Nachdem sich der deutsche Literaturbetrieb im vergangenen Jahr nach der Verkündung des Literaturnobelpreises ausgiebig die Augen gerieben hat – Wer war denn nun schon wieder dieser Abdulrazak Gurnah? Nie gehört! – , sämtliche Bestände an übersetzten Werken desselben aus den Antiquariaten weggekauft waren – kein einziger Titel war aktuell lieferbar – , machte sich allmählich die Überzeugung breit, dass es vielleicht doch den Richtigen getroffen hat, dass da mehr als ein Kontinentproporz oder ein Originalitätswettrennen bei der Wahl der viel gescholtenen Schwedischen Akademie in Stockholm im Spiel war. Hin und wieder wurde noch an dem ersten neu aufgelegten Roman, Das verlorene Paradies (Original Paradiese, 1994, Shortlist Booker Prize) herumgemäkelt (von mir nicht). Jetzt dürfte aber spätestens mit Ferne Gestade (Original: By the sea, 2001, Longlist Booker Prize) klar sein, dass Abdulrazak Gurnah den Nobelpreis völlig verdient für seine literarische Qualität zugesprochen bekommen hat.
Der 1948 auf Sansibar/Tansania, damals britisches Protektorat, geborene Gurnah thematisiert erneut die Auswirkungen von Kolonialismus und Migration, verhandelt sie aber anders als in seinem historischen Roman Paradise auf sehr moderne, komplexe und vielschichtige Art und Weise. Die Rahmenhandlung, von der die Erinnerungen und Erzählungen immer wieder bis ins Jahr 1960 zurückschweifen, als die unglückselige Geschichte ihren Anfang nahm, ist im Hier und Jetzt des ausgehenden 20. Jahrhunderts angesiedelt. Ein sich bereits im Rentenalter befindender Afrikaner, der sich Rajab Shabaan nennt, eigentlich aber Saleh Omar heißt, ersucht am Londoner Flughafen Gatwick um Asyl. Im spärlichen Gepäck befindet sich ein fein gearbeitetes Mahagonikästchen mit einem Rest wunderbar duftendem Weihrauch, dem Ud-al—qamari, dem Holz der Khmer. Dieses Kästchen, das all die Traditionen und kulturellen Werte der ostafrikanischen Region, aus der es und sein Besitzer stammen, zu symbolisieren scheint, wird ihm dort auf dem Flughafen entwendet. Ein Bild, das für sich spricht.
Sansibar
Dort in Ostafrika hat eine gewisse Globalisierung zumindest in den Küstenregionen eine lange Tradition. Seit Jahrhunderten besteht eine starke Verbindung nach Südostasien und besonders nach Indien. Der Monsun bestimmte die Reiserichtung, wehte damals im Winter die Händler gen Südwesten und im Sommer zurück und brachte schon immer eine gewisse Durchmischung der Bevölkerung hervor. Im 15./16. Jahrhundert kamen dann die Portugiesen als Kolonisatoren, bevor sie 1698 vom Sultanat Oman vertrieben wurden. Sansibar wurde eine Provinz Omans und lange Zeit ein Zentrum des arabischen Sklavenhandels. Im 19. Jahrhundert wurde die Küstenregion Teil von Deutsch-Ostafrika (1885), Sansibar zu britischem Protektorat (1890). 1963 wurde die Insel als Sultanat unabhängig, dieses aber bereits wenige Wochen später durch eine Revolution gestürzt. Die arabische Elite wurde verjagt oder getötet und eine Volksrepublik gegründet, die sich bereits ein Jahr später an Tansania anschloss.
Diese historischen Entwicklungen bilden den Hintergrund für die Geschichte zweier Familien, die auf unglückselige Weise miteinander verbunden sind. Eine davon ist die von Saleh Omar. Dieser macht aus dem kleinen Halwa-Laden seines Vaters nach dessen Tod ein florierendes Möbelgeschäft durch das er zu einigem Reichtum gelangt. Die andere ist die von Rajab Shabaan (dem echten). Über Hussein, einen recht windigen Typen aus Bahrein, sind die beiden Familien verbunden, aber auch weitläufig verwandt. Dieser Hussein leiht sich Geld von Saleh Omar und bietet ihm als Garantie einen Schuldschein über das Haus von Rajab Shabaan. Was als reine Formalität dargestellt wird, wird Ursache einer erbitterten Familienfehde, denn Hussein verführt nicht nur den ältesten Sohn von Rajab und nimmt ihn mit nach Bahrein, sondern bezahlt auch nie seine Schulden an Saleh, so dass dieser irgendwann das Haus der Familie einfordert. Ein Schritt, der für ihn zum Verhängnis wird.
Asyl
Als alter Mann in England angekommen, verweigert er, der fließend Englisch spricht, die Auskunft. Das wurde ihm so geraten. Der Dolmetscher, der ihm daraufhin zugeteilt wird, ist niemand anderes als Latif Mahmud, der jüngere Sohn von Rajab Shabaan, der dem ihm nun gegenüberstehenden Saleh das ganze Elend seiner Familie und auch sein eigenes Schicksal vorwirft. Dieses führte ihn über ein Studium in der DDR nach England, wo er nun als Literaturdozent arbeitet.
Eine recht komplexe Geschichte, wie man nun bereits ahnt, die noch interessanter dadurch wird, dass Abdulrazak Gurnah in Ferne Gestade beide Hauptprotagonisten, Saleh und Latif, zu Wort kommen lässt. Und ihre Sicht auf die Geschichte ist sehr unterschiedlich. Diese Unzuverlässigkeit in der Narration ist sehr reizvoll und überrascht die Leser:innen immer wieder. Auch spielerische, in die Geschichte eingestreute intertextuelle Verweise, zum Beispiel immer wieder auf Herman Melvilles „Bartleby der Schreiber“ und seinen berühmten Satz „I would prefer not to.“, bindet der Autor in seinen wirklich glänzend konstruierten Roman ein.
So ist Ferne Gestade ein komplexer, vielschichtiger Text, der die Auswirkungen der Kolonisation in Afrika, die Vernichtung kultureller Traditionen durch die Kolonisatoren, aber auch die Schwierigkeiten der unabhängigen Neustaaten mit tragisch verknüpften Familiengeschichten und modernen Migrationsgeschichten verbindet. Ein toller Roman, der neugierig macht auf den im September erscheinenden neuesten Roman des Nobelpreisträgers, Nachleben.
Beitragsbild by Travel Aficionado (CC BY-NC 2.0) via Flickr
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Abdulrazak Gurnah – Ferne Gestade
Aus dem Englischen von Thomas Brückner
Penguin März 2022, Hardcover mit Schutzumschlag, 416 Seiten, € 26,00