Auf der sonnigen Terrasse des Burg Hotels in Oberlech, auf 1660m Höhe, sitzt mir die Politologin, Journalistin und Autorin Juliane Marie Schreiber gegenüber, ihr Buch Ich möchte lieber nicht war am Vortag Thema beim Literaricum Lech, in dessen Mittelpunkt der Klassiker von Herman Melville stand – Bartleby, der Schreiber, dessen berühmter Satz eben jenes „Ich möchte lieber nicht“ ist. Nach dem wunderbaren Gespräch, das Juliane mit Elke Heidenreich geführt hat, durfte auch ich einige Fragen stellen.
Heute ist bereits der letzte Tag des Literaricums in Lech. Nur noch eine Veranstaltung steht auf dem Plan. Vielleicht können wir schon einmal ein kleines Resümee ziehen. Wie hat dir denn die Veranstaltung gefallen? Was denkst du über das Konzept?
Juliane Marie Schreiber: Ich finde das super, weil man sonst nicht so die Zeit hat, so tief in einen Text einzusteigen, die verschiedenen Aspekte zu beleuchten. Das hat mir sehr gefallen. Und ich finde auch das Werk an sich so genial, das passt perfekt in dieses Setting hinein.
Auch dein Buch passt ja perfekt in die Veranstaltung. Das war ja ein Glücksgriff, den Elke Heidenreich da mit deinem Buch eher zufällig gemacht hat, als sie, wie sie sagte, im Internet ein wenig über Bartleby gegoogelt hat. Der Einstieg in dein Buch ist ja ein wenig provokant. Das fängt mit dem Untertitel an, „Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven“. Und gegen Ende sprichst du dann von „Glück als eine psychische Störung“. Im Englischen gibt es tatsächlich auch den Begriff „happiness syndrome“. Für den Normalsterblichen ist das ja eher eine Provokation, denn Positivität und Glück sind ja eigentlich etwas, das wir alle erstreben. Vielleicht können wir zunächst mal deine Definition für Glück als psychische Störung kennenlernen.
JMS: In meinem Buch ging es mir natürlich auch um diese Provokation, weil wir als Gesellschaft eben sehr stark nach diesem großen Glück streben und das gar nicht mehr in Frage gestellt wird. Das ist so dominant und in unsere Vorstellung so eingesickert, dass wir gar nicht mehr überlegen: ist das eigentlich so erstrebenswert? Deshalb war es mir wichtig, die Gegenthesen auch einmal so zugespitzt zu formulieren. Ist das überhaupt ein Ziel, das sich lohnt, so zu verfolgen? Es gibt einen Psychologen, Richard Bentall, der sagte 1992, man müsse Glück als psychologische Störung kategorisieren. Er hat das sicherlich mit einem kleinen Augenzwinkern formuliert, aber es geht darum, dass Menschen, die in einem extremen Glückszustand, einem Glücksrausch sind, verschiedene Defizite aufweisen. Dass Menschen in diesem Zustand sich beispielsweise maximal überschätzen, dass sie die Realität nicht mehr so genau einschätzen können, dass sie wirklich kognitive Defizite haben. Man denkt ja immer, der Glückliche sei der Normalfall und der Unglückliche ist eigentlich die Abweichung. In der Forschung, die auch von Richard Bentall stark vorangetrieben wurde, spricht man von „depressivem Realismus“: Menschen mit melancholischer, eher düsterer Grundstimmung, ja sogar mit leichten Depressionen schätzen die Welt eher realistisch ein als die sehr Glücklichen. Die Optimisten haben eher die rosarote Brille auf, doch durch die vermeintlich schwarze Brille der depressiven Realisten sieht man die Welt realistischer. Das ist völlig revolutionär. Denn es zeigt, dass die, von denen wir immer glauben, dass sie in der Gesellschaft die „Abtrünnigen“ sind, die Traurigen, die Melancholischen, die leicht Depressiven, eigentlich eher die „Normalen“ sind.
