Vom 14. bis 17. Juli 2022 fand das 2. Literaricum in Lech am Arlberg statt. In wunderschöner Bergkulisse traf man sich, um über einen Klassiker der Weltliteratur zu sprechen. Nach dem Simplicius Simplicissimus von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen im letzten Jahr war dieses Mal die Erzählung Bartleby, der Schreiber an der Reihe. Initiiert von Michael Köhlmeier und Raoul Schrott, kuratiert von Nicola Steiner bot sich ein anregendes, vielseitiges Programm. Zur Eröffnungsfeier am Donnerstag hielt die Schriftstellerin und Literaturkritikerin Elke Heidenreich die Rede und sprach am Freitag mit Juliane Marie Schreiber über deren Buch Ich möchte lieber nicht. Ich durfte Elke Heidenreich beim Literaricum Lech ebenfalls zu einem Interview treffen.
Gleich am ersten Morgen, noch vor der offiziellen Eröffnung vom 2. Literaricum in Lech am Arlberg, sitzt mir Elke Heidenreich gegenüber, noch ein wenig angeschlagen von einer Augen-OP, aber genauso lebhaft, offen und herzlich, wie ich sie seit vielen Jahren, wie man so schön sagt, aus Funk und Fernsehen (und natürlich durch etliche Beiträge in den Printmedien und viele wunderbare eigene Bücher) kenne. Auch Partner Marc-Aurel Floros und Mops Don Vito sind angereist. Ersterer wird die Eröffnungsrede, die Frau Heidenreich am Abend halten wird, mit abgestimmten Stücken am Piano begleiten, Don Vito strahlt eine ruhige Fröhlichkeit aus. Ich beginne gleich mit einer Frage zu Herman Melvilles Bartleby, der Schreiber, jenem Klassiker, der im Mittelpunkt des dreitägigen Festivals in prachtvoller Bergkulisse steht.
Frau Heidenreich, ich habe einmal gelesen, dass das vielleicht berühmteste Werk von Herman Melville, Moby Dick, so gar nicht nach ihrem Geschmack war, Sie ihn ganz grässlich gefunden haben.
Elke Heidenreich: Ja, Herman Melville nicht. Aber Moby Dick. Dieser Kampf zwischen Mensch und Tier ist ja so unglaublich brutal. Dieser Mann, der sich unbedingt durchsetzen will gegen dieses Tier. Das war mir immer zu blutig und zu männlich. Das ist so einer der reinen Männerromane, fand ich immer. Aber ich habe Mardi gelesen, den Vorläufer zu Moby Dick. Und das ist eine fantastische Geschichte über eine Insel, die es gar nicht gibt und über die Menschen, die dorthin fahren. Völlig verrückt irgendwie. Und Bartleby kannte ich auch von früher, aber da war das Pflichtlektüre. Und jetzt habe ich ihn wieder gelesen und jetzt ist mir erst klar geworden, wie großartig das ist, so nah bei Kafka! Das ist eine völlig absurde, verrückte Geschichte, die mit Lebensverweigerung zu tun hat. Heute, wo wir alle unser Leben unentwegt optimieren, ist da einer der sagt, „Ich möchte lieber nicht“. Ob wir uns das auch trauen würden, ob wir das auch sagen würden? Jetzt habe ich den Melville wieder richtig für mich entdeckt.
Was steht für Sie im Mittelpunkt Ihres Interesses an Bartleby, neben der Lebensverweigerung, dem Nein Sagen, die Sie schon angesprochen haben?
