Seit 1997 findet im schicken Vorarlberger Wintersportort Lech am Arlberg jedes Jahr im September ein hochkarätiges geisteswissenschaftliches Ereignis statt. Das Philosophicum Lech bietet, durchaus gewollt zweideutig, „Nachdenken auf höchstem Niveau – 1500 Meter über dem Meer“. Initiiert von Schriftsteller Michael Köhlmeier und unter der wissenschaftlichen Leitung von Konrad Paul Liessmann, treffen sich bekannte Geisteswissenschaftler und interessiertes Publikum und beleuchten unter einem bestimmten Themenschwerpunkt die großen Fragen der Philosophen und lassen sie auf die Entwicklungen, Krisen und Konflikte unserer Zeit treffen. Eine Veranstaltung, die großen Zuspruch erhält. Im vergangenen Jahr startete dann eine ähnlich gelagerte Veranstaltung mit dem Fokus Literatur, das Literaricum in Lech, das 2022 nun seine zweite Auflage erhielt.Initiiert von Michael Köhlmeier und Raoul Schrott und kuratiert von Nicola Steiner, steht beim Literaricum Lech jedes Jahr ein Klassiker der Weltliteratur im Zentrum, dem sich die Veranstaltungen innerhalb der drei Festivaltage aus verschiedenen Perspektiven nähern. (Im letzten Jahr Simplicius Simplicissimus von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen). Der eher intime Rahmen, schon allein durch die Abgelegenheit des Haupttagungsorts im auf über 1600m Höhe gelegenen Oberlech, bietet die seltene Gelegenheit, mit den Autorinnen und Autoren im Anschluss an die Veranstaltungen oder auch beim Kaffee oder Abendessen ins Gespräch zu kommen. Ich hatte das große Vergnügen, direkt im Burg Hotel, das Haupttagungsort war, untergebracht gewesen zu sein, so dass ich die Teilnehmer:innen bereits beim Frühstück, in der Lobby, in der Gondel traf.
Da meine Anreise per Zug doch einiges an Zeit (und Nerven) erforderte – schlussendlich dauerte sie 11 Stunden – war ich sehr erfreut, bereits mittwochs eintreffen zu dürfen. Der Empfang im Burg Hotel war außerordentlich gut und persönlich und ich wurde beim Abendessen am Tisch von zwei ebenfalls schon angereisten Literaricum-Gästen platziert. Was nicht immer gut geht, klappte hier perfekt, die Chemie stimmte und wir drei haben das Literaricum fortan überwiegend zusammen genossen.
Bereits am Donnerstagmorgen durfte ich die ebenfalls schon angereiste Literaturkritikerin und Autorin Elke Heidenreich zu einem Gespräch treffen, was aufgrund der herzlichen Aufgeschlossenheit und Offenheit von Frau Heidenreich ein großes Vergnügen war.
Der Rest des Tages bis zur Eröffnung des zweiten Literaricum Lech in der Neuen Kirche war unverplant, so dass ich bei herrlichstem Wetter ein wenig die nähere Umgebung erkunden konnte, z.B. den Libellensee. Abends ging es dann mit der Gondel hinunter nach Lech. Hier hielt nach der Begrüßung durch Bürgermeister und Hotelier Gerhard Lucian, Michael Köhlmeier und Nicola Steiner Elke Heidenreich die Eröffnungsrede.