Mir ist tatsächlich beim Lesen aufgefallen, dass ich am Anfang einen ziemlichen Widerstand hatte. Und ich denke, dass die meisten Leser:innen den auch haben werden. Denn wir sehen ja Glück eigentlich im Normalfall, wie du schon sagst, als etwas Positives. Im Laufe des Buchs erkennt man, dass du einen anderen Glücksbegriff verwendest, Glück nicht als dieses zufriedene, in sich ruhende, der Welt aufgeschlossene Glück ansprichst, sondern ein Glück, das immer Richtung Optimierung zielt, du sprichst auch von „Rausch“. Deswegen war es mir jetzt ganz wichtig, zu definieren, was der Glücksbegriff ist, gegen den du quasi anschreibst.
JMS: Genau. Davon grenze ich das deutlich ab. Es kommt immer darauf an, was man unter Glück versteht. Vielleicht lassen einige eher diesen Zufriedenheitsaspekt mitschwingen und dagegen ist gar nichts einzuwenden. Ich habe mich eher auf den „Kick“, den schnellen Dopaminrausch, dem man nachjagt, bezogen.
Glück auch als Statussymbol. In einer Welt, in der wir uns fast alles leisten können, kann man sich eine gewisse Einzigartigkeit dadurch verschaffen, dass man noch glücklicher als andere ist.
JMS: Genau! Dieses Prestige.
Man versteht dann, dass du diesen Zwang zum Glücklichsein kritisierst.
JMS: Genau. Was ich kritisiere, ist diese hedonistische Tendenz, sich abzukapseln und nur mit dem eigenen Glückszustand zu beschäftigen; dieses Abkehren von der Welt, was ja auch mit dem Glücksrausch verbunden ist. Und das konnte man auch untersuchen: Sehr glückliche Menschen sind etwas egoistischer, weil sie nur mit ihrem eigenen Glückszustand beschäftigt sind. Umgekehrt zeigen Untersuchungen, dass Menschen, die eher in einem melancholischen Zustand sind, eher sozial handeln, weil sie mehr auf andere achten. Das fand ich faszinierend. Man würde eher denken, es wäre der Glückliche, der mit anderen teilt.
Da kommt man natürlich zur Frage, was hat das für Auswirkungen. Nicht nur für den Einzelnen, der im Glück konkurrieren zu müssen glaubt, sondern auch auf die Gesellschaft. Das ist ja auch für dich ein ganz wichtiger Aspekt. Was meinst du, ist da die Gefahr?
JMS: Ich glaube, das große Problem ist einmal, dass sich unser aller Glücks-Normalniveau verschoben hat. Dass Glück die Norm geworden ist. Weswegen wir alle gar nicht mehr akzeptieren, wenn wir mal einen nicht so guten Tag haben. Es wirkt sofort dysfunktional, wenn man mal schimpft, traurig ist oder Rückschläge erleidet. Das größere, das gesellschaftliche Problem ist diese extreme Psychologisierung und Individualisierung von Dingen, die eigentlich politisch sind und die eigentlich gesellschaftlich gelöst werden müssten, zum Beispiel der Pflegenotstand . Wir denken zu oft, es würde alles immer nur an der Anstrengung und der Perspektive des Einzelnen liegen. Wenn jemand arm ist, heißt das dann, der hat einfach nur nicht genug gearbeitet, der war nicht fleißig genug, und wenn jemand krank ist, der hat sicher zu negativ gedacht. Es wird zu schnell die Erklärung für alles in der Perspektive des Einzelnen gesucht. Und ich glaube, das ist gefährlich, weil wir dadurch herzlos werden als Gesellschaft. Weil wir dann glauben, dass die Menschen, die leiden, denen es nicht gut geht, die am Rand sind, dass sie das nicht anders verdient haben, dass sie irgendwie