Elke Heidenreich: Ich habe gelesen, dass Herman Melville diese kleine Geschichte geschrieben hat, als er mit seinen dicken Büchern, keinen Erfolg hatte, also noch nicht berühmt war, als er verzweifelt war als Schriftsteller, dass es nicht voran geht. Es ist eine fast nihilistische Geschichte, dieses „Ich will nicht mehr“. Aber dann hat er durchgesponnen, weil er klug war, wohin führt das, wenn man nicht mehr will, es führt letztlich zur Selbstvernichtung. Wir kennen das von Kafka, Gregor Samsa wacht eines Morgens auf und ist ein Käfer. Der will eigentlich auch nicht mehr. Gontscharows Oblomow ist nicht der Verweigerer, sondern der kann aus Trägheit nichts machen. Aber der geht ja auch ein und sein Leben zerfällt. Und dieser Bartleby zieht das bis zur letzten Konsequenz durch, bis zum Tod. Er will ja dann auch nicht mehr essen, schaut nur noch auf diese Mauern. Das ist eine Parabel dafür, was passiert, wenn wir uns total verweigern. Total verweigern geht nicht, das muss man wissen. Aber wenn man ab und zu, bei unzumutbaren Dingen sagt „Ich möchte lieber nicht“, kann das gut sein. Und der Anwalt und Notar guckt sich das lange an. Und vielleicht ist der Bartleby auch ein anderer Teil von ihm. Er sagt ja am Anfang, er könne sich sein Leben auch gut bequem vorstellen. Er würde auch gerne nicht. Wir alle würden gerne manchmal nicht. Aber wir sind eben Teile einer Gemeinschaft und müssen. Es hilft nichts. Sonst funktioniert die Gesellschaft nicht und unser eigenes Leben auch nicht. Und das auf so wenigen Seiten, das ist schon sehr gut. Natürlich sehr grausam, ganz bitter am Ende. Aber der Schluss ist schon wieder lustig. Da heißt es „Oh Bartleby! Oh Menschenlos!“ Je nach Übersetzung. Da hört man schon wieder eine leichte Ironie. Da zwinkert er schon wieder.
Das Buch ist überhaupt sehr lustig.
Elke Heidenreich: Es hat witzige Stellen. Wie der Notar einmal sagt, eher würde seine gipserne Cicero Büste aus dem Haus gehen als Bartleby. Aber es hat doch diesen gefährlich ernsten Kern. Und mich lehrt das heute, dass wir auch rücksichtslos werden, wenn wir immer nur die eigene Selbstoptimierung im Auge haben. Deshalb habe ich Juliane Marie Schreiber eingeladen, die ein Buch über diesen Glückswahn, diesen Optimierungswahn geschrieben hat, ein tolles Buch. Und das passt ganz gut dazu.
Ja, das passt wirklich prima. Und Juliane Marie Schreiber erwähnt in ihrem Buch ja auch den „Horror vacui“, die Angst vor der existentiellen Leere, die wir vielleicht in uns finden könnten. Und der im Werk von David Foster Wallace ja eine Rolle spielt. Dazu wird Ulrich Blumenbach hier beim Literaricum sprechen.
Kommen wir deshalb vielleicht mal auf das Konzept dieser Veranstaltung zu sprechen. Über drei Tage trifft man sich und spricht über einen Klassiker. Moderne Titel, die sich darauf beziehen und an unsere Lebenswirklichkeit anknüpfen, werden eingebunden. Was denken Sie darüber?
Elke Heidenreich: Sympathisch, aber natürlich auch wieder ein Nischentum. Wir Gebildeten unter uns, wir Abiturienten, die wir das alles gelesen haben. Ich finde aber nach diesen zwei Jahren Käfighaltung durch Corona ist es gut, dass sich alles endlich wieder öffnet. Und seien es auch diese kleinen, speziellen Veranstaltungen. Wir kommen wieder raus, wir reden wieder miteinander, wir sehen, dass die Literatur Bestand hat. Und die Kultur und die Kunst über die Jahrhunderte. Und letztlich, das ist immer meine These, das, was uns als Menschen zusammenhält ist die Kunst, ist die Musik, die Malerei, die Literatur. Das bewahrt uns davor, Barbaren zu werden. Und dass wir das schätzen und versuchen einzuordnen und von allen Seiten zu betrachten, finde ich sehr sympathisch. Ansonsten kann ich zu dem Format noch gar nicht viel sagen. Ich finde schön, dass sich Menschen treffen, die sich für Literatur interessieren und auch crossover reden und gucken, was sagt uns das alles. Denn das bewegt uns ja auch alle, das Lesen und das Schreiben.
Generell ist ja die Intention des Literaricums, auch wenn es sicher nur ein eher kleiner Kreis sein wird, der hier anreisen, der sich die Zeit für das Festival nehmen kann und will, die Leute zum Lesen zu bringen, das Interesse an Klassiker zu wecken, zu zeigen, dass Klassiker durchaus einen direkten Bezug zu unserer Lebenswirklichkeit haben.
Elke Heidenreich: Genau so ist das! Wer hat die Menschen mehr gekannt als Shakespeare?
Da fällt mir das Buch über Macbeth ein, das Sie zusammen mit dem Fotografen Tom Krausz gemacht haben, Macbeth Schlafes Mörder, und das Sie vor vielen Jahren bei der Litcologne bei einer großartigen Veranstaltung präsentiert haben.
