Liane ist kein abenteuerlustiger Mensch. Die ein paar Jahre vor ihrem Ruhestand stehende Bilbliothekarin lebt eher ein Leben auf Sparflamme. Deshalb gleicht es einem Wunder, dass sie die Einladung ihres jungen Freundes G., ihn in Russland zu besuchen, um endlich einmal Licht in ein Familienereignis zu bringen, das Liane seit ihrer Kindheit belastet. Und so macht sie sich im neuen Roman von Sabine Huttel auf, Das russische Rätsel zu lösen.Seit klein auf begleiteten den Vater von Liane, Anton Herbst, diese Stimmungen. Eigentlich ein freundlicher, zugewandter Mensch, wurde er dann still, in sich gekehrt, abweisend. Es waren die Erinnerungen an seine lange Kriegsgefangenschaft in Russland, im Gefangenenlager Djegtjarsk nahe Jekaterinenburg. Dinge, die dort vorgefallen sind, haben ihn teilweise zerbrochen, aber nie konnte und wollte er darüber reden. Das hat Liane als Kind erschreckt und beschäftigt sie auch lange nach dem Tod des Vaters noch. Deshalb ist die Einladung von G., der zur Zeit mit einem Lehrauftrag an der Universität Moskau weilt, mit ihr nach Djegtjarsk zu fahren, verlockend. Entgegen ihrer eher ängstlichen, zögerlichen Art, sagt Liane zu.
Russische Reise
Zunächst geht es nach Sankt Peterburg, wo G. eine Reisegruppe betreut, dann über Moskau, wo leider das Weltkriegsarchiv geschlossen hat, nach Jekaterinenburg und schließlich nach Djegtjarsk. Lange Zugfahrten, überfüllte Busse, mal mehr, mal weniger freundliche Menschen, es passiert nicht viel auf der Reise und die Ergebnisse ihrer Recherchen sind sehr überschaubar. Wer Anton Herbst, der Soldat und Kriegsgefangene war, wird nicht deutlicher. Genauso wenig, wie die Verhältnisse im Lager tatsächlich waren. Auch die Menschen in Russland kommen Liane nicht näher. Es wird wohl für immer das russische Rätsel bleiben.
Dennoch ist die Reise nicht umsonst gewesen.
„Ein Moped knatterte hinterr dem Haus vorbei. Dann, nach kurzer Stille, war in der Entfernung die S-Bahn zu hören. Tief atmete Liane die Luft dieses warmen Abends ein. Ihr Blick schweifte durch den Garten, der vernachlässigt und verwildert aussah. Zwischen den Rosen hatten sich Brennnesseln ausgebreitet, Kletten wucherten in den Himbeersträuchern, das Gras unter den Obstbäumen stand hoch. Die ersten Äpfel waren abgefallen. Am Zaun blühten schon Astern.
Schön hier, dachte sie, und: Wenn der Winter kommt, plane ich meine nächste Reise.“
Liane ist vielleicht Anton Herbst und seinem Rätsel nicht wirklich näher gekommen. Ihrem Vater, ihrer Kindheit und sich selbst aber schon.
Auch sehr empfehlenswert ist Sabine Huttels Roman „Ein Anderer“
Eine weitere Besprechung zu „Das russische Rätsel“ findet ihr auf Schiefgelesen
Beitragsbild: Umgebung Jekaterinenburg by Денис Александров, CC BY 3.0, via Wikimedia Commons
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Sabine Huttel — Das russische Rätsel
Tredition 2021, 224 Seiten
– Softcover, ISBN: 978–3‑347–46169‑7, 14,- €
– Hardcover, ISBN: 978–3‑347–46172‑7, 22,-€
– E‑Book, Preis: 9,99€