selbst schuld dran sind. Das ist nicht nur kaltherzig, sondern auch kurzsichtig. Weil wir in der Logik gar nichts mehr angehen müssen, wir lösen dann die Probleme gar nicht mehr da, wo man sie eigentlich lösen muss. Mir ist wichtig, diese ungleichen Chancen, die Menschen im Leben einfach haben, oder Schicksalsschläge oder Krankheiten zu benennen. Zum Beispiel bei Krebs. Da wird oft behauptet, den bekommt man, wenn man zu negativ denkt. Das ist ein fataler Irrtum, den Menschen oft machen und den sich viele Krebspatienten anhören müssen. Ich finde das ganz schrecklich, dass Menschen sich dann zusätzlich anhören müssen, du kämpfst nur nicht genug. Der Begriff „Kampf“ ist auch schwierig, weil er immer suggeriert, da gibt es einen Ausweg, wenn man sich nur genug anstrengt. Oder zum Beispiel Armut, das ist in Deutschland immer noch ein großes Problem. Ein Kind braucht in Deutschland im Durchschnitt immer noch sechs Generationen, um aus Armut zu entkommen. Das ist im OECD-Durchschnitt schlecht. Und das ist auch für die Kinder ein Problem, wenn man denen immer sagt, „Du kannst alles schaffen, wenn du nur genug an dich glaubst.“ Ich verstehe, wenn man die Menschen motivieren will. Aber es ist eben nicht ausschließlich die individuelle Anstrengung ausschlaggebend. Man benötigt auch ein gutes Bildungssystem, das für alle da ist, und ein gutes Gesundheitssystem. All diese Grundlagen müssen erstmal da sein.
Es existiert eine sogenannte „Positive Psychologie“. Martin Seligman, ein US-amerikanischer Psychologe hat sogar eine einfache Formel für das Glück aufgestellt. Glück = Vererbung + Lebensumstände + Willen (G = V + L + W) Und das alles im Verhältnis 50%, 10% und 40% . Das heißt 40% des Glücks hängen vom eigenen Willen ab, hat man selbst in der Hand. Das passt so gut in eine neoliberale Gesellschaft. Der Staat wäre dann in Sachen Glück schon mal raus.
JMS: Genau. Und das ist genau das, was so schwierig ist. Man sagt im Neoliberalismus, Gesundheit sei nur eine Frage des gesunden Lebensstils. Natürlich ist das in gewissem Maß so. Aber das ist eben nicht alles. Oder auch „Bildung ist eine Frage des Talents“. Nein, Bildungsmöglichkeiten muss es für alle geben, auch für die weniger Talentierten. Viele Wissenschaftler kritisieren Seligman aber auch dafür, dass diese Formel nicht haltbar ist, weil er die Zahlen einfach willkürlich gewählt hat.
Wenn man an diese Lehre glaubt, führt das ja nicht nur zu einer Individualisierung, sondern auch zu einer Entsolidarisierung und im Endeffekt auch zu einer Entpolitisierung.
JMS: Ja, ich sehe ja dann diese ganzen Strukturen nicht mehr, wenn ich immer denke, ich muss nur noch mehr zum Coaching gehen, ich muss noch mehr an mir schrauben. Und das ist eben das, was zu kurz gedacht ist. Natürlich kann ich mich coachen und die meisten Menschen suchen ja auch zuerst das Defizit bei sich. Wenn sie völlig ausgebrannt sind, denken sie, sie müssten nur noch resilienter werden, anstatt zu überlegen, wie sie eigentlich arbeiten. Man ändert ja durch das individuelle Coaching überhaupt nichts am System. Deswegen meine ich, dass der „Terror des Positiven“, wie ich ihn nenne, den Status Quo stabilisiert, weil ja dann niemand mehr rütteln muss an den Umständen, denn man denkt immer, „Es liegt ja nur an mir“.