Elke Heidenreich: Ja, Tom und ich haben damals überlegt, was DAS BÖSE ist und wie es in die Welt kommt. Und wir dachten an diesen Bösewicht Macbeth. Da haben wir gesagt, lass uns doch mal nach Schottland reisen, lass uns schauen, wo so etwas entsteht, auf Shakespeares Spuren. Das war unsere größte und liebste Arbeit, die zu Macbeth. Ich sehe da auch wieder Parallelen zu Melville. Was der Mensch ist, was ihn deprimiert, was ihn runterzieht, was im Menschen steckt an Fähigkeiten und an Unfähigkeiten, das hat Shakespeare alles schon gewusst. Und insofern, Ihre Kernfrage, ist es so wichtig, dass wir uns auch mit Literatur beschäftigen, die nicht neu ist. Ich lese ja all die Neuerscheinungen, und die sind oft sehr schön, da sind tolle Sachen dabei. Da sind auch Sachen dabei, die bleiben. Aber der hundertste Ehebruchroman… Trotzdem: es ist wichtig, dranzubleiben. Aber mal zurückzublicken, wie das früher war, kann nicht schaden. Die Schriftsteller damals haben ja auch die Zeit abgebildet, in der sie lebten. Und da gibt es einige feste Prototypen und Themen – Krieg, Eifersucht, Leidenschaft, Mord, was ist gut, was ist böse – das zieht sich durch Tausende von Jahren. Das ist schon in der Odyssee thematisiert. Und das finde ich gut, dass wir das, auch im Kleinen, mal miteinander aufdröseln.
Klassiker haben ja leider in der Literaturkritik und auch im Feuilleton oft nicht so den Stellenwert. Da geht es oft nur um die Neuerscheinungen. Es geht da natürlich auch um den Verkauf, den Umsatz, die Verweildauer von Originaltiteln in den Verlagsprogrammen wird immer kürzer, ebenso das immer Interesse an einzelnen Veröffentlichungen. Im Mai erscheinen bereits die Vorschauen für den Herbst.
Elke Heidenreich: Man sagt immer, was nicht innerhalb der ersten sechs Wochen nach der Veröffentlichung besprochen wurde, fällt unter den Tisch. Das ist doch traurig. Und es wird viel zu viel publiziert. Das habe ich immer gefunden, was da an hunderttausend Titeln erscheint, das kann gar nicht alles beachtet werden.
Die Zahl ist, glaube ich, rückläufig.
Elke Heidenreich: Ist leicht rückläufig, aber auch die Verkäufe sind rückläufig. Das Geld wird knapper, die Bücher werden nicht unbedingt besser, wenn jeder noch sein Leben erzählt. Wir leben im Influencer-Zeitalter. Da erscheint auch viel oberflächlicher Quatsch.
Da möchte ich gerne mal einhaken. Sie wissen ja, dass auch ich im Social-Media-Bereich tätig bin. Deshalb vielleicht mal ein Blick auf sogenannte zeitgemäße Formen der Literaturvermittlung. Sie haben sich ja auch immer eher als Literaturvermittlerin gesehen denn als Literaturkritikerin, auch wenn Sie natürlich in diesen Formaten immer aktiv waren und sind, zum Beispiel als langjährige Teilnehmerin beim Literaturclub des SRF.
Elke Heidenreich: Ich bin weder bei Facebook, noch bei sonst was. Ich weiß schon, wie Literaturkritik geht. Ich weiß, wie man den Inhalt analysiert und wie man Inhalt und Form vergleicht. Das habe ich gelernt und kann das machen. Und in Beiträgen für Zeitungen mache ich das auch. Da kann ich viel intensiver schreiben, da kann man das in Ruhe nachlesen. Wenn ich im Fernsehen vielleicht gerade mal drei Minuten für ein Buch habe, werde ich keine komplizierten Sätze und Analysen machen. Da sage ich, was steht drin, interessiert es mich oder nicht und warum oder warum nicht. Das heißt, man muss immer wissen, in welchen Medium man was macht. Die richtige Literaturkritik findet in den Zeitungen statt, und nicht im Fernsehen oder im Radio, oder nur partiell. Weil man eben nicht nachlesen kann. Das rauscht vorbei. Und ich will ja auch die Leute ans Lesen bringen, ich will nicht ein Buch auseinandernehmen und dann sagen: Lest es nicht! Kann man machen, ist aber nicht mein Ding.
So bringt man ja die Leute nicht ans Lesen.
