach der Lektüre dieses eindrücklichen Textes die Errungenschaften der letzten einhundert Jahre zu schätzen und hoffentlich auch vehement zu verteidigen.
Paco Roca – Rückkehr nach Eden
Ich lese eher selten Graphic Novels, was in erster Linie damit zu tun hat, dass ich meist genug „normale“ Romane auf dem SUB habe und mich deshalb dort gar nicht erst umschaue. Im Rahmen eines „Buddyreads“, organisiert von @spaninfrankfurt2022 und @acecultura anlässlich des diesjährigen Gastlandauftritts Spaniens bei der Frankfurter Buchmesse 2022 habe ich nun ein wirklich wunderbares Buch dieses Genres gelesen und muss meine Titel-Sichtung in Zukunft unbedingt auch auf diese Art Literatur erweitern. Paco Roca ist ein in Spanien sehr bekannter Comicautor und auch auf Deutsch liegen mehrere seiner Titel in der Übertragung durch André Höchemer im Reprodukt Verlag vor. Paco Roca spricht in seinen Graphic novels gesellschaftliche Themen an, wie Altern und Demenz, oft steht auch die spanische Geschichte im mittelpunkt, etwa der Bürgerkrieg und die Diktatur unter Franco. Mit „La casa“ schuf er ein persönliches Erinnerungsbuch, das nach dem Tod seines Vaters entstand. In „Rückkehr nach Eden“, das meine Lesepartnerin Elena ausgewählt hat, verknüpft er nun persönliche Erinnerungen mit der historischen Ebene. Ausgangspunkt ist ein Familienfoto von 1946, das am Strand von Nazaret in der Nähe von Valencia aufgenommen wurde. Davon ausgehend lernen wir die Mitglieder der Familie kennen. Im Mittelpunkt steht die jüngere Tochter Antonia.
Die Familie, die sicher Ähnlichkeiten zu der des Autors aufweist, hat eine „rote“ Vergangenheit, stand also im Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner. Das macht es ihr in der franquistischen Diktatur nicht leicht, zumal sie auch relativ arm ist. Die Mutter von Antonia, Amparé, Vincentina, Paco, und Pablo hat wenig Mittel, um ihre große Familie durchzubringen und leidet zudem unter der Gewalt ihres Mannes. Dieser ist ein typischer „Versager“, der seinen Frust gern an Frau und Familie auslässt. Besonders nachdem die zweitälteste Tochter Amparé ein uneheliches Kind erwartet. Für die streng katholische Gesellschaft natürlich absolut inakzeptabel. Aber auch Antonias Mutter ist streng gläubig.
Sehr feinfühlig erzählt Paco Roca nun vom Aufwachsen der jüngeren Antonia, von ihren Träumen, Hoffnungen, Enttäuschungen. Dabei schiebt er immer wieder kurze Sequenzen aus der Gegenwart der nun schon alten Antonia ein. Die wechselnden Zeitebenen gestaltet Paco Roca dabei ebenso wie die wechselnden Stimmungen in unterschiedlichen Farben. Generell sind die Farben sehr gedeckt, werden in dunklen Zeiten oder traurigen Stimmungen zunehmend düsterer, in Grau- und Schwarztönen. Schöne Erinnerungen werden in helleren Grüntönen dargestellt, Träume bekommen zarte Farbtupfer. Insgesamt sind die Illustrationen sehr stimmungsvoll, der Ton eher melancholisch. Die Geschichte gibt einen ersten Einblick in die spanische Geschichte des 20. Jahrhunderts, die sozialen Probleme und die patriarchalen Strukturen in den Familien. Mir hat das buch sehr gut gefallen, auch die sehr gelungene Übersetzung von André Höchemer. Auf jeden Fall werde ich mir noch andere Graphic Novels des Autoren anschauen und kann zumindest „Rückkehr nach Eden“ sehr empfehlen.