Das ist der eine Punkt, den du mit einer gewissen Wut anprangerst, auf den du aufmerksam machen willst. Ein anderer Punkt ist ja auch die Ablenkung vom eigenen Inneren. Den „Horror vacui“ der im Werk von David Foster Wallace, dessen Übersetzer Ulrich Blumenbach ja auch Teil dieser Veranstaltung sein sollte, angesprochen wird. Die Angst, frei nach dem Karl Valentin Zitat „Heute in mich gegangen. Auch nichts los.“ Dass man diese gelegentliche innere Leere nicht akzeptiert, sondern immer weiter sucht, immer mehr mobilisieren will.
JMS: Das ist diese Angst vor der existentiellen Leere. Auch diese Angst, mit sich allein zu sein, was viele gar nicht mehr aushalten. Überall sind heute Bildschirme, beim Zahnarzt, im Taxi. Man ist andauernd abgelenkt, wenn man das möchte. Das ist sehr zeitgeistig. Ich glaube, David Foster Wallace sagte zum Horror Vacui, es ist die Angst vor dem „Eingesperrtsein in unserem Selbst“. Da gar nichts zu finden, das ist das, was die meisten Menschen fürchten. Das meine ich mit der Jagd nach dem hedonistischen Kick. Immer dem nächsten tollen Event, dem nächsten Super-Urlaub, dem nächsten Fallschirmsprung nachjagen.
In einem Interview hast du mal betont, und ich stimme dem zu, dein Buch ist explizit kein Ratgeber. Aber ich zitiere: „ Die einzige sinnvolle Antwort auf einen Zeitgeist, der dem Terror des Positiven unterworfen ist, lautet Verweigerung. Das ist ja zumindest eine Vision davon, was man tun könnte, um aus diesem Rad raus zu kommen. Damit sind wir ja wieder ganz nah bei Bartleby. Was war eigentlich zuerst da, der Satz von Bartleby oder die Idee zum Buch?
JMS: Tatsächlich die Idee zum Buch. Ich habe sie schon lange mit mir herumgetragen. Sieben Jahre. Ich bin dabei auf dieses „I would prefer not to“ von Bartleby gestoßen, auch unter anderem bei dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek, weil er immer dieses T-Shirt mit diesem Spruch trug. So habe ich begonnen, mich mit Bartleby auseinanderzusetzen. Ich hatte sehr schnell die Idee, dass es dieser Titel sein muss – leicht, eingängig, aber für jeden, der sich mit Literatur auskennt, noch diesen Zusatz bietet. Mir war aber vor allem wichtig, dass es ein verständlicher Titel ist, auch ohne Bartleby zu kennen. Ich fand den Satz auch so toll, weil er so mürrisch-unaufgeregt ist. Nicht wirklich wütend. Eine mürrische Rebellion.
Bartleby bleibt ja auch immer freundlich. Es gibt ja auch sehr kontraproduktive Verweigerung. Wir haben das in den letzten Jahren gesehen. Und auch Wut ist ja nicht immer produktiv. Stichwort Wutbürger. Auch Bartleby ist ja kein Vorbild in dem Sinne. Eine Verweigerung der Gesellschaft gegenüber ist nicht das, was du im Sinn hast.
JMS: Nein, aber ich habe Bartleby als einen existentialistischen, auf eine Art maximal autonomen Menschen begriffen. Den ersten Schritt der Verneinung kann man mit Bartleby schon gehen. Nämlich dass man sich fragt: Möchte ich das vielleicht gar nicht? Sich diese Autonomie der Verneinung einzuräumen, bevor man gewisse Entscheidungen, auch Konsumentscheidungen, trifft, einen Schritt zurück zu treten und sich zu fragen, „Brauche ich das? Will ich das wirklich? Entspricht es mir? Was bringt es mir und meinen Überzeugungen? Und lebe ich damit im Einklang meinen eigenen Werten.“
„Die Philosophie des Nein“. Sich nicht immer nur selbst zu verändern, sondern, dass man auch mal versuchen soll, die Umgebung zu verändern.