Wenn ein riesiger Verriss in der Zeitung ist, dann lese ich das und denke, da ist wohl was schief gegangen. Ich kann das abhaken. Aber jemand, der lesen will, Lesestoff sucht, dem ist damit nicht gedient. Und diese Leute interessieren mich. Aber wenn ich jetzt ein Buch bespreche, dann wähle ich ein Buch, das mir wirklich gefällt und das mich überzeugt, und von dem ich möchte, dass das viele Leser findet. Und da ich immer noch eine Stimme bin, die gehört wird nach all den Jahren, weiß ich, das Buch findet dann auch seine Leser. Dann tu ich das für das Buch.
Ihre Sendung Lesen! war ja ein sehr erfolgreiches Format, das dann vom Fernsehen ins Internet verschoben wurde. Dort ist es aber irgendwie nicht angekommen. War das vielleicht einfach zu früh?
Elke Heidenreich: Wir waren viel zu früh. Ich hatte Gäste eingeladen, Campino, Stefan Aust. Die konnte man nicht einfach so wieder ausladen und da haben wir das ins Internet verschoben. Die sind dann auch alle gekommen. Aber mit hat das auch nicht soviel Spaß gemacht. Ich bin nicht so Internet-affin. Ich s gucke selbst im Internet auch fast nichts.
Aber Sie treffen sich mit Leuten, die Medien bespielen, die Sie eigentlich nicht so gut finden. Ich bin ja zum Beispiel mit einem Blog im Internet vertreten.
Elke Heidenreich: Nein, das verstehe ich. Das ist ja ein Riesending. Man muss nur im Leben beschließen, was man alles macht. Und ich habe für mich beschlossen, ich lese so viel, ich gehe nicht auch noch ins Internet. Ich will da keine Gemeinde haben. Muss nicht sein.
Aber Sie lehnen diese Art von Buchbesprechungen nicht komplett ab?
Elke Heidenreich: Nein! Ich bin ja zum Beispiel alle zwei Wochen bei Spiegel.online, und das sehr gerne!
Es gibt teilweise ja ziemlichen Gegenwind aus der etablierten Literaturkritik.
Elke Heidenreich: Nein, ich lehne das überhaupt nicht ab. Warum sollen die Leute nicht ihre Meinung sagen zu den Büchern, die sie gelesen haben. Ich will es selbst nicht machen. Aber ich schaue manchmal bei Perlentaucher. Das hilft mir manchmal, wenn ich bei einem Buch unsicher bin. Dann prüfe ich meine eigenen Eindrücke, Argumente. Die ändern sich dann nicht, aber ich überlege dann manchmal, warum findet derjenige das Buch jetzt doof, habe ich vielleicht was übersehen. Also ich benutze das Internet schon, aber ich wandere nicht drin rum.
Was glauben Sie denn, was die Zukunft der Literaturkritik sein wird. Im Radio wird immer wieder Sendezeit für Literatur gekürzt. Deutschlandfunk wäre jetzt vielleicht der einzige Sender, der mir einfällt, der noch etwas mehr als die drei Minuten zur Verfügung stellt.
Elke Heidenreich: Der WDR macht das auch noch. Gutenbergs Welt auf WDR3 nimmt sich noch viel Zeit.
Aber auch im Fernsehen werden die Sendezeiten immer mehr nach hinten geschoben. Im Feuilleton nimmt die Literatur gefühlt auch immer weniger Raum ein.
Elke Heidenreich: Man muss dann aber auch nach der Zukunft des Buches fragen, nicht nur der Kritik. Was bedeuten Bücher uns noch in diesem Medienzeitalter. Die jungen Leute kriegen wir gar nicht mehr so sehr ans Lesen. Die gucken ihre Serien, die streamen, die sind vernetzt. Ich sehe selten jemand Junges noch mit so dicken Büchern wie wir sie damals lasen mit 18 oder 19. Vielleicht verändert sich unser ganzes Leseverhalten. Und dann ändert sich natürlich auch die Kritik. Aber ich finde, dass die Zeitungen und die Sender, die öffentlich-rechtlichen Sender, auch einen Auftrag haben. Die müssten es eigentlich ernster nehmen. Der Spiegel hat in seiner Printausgabe kaum noch Bücher. Gerade vielleicht noch den Mainstream. Das finde ich schon schlimm. Da sollte man schon ein bisschen mehr erwarten.
In ihrer Sendung Mehr lesen bei Spiegel online haben Sie auch nur ca. fünf Minuten für je ein neues und ein älteres Buch bevor die Bestsellerliste gezeigt wird.