Marius Hulpe – Wilde grüne Stadt
Oder Im Labyrinth des entwurzelten Lebens
Ein Labyrinth, in dem man nur mit etwas Mühe den Buchtitel identifizieren kann, ziert das Cover (ein übrigens ausgesprochen gelungenes, wunderbares Cover btw). Und labyrinthisch ist der Debütroman von Marius Hulpe auch erzählt. So labyrinthisch wie Leben nun einmal sind, das eine mehr, das andere weniger. Und das von Niklas Matei besonders. Auf den ersten Blick würde man das vielleicht nicht vermuten, lebt der Junge doch in bürgerlichen Verhältnissen in einer westfälischen Kleinstadt, deren Namen nirgends direkt erwähnt wird, die aber mit ihren grünen Sandsteinmauern und den Gräften, den charakteristischen Wassergräben, natürlich die Heimatstadt des Autors Soest darstellt. Wilde grüne Stadt nun aber als nur autofiktionalen, gar als Heimatroman abzutun, greift deutlich zu kurz. Zwar spielt die Familiengeschichte von Niklas und auch die Stadt eine große Rolle im Roman, aber in viel weiterem Sinn verhandelt der Autor hier Dinge wie Familie, Bindung, das Leben in der Provinz, Fremdheit und Freiheit.
Denn Niklas Familie ist alles andere als „normal“ oder „provinziell“ (was immer das auch heißen soll. Die Situation ist „kompliziert“. Clara, seine Mutter, Tochter einer Kürschnerdynastie, die in den 1980er und 1990er Jahren, in denen Teile des Romans angesiedelt sind, immer mehr um ihren Bestand und ihre Legitimität kämpfen muss – es ist die Zeit des aufkommenden Tierschutzes -, hat zum Kummer ihrer Eltern Willi und Berta zwei uneheliche Kinder von zwei Männern. Noch dazu von „Ausländern“, was dem Ganzen für die provinzielle Gesellschaft die Krone aufsetzt. Aber Clara ist ein ausgesprochen eigensinniger Charakter, und so holt sie nicht nur den Vater ihrer 1972 geborenen Tochter Sheva (die während eines Badeurlaubs gezeugt wurde) aus der rumänischen Diktatur Ceausescus heraus, sondern hält auch die komplizierte Beziehung zum iranischen Studenten der Agrarwissenschaften, Reza, aufrecht, aus der 1982 Niklas hervorging.
Neben den 1970er und 1980er Jahren verschachtelt Marius Hulpe auch die Geschichte von Reza beginnend mit 1959 in seine Erzählung. Da attackiert der Rekrut Reza einen Vorgesetzten, was im autokratisch regierten Staat des Schahs Reza Pahlevi äußerst riskant war. Der aus bestem Haus stammende Reza wird allerdings nicht bestraft, sondern als „Agent“ nach Deutschland geschickt, um moderne Techniken in der Landwirtschaft auszuspionieren. Sein mehr oder weniger gelingendes Ankommen in der deutschen Provinz wird genauso erzählt, wie seine amourösen Abenteuer, die nicht nur Niklas, sondern auch die Ehe mit Bettina und gemeinsame drei Kinder hervorbringt. Alltagsrassismus und versteckte oder offene Anfeindungen begegnen ihm genauso wie Jahre später seinem „fremdländisch“ aussehenden Sohn.
Episodenhaft, mit vielen Zeit- und Ortssprüngen, also irgendwie labyrinthisch, mäandert der Text bis ins Jahr 2011. Dicht, mit vielen kleinen, genauen Beobachtungen, dabei seinen Figuren gegenüber völlig wertfrei, nähert der Text sich der Gegenwart. Wirklich angekommen scheint Reza immer noch nicht, trotz seiner mittlerweile acht Kinder von drei deutschen Frauen. Die Verhältnisse im Iran haben sich seit der islamischen Revolution von Chomeini kaum verbessert, an eine Rückkehr nicht zu denken. Und Niklas, der mittlerweile bereits in Berlin lebt, steckt in seiner Familiensituation genauso fest wie als Kind. Der Vater kümmert sich kaum, die Mutter reagiert auf Nachfragen trotzig, die Gesellschaft reagiert auf ihn immer wieder rassistisch. Ein wirkliches Ende gibt es nicht.
Lyrisch (Marius Hulpe verfasst auch und vorwiegend Gedichte), sprach- und bildgewaltig, dabei komplex gebaut, ist Wilde grüne Stadt ein gelungener, ein anderer Blick auf Familie, Herkunft, Migration und Gesellschaft und ihre komplexen Zusammenhänge.