JMS: Genau. Statt sich manchmal zu fragen, „Ist es vielleicht berechtigt, dass ich mich so blöd fühle? Und geht es anderen vielleicht auch so?“ Dann kann man nämlich einen Ansatz finden, ganz andere Sachen zu ändern statt immer nur sich. Was ich damit auch meine, beschreibt der Satz „Nein oder Nichtsein“. Im Nein liegt eben auch die Begründung eines selbstbestimmten Menschen. Wenn ich immer nur zu allem Ja sage, habe ich keinen Charakter.
Dass man also Nein sagt, wenn man merkt, das tut jetzt weder mir noch einem anderen konkreten Menschen gut, außer vielleicht einem Unternehmen, das dadurch verdient.
JMS: Diese ganzen Anforderungen der Konsumkultur sind natürlich auch wieder eine Form der Ablenkung, die wir oft dankbar annehmen. Warum soll ich mich mit meiner Endlichkeit beschäftigen, und überlegen, wie ich mein Leben leben will, das ist ja auch schmerzhaft, wenn ich nur noch so und so viele Jahre habe. Dass das ein unangenehmer Gedanke ist, verstehe ich schon. Lieber kauft man sich dann noch ein Paar neue Schuhe.
Wenn man seine eigene Endlichkeit öfter vor Augen hätte, würde man wahrscheinlich über bestimmte Werte mehr nachdenken, über die Sinnhaftigkeit vieler Dinge, die man immer so automatisch tut, wie arbeiten, Steuern zahlen usw.
JMS: Das ist natürlich im Alltag nicht immer umsetzbar. Und es gibt ja auch diesen Spruch: Lebe jeden Tag so als wäre er dein letzter. Der ist auch absurd. Denn wenn es so wäre, würde ich gar keine Steuern zahlen und gar nicht mehr arbeiten. Aber das braucht ja das Sozialsystem. Geht also nicht.
Also kein Ratgeber, aber ein Buch, das viele kluge und bereichernde Gedanken enthält. Ich möchte zum Schluss noch einmal auf den „Depressiven Realisten“ kommen. Oder auch auf die Idee von Antonio Gramsci (Anm. italienischer Schriftsteller, Journalist, Politiker und marxistischer Philosoph), der vom „Pessimismus des Verstandes und vom Optimismus des Willens“ spricht. Dass man die Dinge realistisch sieht, keine rosaroten Brillen aufsetzt, aber dass man dennoch handlungsfähig bleibt.
JMS: Ich finde diese Idee wirklich erhellend und denke, dass das die Tugend ist, die wir angesichts der Krisen, Pandemie, Krieg, Klimakrise, gerade heute brauchen. Ich glaube, wir haben zu lange die Augen verschlossen. Auch angesichts der Klimakrise. Wir handeln nicht. Wir hoffen, vielleicht geht das wieder vorbei. Doch das tut es natürlich nicht. Der Pessimismus des Verstandes bedeutet, dass man die Probleme ehrlich benennt. Und da sehe ich gerade in unserer Gesellschaft eine große Spannung. Gerade weil Glück für uns so ein hohes Prestige hat, wollen wir nicht sehen, dass etwas nicht so gut läuft. Man will das auch gar nicht hören. Das wirkt so hemmend, so stockend, so dysfunktional. Aber ich glaube, dass man den Zweifeln und Kritikern Gehör schenken muss. Ich gehe lieber zu einem kritischen Hautarzt, der meinen Leberfleck rechtzeitig entfernt, als zu einem, der optimistisch abwartet. Und ich glaube, dass wir in Zukunft dieses realistische Hinschauen ganz dringend brauchen, aber dass wir an den großen Schrecken nicht verzweifeln dürfen, sondern mutig bleiben müssen. Und überlegen, wie können wir das jetzt noch verbessern, ändern. Und das ist eben, was Bartleby nicht macht. Er hat den Pessimismus des Verstandes und den Pessimismus des Willens. Er hat gar nichts mehr. Ich denke, dass man gesellschaftlich schon noch etwas wollen sollte.
