Literaricum Lech 2022 – I would prefer to – Teil 2

Seit 1997 findet im schicken Vorarlberger Wintersportort Lech am Arlberg jedes Jahr im September ein hochkarätiges geisteswissenschaftliches Ereignis statt. Das Philosophicum Lech bietet, durchaus gewollt zweideutig, „Nachdenken auf höchstem Niveau – 1500 Meter über dem Meer“. Im vergangenen Jahr startete dann eine ähnlich gelagerte Veranstaltung mit dem Fokus Literatur, das Literaricum in Lech, das 2022 nun seine zweite Auflage erhielt. Initiiert von Michael Köhlmeier und Raoul Schrott und kuratiert von Nicola Steiner, steht jedes Jahr ein Klassiker der Weltliteratur im Zentrum, dem sich die Veranstaltungen innerhalb der drei Festivaltage aus verschiedenen Perspektiven  nähern. Der eher intime Rahmen, schon allein durch die Abgelegenheit des Haupttagungsorts im auf über 1600m Höhe gelegenen Oberlech, bietet die seltene Gelegenheit, mit den Autorinnen und Autoren  im Anschluss an die Veranstaltungen oder auch beim Kaffee oder Abendessen ins Gespräch zu kommen. In diesem Jahr stand Bartleby, der Schreiber von Herman Melville im Mittelpunkt. Teil 1 meines Berichts vom Literaricum Lech 2022 findest ihr hier.

Sessellift Petersboden Lech
Sessellift Petersboden Lech

Am Samstagmorgen geht es im Sessellift hinauf zur Kriegeralpe. Unter stahlblauem Himmel, inmitten von blühenden Bergwiesen erwartet der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott sein Publikum auf der Terrasse der zum Burg Hotel gehörenden Almwirtschaft. Und hier sind auch wieder alle anzutreffen, von Elke Heidenreichs Don Vito über Juliane Marie Schreiber und Nicola Steiner bis zu den versammelten Pressevertreter:innen. Und natürlich den Gästen des Literaricum Lech  2022.

Raoul Schrott auf der Kriegeralpe Literaricum Lech 2022
Raoul Schrott

Ähnlich abgerückt wie die Kriegeralpe vom Hauptveranstaltungsort, sind die heutigen Themenschwerpunkte vom Bartleby, dabei aber fest verankert im jährlichen Festivalprogramm. Hier am Morgen in luftiger Höhe gibt es einen Exkurs in die Literaturgeschichte. Im vergangenen Jahr startete Raoul Schrott mit der Vorstellung des Gilgamesch-Epos, das wohl älteste Epos der Menschheitsgeschichte, das vermutlich zwischen 2100–1600 v. Chr in Mesopotamien entstanden ist. In diesem Jahr geht es um altägyptische Liebeslyrik. Die Vernastaltungsreihe soll aber mit Weiterbestehen des Literaricums weiter Richtung Neuzeit voranschreiten.

Raoul Schrottt - Die Blüte des nackten KörpersDie altägyptische Liebeslyrik entstand in einem recht kurzem Zeitraum, von ca. 1300 bis 1250 v.Chr. Beeinflusst war sie wahrscheinlich durch die revolutionären Veränderungen, die der Pharao Echnaton anregte und durch sein enges Verhältnis zu seiner Frau Nofretete. Geschrieben wurden sie ausschließlich von Männern. Diese schlüpften aber auch in weibliche Rollen, häufig kommt es zu einer Zwiesprache zwischen dem lyrischen Er und dem lyrischen Sie. Es überrascht nicht nur die Freizügigkeit, sondern auch das ziemlich Emanzipatorische in den Gedichten. Von den Göttern fort wendet sich diese Lyrik zur Liebe als höhere Macht, die Abhängigkeit schafft, zur geliebten „Schwester“, die auch als Herrscherin, ja mit Bezug zum Göttlichen gesehen wird. Hathor – Göttin der Liebe, des Rausches, der Fruchtbarkeit. Bleibt zu erwähnen, dass diese Lyrik eine reine Angelegenheit der damaligen Oberschicht war. Das „gemeine“ Volk kam damit kaum in Berührung.