Elke Heidenreich: Ich könnte mehr machen. Aber ich mache da nicht länger, weil ich weiß, die Leute gucken nicht länger. Die Verweildauer ist kurz. Ich mache das schnell durch und das hilft. Ich habe dadurch schon Bücher hochgeschossen.
Ihr Missionseifer ist also ungebrochen.
Elke Heidenreich: Ja, den habe ich immer noch. Und ich weiß, dass die Zeiten sich ändern. Und ich kann Ihnen nicht sagen, wie die Zukunft des Buchs sein wird. Ich glaube, dass es immer die Allianz Mensch, Sessel, Lampe, Buch geben wird. Aber es wird weniger. Es ist wie mit den Besuchern bei klassischen Konzerten. Es gehen nicht mehr Tausende in ein Streichquartett. Es gehen 250. Und die sind alt. Harald Schmidt hat gesagt, „Das alte Publikum ist weg und das neue ist nicht da“. Ein bisschen ist es so
Ich hoffe natürlich, dass es nicht so kommt, teile aber Ihre Zweifel. Doch ich denke, es ist immer noch eine bestimmte Sehnsucht da. Man verortet sich ja auch durch die Literatur. Aber es gibt vielleicht so ein bestimmtes Alter…
Elke Heidenreich: Wo man es packen muss. So mit 16, 17. Wenn es da funkt, dann funkt es für immer.
Wenn man da merkt, man bekommt etwas wieder, es hilft einem auch fürs eigene Leben…
Elke Heidenreich: Das ist auch mit der Musik so. Das heißt, auch Kultur ist ja eine lebenslange Arbeit. Man muss sich ihr zuwenden, man muss es wollen, dann kommt auch was zurück.
Offiziell sind ja auch die Jungen, die man nicht mehr erreicht, das Argument der öffentlich-rechtlichen Hörfunksender, ihre bewährten Formate zu streichen, mehr zu digitalisieren. Es hört eh keiner mehr zu.
Elke Heidenreich: Aber die machen auch Fehler. Die machen immer mehr Musik, drei Musiken und ein 600 Seiten-Buch soll dann in 1:30 abgehandelt werden.
Was dürfen wir denn von Ihnen Neues erwarten.
Elke Heidenreich: Ende August kommt etwas Neues von mir, das sind Reisegeschichten. Es heißt Ihr glücklichen Augen. Kennen Sie das Zitat noch aus Goethe Faust II? Der Türmer Lynkeus steht auf dem Turm und sagt: „Zum Sehen geboren, Zum Schauen bestellt, Dem Turme geschworen, Gefällt mir die Welt. Ihr glücklichen Augen, Was je ihr gesehn, Es sei wie es wolle, Es war doch so schön!“ Ich bin in meinem Leben wahnsinnig viel gereist. Und habe jetzt 40 Reisegeschichten geschrieben, nicht touristisch. Bei mir kommt kein Eiffelturm vor, kein Museum, einfach ganz persönlich.
Wieder die kleine Form. Die lieben Sie.
Elke Heidenreich: Ja, die liebe ich. Ich glaube, Romane sind nicht mein Ding. Ich habe einen mit meinem früheren Mann Bernd Schroeder zusammen geschrieben, Alte Liebe. Aber ich bin eher für die kleinen Sachen, drei bis fünfunddreißig Seiten.
Im Eisele Verlag erschien vor kurzem ein autobiografisches Buch. Hier geht´s lang.
Elke Heidenreich: Ja, das hat sich so ergeben durch das Thema. Der Eisele Verlag wird von einer Frau geleitet, mit der ich mich angefreundet habe, und die sagte: „Du musst mal über deine Lesebiografie schreiben.“ Das höre ich oft, dass ich mal schreiben soll über mein ganzes, langes Leseleben. Aber ich habe immer gesagt, „Ich weiß gar nicht, wie ich das machen soll. Wo soll ich ansetzen? Nein, da habe ich keine Lust.“ Und Julia Eisele hatte die Idee und sagte „Mach doch mal nur Frauenbücher, Mädchenbücher. Als du ein Kind warst, gab es doch Mädchenbücher“. Ja, so was gab es mal. Pucki, Heidi, Nesthäkchen, Trotzkopf. Das haben Jungs nicht gelesen. Die Jungs haben Die Schatzinsel gelesen und Karl May. Wir Mädchen lasen Christine, der Zopf ist ab oder so. Und dann habe ich mich über die Mädchenbücher dann den Jungmädchenbücher genähert. Und ich habe gemerkt wie sehr ich immer dem Leitbild von Frauen gefolgt bin. Moby Dick zum Beispiel sagte mir gar nichts. Aber Christa Wolf, Kindheitsmuster, das ist mein Thema. Und warum sind das immer wieder Frauen? Und ich war befreundet mit Ruth Klüger, die weiter leben geschrieben hat. Und die hat mir gesagt, „Elke, Frauen lesen nicht nur anders, die schreiben auch anders. Weil Frauen anders fühlen, die sehen die Welt anders.“ Das ist ja unser Grundproblem mit den Männern, dass wir das nicht hinkriegen, den gleichen Blick auf die gleichen Sachen zu haben. Und dann hat Julia Eisele gesagt, „Dann mach das doch so.“ Und dann hat sie ein ganz liebevoll-schönes Buch daraus gemacht.