Als eine der Initialzündungen für die Entstehung deines Buchs hast du ein Erlebnis mit deiner Großmutter erwähnt, die im Altenheim eine Zimmernachbarin hatte, der es sehr schlecht ging. Der Enkel, der zu Besuch war, konnte sich nicht verkneifen, sie aufzufordern, „sei doch mal ein bisschen positiv, Oma, dann wirst du hier auch besser behandelt.“ Ein typischer Fall von positiver Psychologie. Du hast im Buch aber auch die Terroranschläge von Paris im November 2015 u.a. im Musikclub Bataclan erwähnt. Du hast zu der Zeit in Paris gelebt, nahe beim Tatort.
JMS: Ich war zum Studium in Paris und hatte für meine Masterarbeit zum Islamischen Staat geforscht. Das hat mich natürlich sehr beschäftigt. Ich beschreibe das in meinem Buch, weil das ein Erlebnis war, das mein Verhältnis zu meinem eigenen Schmerz nachhaltig verändert hat und bis heute eine Folie geworden ist für die Frage, „Was ist eigentlich wichtig im Leben?“. Und auch gezeigt hat, wie fragil unsere Existenz eigentlich ist. Wie schnell alles vorbei sein kann. Ich will das auf keinen Fall romantisieren. Es war furchtbar, wirklich eines der einschneidendsten Erlebnisse meines Lebens. Gleichzeitig ist da bis heute eine Art Narbe, die mich daran erinnert, nicht abzukommen von dem, was wichtig ist.
Während die Glücksindustrie dir raten würde: „Vergiss es einfach! Komm drüber hinweg!“
JMS: Und das ist gerade nicht gut. Wenn man das einfach so unterdrückt, kommt das anderswo wieder hoch. Mich hat es immer wieder daran erinnert, dass diese großen schmerzhaften Themen wie zum Beispiel Krieg, Armut, wachsende Ungleichheit – überhaupt das Hauptproblem unserer Zukunft, dass die einen immer ärmer werden und die anderen immer reicher – so wichtig sind und mehr Raum bekommen sollten in der Öffentlichkeit. Das war der Moment, wo mir das bewusster wurde, auch wenn ich mich schon früher mit solchen Themen beschäftigt habe. Aber wir als Gesellschaft blenden diese Probleme immer gerne aus.
Ich überlege oft, welches sind die Themen, die relevant sind. Zum Beispiel beim Thema Krieg hatte ich den Eindruck, natürlich vor den aktuellen Ereignissen, dass das nicht so viele Menschen in meiner Generation interessiert. Auch weil wir in dieser einzigartigen Phase waren, in der wir unglaublich lange in Frieden aufgewachsen sind. Krieg war etwas von früher. Und jetzt ist er wieder da. Und das erschüttert viele Menschen. Das Hinsehen ist wichtig. Ich weiß, wie schwer das ist, gerade für sensible Menschen. Man muss immer schauen, wie weit man sich dem aussetzen kann. Aber so ganz wegzuschauen, würde ich nicht empfehlen.
Man darf sich also durchaus mal ein gut riechendes Duschgel gönnen oder einen schönen, warmen Tee aufbrühen, aber man darf die Augen nicht vor der Realität, seiner Umgebung und seinen Mitmenschen verschließen.
JMS: Und man darf an dem Druck auch durchaus mal seitlich dran vorbeigehen*. Man muss nicht ständig versuchen, noch glücklicher sein zu müssen. Wenn wir diese Krisen erleben und dann beispielsweise in der Pandemie noch super produktiv sein sollen – diesen Druck rauszunehmen, das ist, glaube ich, sehr befreiend.
Ein schönes Schlusswort. Ich danke dir für das Gespräch.
Beitragsbild: Juliane Marie Schreiber beim Literaricum Lech Juli 2022 ©Petra Reich
…welch ein GLÜCK, dass ich diesen Blog verfolge und dadurch dieses tolle Interview lesen und weiterleiten konnte. Danke Petra Reich!
Sehr gerne!