aus Raoul Schrottt – Die Blüte des nackten Körpers, Hanser Verlag

Ein Fortführung dieser Art Lyrik sieht Raoul Schrott im in der Datierung sehr umstrittenen Hohelied Salomos des Alten Testaments. Eine explizite Verwendung des lyrischen Ichs sieht er erst wieder bei der Griechischen Dichterin Sappho (* zwischen 630 und 612 v. Chr.; † um 570 v. Chr.) und dann bei den Römern Catull, Vergil und Horaz erneut ca. 600 Jahre später. Auch das Mittelalter kam weitgehend ohne dieses „Ich“ aus, bevor Dichter wie Oswald von Wolkenstein und William Shakespeare es „wiederbelebten“. Auf die Fortstzung von Raoul Schrotts lebendiger „Literaturgeschichte“ beim nächsten Literaricum Lech darf man gespannt sein.

Nach ein wenig Verweilen auf der Alpe geht es dann wieder zurück nach Oberlech, wo am Nachmittag noch zwei interessante Veranstaltungen warten. Leider fällt Übersetzer Ulrich Blumenbach, der mit Nicola Steiner über die Kunst des Übersetzens (auch das ein fester, jährlicher Programmpunkt) und die Gemeinsamkeiten zwischen „Der bleiche König“ von David Foster Wallace, den er übersetzt hat, und Bartleby sprechen wollte, kurzfristig aus. Bewundernswert spontan springen Raoul Schrott und Frank Witzel ein und sprechen ihrerseits über das Übersetzen. Zentrales Thema ist, wie textgenau man dabei bleiben muss/soll/will. Raoul Schrotts Übersetzungen klassischer Texte wurde schon mehrfach vorgeworfen, zu „frei“, zu „selbstherrlich“ übertragen zu sein.

Raoul Schrott und Frank Witzel beim Literaricum Lech 2022
Raoul Schrott und Frank Witzel beim Literaricum Lech 2022

Frank Witzel fragt dann auch gleich zu Beginn, wie weit Kollege Schrott denn in der „Modernisierung“ von Texten gehen würde. Und merkt sogleich an, dass ihm oft eine etwas ältere Fassung besser gefalle als eine sehr zeitgemäße.

Für Raoul Schrott ist die Sprache nur ein unzureichendes Vehikel für das Denken. Die philologische Leistung, also zu sehen, was steht da eigentlich, sei nur vielleicht 20% der Übersetzungsleistung. Man müsse immer wissen, dass das Importieren eines Textes aus einer anderen Kultur und vielleicht sogar aus einer anderen Zeit, einer Veränderung am Text bedürfe. Impliziertes Wissen erfordere Hermeneutik und vor der eigentlichen Übersetzung müsse man sich darüber klarwerden, welche Wirkung der Autor oder die Autorin für den Text im Original vorgesehen habe. Literatur sei Suggestionskunst, dem müsse man mit der Übersetzung gerecht werden. Es könne deshalb nie die eine Übersetzung geben, sondern immer eine andere je nach zeitlichem und kulturellem Kontext. Als Beispiel nennt Schrott ein authentisches Thailändisches Kochrezept, dass man mangels der erforderlichen Zutaten in Deutschland mit den hier verfügbaren Sachen so nah wie möglich an den Originalgeschmack heranbringen müsste.

Am Ende wurde nochmal die Übersetzungsleistung von Ulrich Blumenbach, der sich stets an hochkomplexe Texte heranwagt, gewürdigt und die schlechte Entlohnung der Übersetzer, die oft nur mithilfe von Stipendien und Fördergeldern arbeiten können, bedauert. Eine wirklich interessante Veranstaltung, besonders angesichts ihrer Spontanität.