Ein ganz wunderschönes Buch ist das geworden. Die Fotos, Bilder, die Gestaltung. Und das in einem ganz kleinen Verlag.
Elke Heidenreich: Ja, die hat sich das getraut. Als ich ein Kind war, waren in der Bibliothek streng getrennte Regale für Jungen und Mädchen. Und das hat sich durch das ganze Leben durchgesetzt. Männer lesen nicht Virginia Woolf, aber wir lesen Hemingway. Das ist doch komisch. Und darüber zu schreiben hat mir großen Spaß gemacht.
Ich hatte, auch wenn ich jünger bin, als Kind tatsächlich eine ganz ähnliche Leseentwicklung. Und dann viel Enid Blyton.
Elke Heidenreich: Enid Blyton war toll. Wussten Sie, wie fleißig die war? 750 Romane, zehntausend Geschichten und mit 60 schon Alzheimer. Und das Schönste ist ihr Satz: „Kritik von Menschen über zwölf interessiert mich nicht.“ Ist das nicht großartig?
Das sind so Lesebiografien, die haben die Kinder heute höchstens noch mit Harry Potter.
Elke Heidenreich: Aber da sehen wir mal. Es heißt immer die Kinder lesen nicht. Gebt ihnen den richtigen Stoff und sie lesen natürlich.
Hier die Leseempfehlung für die besonders heikle Lesergruppe der pubertierenden Jungs:
Homer Hickam – Rocket Boys
Damit kriege ich fast alle Jungs zum Lesen. Handelt von einem Jungen, der sich in der Schule für nichts interessiert, der immer nur mit Sprengstoff hantiert, immer kleine Raketen baut, die im Waschkessel seiner Mutter explodieren lässt. Aber die Umgebung sieht, der kann was und sie schicken ihn zu etwas Ähnlichem wie „Jugend forscht“ und am Ende landet er bei Wernher von Braun beim Mondfahr-Programm. Das ist eine wahre Geschichte und wunderbar und lustig und schön geschrieben.
Zum Schluss bitte noch eine persönliche Leseempfehlung.
Elke Heidenreich: Das Beste, was ich seit Jahren gelesen habe ist Bonnie Garmus – Eine Frage der Chemie. Ist das ein Knaller! Ich habe mich in Elizabeth Zott verliebt, um die geht es. Das ist eine Chemikerin, die von Männern in den Sechziger Jahren in der Wissenschaft so gedeckelt wird, und nicht gelassen wird, so blöd behandelt wird, dass sie irgendwann die Wissenschaft aufgibt und eine Kochsendung im Fernsehen macht. Da sagt sie aber nicht, „Setzen sie die Kartoffeln mit Wasser und Salz auf“, sondern sie sagt „Legen Sie die Knollenfrucht in H₂O und geben Sie Natriumchlorid hinzu. Und der Fernsehchef sagt, „Können Sie nicht mal anständig reden?“ und sie sagt, „Nein, ich bin Chemikerin. Ich bin Wissenschaftlerin.“ Damit bringt sie aber andere Frauen zum Denken, zum Lachen, zum Nachdenken, zum Protest gegen ihre Männer. Und was sich daraus entwickelt ist großartig. So voller Witz und klug und gescheit. Man ist hin und weg. Keine Weltliteratur, aber genau das Buch zur Stunde. Da stimmt alles an diesem Buch. Man hat Spaß von der ersten Seite an.
Vielen herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Heidenreich!
Beitragsbild: Elke Heidenreich beim Literaricum Lech Juli 2022 ©Petra Reich
Elke Heidenreich ist eine sehr interessante Frau;)