Der Klassiker des diesjährigen Literaricum Lech 2022 war Bartleby, der Schreiber von Herman Melville, erschienen 1853. Aus ihm stammt der berühmte Satz: „I would prefer not to“, Ich möchte lieber nicht. Elke Heidenreich fragte sich und uns nun auch gleich, warum wir eigentlich ständig Dinge tun, die wir lieber nicht tun würden. Und beantwortete ihre Frage auch sogleich: „Das ist das richtige Leben!“ In ihrer Rede stellte Heidenreich auch gleich die Personen in Bartleby vor, den Erzähler, Anwalt und Notar, seine drei etwas schrägen Angestellten und den neuen Schreiber Bartleby, der nach drei Tagen fleißigen Arbeitens sich plötzlich verweigert. „I would prefer not to.“ Parallelen, aber auch Unterschiede zu Kafkas Hungerkünstler und zu Gontscharows Oblomow wurden aufgezeigt, die Unbegreiflichkeit von Bartlebys Haltung und die schiere Unmöglichkeit einer Totalverweigerung ohne die Gesellschaft und auch das eigene Leben zu gefährden. Gleichzeitig wurde auch die hektische Glückssuche unserer Zeit hinterfragt und Melvilles eigene verzweifelte Lage nach dem andauernden Misserfolg seiner Bücher (auch der jetzt so berühmte Moby Dick war bei seinem Erscheinen ein Flop) in Beziehung zu dieser kurzen, fast nihilistischen Geschichte gesetzt. Das letzte Wort erteilt Elke Heidenreich Charlie Brown und Snoopy von den Peanuts: „Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy.“ „Ja, das stimmt, aber an allen anderen Tagen nicht.“
Untermalt wurde ihre Rede über die Faszination, die diese kurze Geschichte auch 170 Jahre nach ihrer Entstehung noch ausübt und welche Fragen sie auch für unser Leben heute aufwirft, durch die Klavierbegleitung von Marc-Aurel Floros, der dem nicht wirklich standesgemäßen Klavier doch stimmungsvolle Töne entlocken konnte. Bei Häppchen und Aperitifs konnte man sich dann vor der Kirche noch ein wenig austauschen, bevor der Shuttlebus mit bestens gelaunten Teilnehmer:innen des Literaricum Lech wieder Richtung Oberlech startete.
Beim Abendessen saß dann Elke Heidenreich bei uns am Tisch und wir konnten so einiges über Shakespeare lernen, den sowohl Elke als auch Werner sehr gut kennen und lieben.
Der Freitag begann nach einem hervorragenden Frühstück mit der kompletten Lesung des Bartleby durch den Schauspieler Thomas Sarbacher. Eine tolle Gelegenheit, da der Text so kurz ist, ihn vor den vertiefenden Gesprächen noch mal ganz frisch „serviert“ zu bekommen. Der Vortrag von Sarbacher war sehr lebendig, einfühlsam und mitreißend. Es wurde viel gelacht. Denn ja, Bartleby ist auch sehr komisch und absurd, neben all der im innewohnenden Tragik.
Am Nachmittag starteten dann Elke Heidenreich und Juliane Marie Schreiber mit einem Gespräch zu deren Buch Ich möchte lieber nicht. Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven. Die beiden harmonierten sehr gut, man merkte Frau Heidenreich ihre Begeisterung und Leidenschaft für das Buch und die Autorin an. Davon profitierte das Publikum, auch hier wurde viel gelacht. Schreiber sieht ihr Buch als Aufruf zum Widerstand gegen die Ideologie der Zeit, die nach dem immer größeren Glückserlebnis suche, den Glücks-Normwert unverhältnismäßig nach oben verschoben habe und das persönliche Glück zu einer Frage des Prestige mache. Sie spricht auch von „toxischem Positivismus“. Gleichzeitig würden viele Kämpfe zu sehr nach innen verlagert und Eigenverantwortung zum neoliberalen Kampfbegriff. Das führe zu einer gesellschaftlichen Entsolidarisierung und Individualisierung. Schreiber: „Das Stigma des Misserfolgs ist die dunkle Seite dieses Glücksterrors.“ Sich diesem ein wenig zu verweigern, öfter mal „Ich möchte lieber nicht“ zu sagen, dazu will ihr Buch ermutigen. „Nein oder Nichtsein.“ Ohne aber eine totale Verweigerung wie die Bartlebys zu idealisieren. Denn neben diesem Pessimismus des Verstandes soll (nach Antonio Gramsci) ein Optimismus des Willens stehen. Elke Heidenreich findet das Buch sowohl politisch und wissenschaftlich fundiert als auch mit viel Furor und Witz geschrieben. Dem kann ich mich anschließen. (Siehe auch mein Gespräch mit Juliane Marie Schreiber).
Das zweite Gespräch am Nachmittag wurde zwischen Karl-Heinz Ott und Nicola Steiner geführt. Im Frühjahr ist Otts Buch Verfluchte Neuzeit: Eine Geschichte des reaktionären Denkens erschienen, in dem ein Kapitel ursprünglich Bartleby gewidmet sein sollte, was aber letztendlich entfiel. Im Gespräch ging es hauptsächlich um die Rezeption von Bartleby, der Schreiber. Die Neuzeit als haltlos gewordene Zeit, als Zeit der zunehmenden Automatisierung und Industriealisierung ist die Welt Bartlebys, in dem auch Karl-Heinz Ott eine frühe Spiegelung von Kafka sieht. Ott möchte ihm seine Rätselhaftigkeit und auch die Beunruhigung, die sie bei den Leser:innen auslöst, gerne lassen. Schließlich sei Bartleby für sie auch eine Projektionsfläche und vielleicht sogar ein Alter Ego des Erzählers.
Als die Geschichte zunächst anonym im November und Dezember 1853 in zwei Teilen in der Zeitschrift Putnam’s Monthly Magazine veröffentlicht wurde (erst drei Jahre später erschien sie als Buch), war Herman Melville, Elke Heidenreich sprach darüber schon in der Eröffnungsrede, ziemlich am Ende. Seine Romane hatten keinen Erfolg, er musste seinen Lebensunterhalt und den seiner sechsköpfigen Familie als Hafenzöllner in New York verdienen. Wirkliche Anerkennung, vor allem mit Moby Dick, erlangte er erst im 20. Jahrhundert. Dort begannen ihn auch die Denker zu entdecken. Jorge Louis Borges nahm die Erzählung von Bartleby in seine „Bibliothek von Babel auf, die Philiosophen Albert Camus, Gilles Deleuze, Giorgio Agamben und Slavoj Žižek beschäftigten sich mit dem Schreiber und bauten mit ihm an ihren Gedankentürmen. Die Antwort auf Nicola Steiners Frage, was der Schreiber wohl zu all diesen Theorien gesagt hätte, kommt aus dem Publikum, von Michael Köhlmeier: „Ich möchte lieber nicht.“
Das letzte Gespräch des Tages fand zwischen dem Journalisten Gerold Riedmann und Christoph Bartmann, u.a. ehemaliger Direktor des Goethe-Instituts in New York und Warschau, statt. 2012 erschien dessen Buch Leben im Büro: Die schöne neue Welt der Angestellten und damit der Anknüpfungspunkt zu Bartleby. Im Gespräch ging es um Bürokratismus versus Managerismus, „Schaffen“ versus Fake-Arbeit, Co-Working-Spaces, Foucault und die Macht der milden Mittel und um neue Arbeitswelten wie den Google Campus mit seiner maximalen Verflechtung von Arbeit und Privatleben. Hier würden Zumutungen als Wohltaten verkauft. Abgesehen davon, dass Bartleby sein Büro für sich zu einer Art Campus mache, bestehe aber wenig Ähnlichkeit in den Arbeitswelten. Und an diesem etwas fehlenden direkten Zusammenhang mit Bartleby krankte für mich auch dieses eigentlich interessante Gespräch ein wenig. Zuletzt konnte man sich aber darauf einigen, dass der Erzähler, der Anwalt und Notar, tatsächlich ein guter Chef gewesen sei. Bartmann, der sein Buch 2012 mit einem Kapitel namens „Die ganze Welt ist jetzt Büro“ beendete, würde heute, auch angesichts der Pandemiemaßnahmen, eher vom „Ende des Büros“ sprechen. Die Auswirkungen dieser Entwicklung auf unsere Innenstädte seien noch gar nicht absehbar.
Der zweite Abend beim Literaricum Lech wurde mit einem „Literaten-Dinner“ beschlossen, bei dem nicht nur die exzellente Gourmet-Küche überzeugte, sondern auch reichlich Wein floss. Ich verbrachte den sehr netten Abend am Pressetisch in sehr angenehmer Gesellschaft. Diesmal stieß auch Wolfgang Tischer vom Literaturcafé hinzu.
alle fotos ©Petra Reich