Ich möchte lieber nicht Juliane Marie Schreiber

Im Anschluss darf ich Juliane Marie Schreiber zu ihrem aktuellen Buch Ich möchte lieber nicht. Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven befragen. Ein sehr schönes Gespräch mit einer klugen, sehr sympathischen Frau. Ihr könnt es hier nachlesen.

Bei der letzten Veranstaltung spricht Frank Witzel mit Katharina Teutsch über seine Literatur und die Rolle, die darin das Absurde in Parallele zu Bartleby spielt. Katharina Teutsch erwähnt die Neigung der Figuren bei Witzel, ihr „Leben zu zerdenken“. Es geht zunächst um Witzels „Metaphysische Tagebücher“ Uneigentliche Verzweiflung und Erhoffte Hoffnungslosigkeit. In ersterem beschäftigt sich Witzel u.a. mit der französisch-jüdischen Philosophin Simone Weil (* 3. Februar 1909 † 24. August 1943), die sich – auch hier eine Parallele zu Bartleby – in ihrem Londoner Exil zu Tode hungerte.

Frank Witzel und Katharina Teutsch
Frank Witzel und Katharina Teutsch

In der Folge wird es im Gespräch recht komplex und philosophisch. Vielleicht kann man es auf das von Heinz Erhardt zitierte „Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie denken“ herunterbrechen  und im Kopf behalten, dass im Buddhismus das Denken als sechster Sinn gilt. Distanz zum eigenem Denken und das Vermeiden von Meinungen sind für Witzels Schreiben wichtig. Sein autobiografisches Elternbuch Inniger Schiffbruch ist dezidiert als Roman konzipiert. Zum Abschluss liest der Autor daraus vor.

Bei einem österreichischen Abend mit einer zünftigen Jause klingt der Abend aus. Die leckere Haubenküche kann das nicht ganz ersetzen und die Heizstrahler sind trotz klimapolitischer Bedenken notwendig. Aber man sitzt noch einmal nett beisammen und lässt die vergangenen Tage noch einmal passieren. Das Bergpanorama ist wieder berückend. Schön war´s, anregend war´s und ich habe eine Menge toller Leute kennengelernt.

Der ursprünglich angesetzte Brunch fällt am Sonntag wegen mangelnder Anmeldungen leider aus, aber es gibt nochmal ein gemeinsames Frühstück am „Literatentisch“ auf der schönen Hotelterrasse, die Sonne scheint und ein klein wenig fällt der Abschied schwer. Gut, dass das Literaricum Lech 2023 schon in Planung ist. Und ein möglicher Klassiker ist wohl auch schon ausgeguckt – wird gemunkelt 😉

In so schwierigen, ja manchmal deprimierenden Zeiten wie diesen ein paar Tage nur der Literatur zu widmen, in herrlicher Umgebung, mit netten Menschen, die für das Gleiche brennen – das war einfach nur schön. Zu Beginn des Krieges wurde immer wieder diskutiert, ob es das Sprechen über Bücher im Moment wirklich braucht, ja sogar, ob das Lesen und die Literatur angesichts der Schrecken in der Ukraine und der noch drohenden Folgen nicht überflüssiger Luxus seien. Veranstaltungen wie das Literaricum Lech setzen dem entgegen, wie wichtig und essentiell Kultur und speziell auch Literatur gerade auch in schwierigen Zeiten sind. Nichts verortet besser, zeigt Kontinuitäten, Diversitäten und Gemeinsamkeiten deutlicher, fördert Empathie und Toleranz mehr als in fremde Leben und Geschichten einzutauchen. Alles Dinge, die wir dringend benötigen, und über die nachzudenken gerade in Krisenzeiten enorm wichtig ist.

Teil 1 meines Beitrags zum Literaricum Lech 2022 findet ihr hier

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert