Der Lesemonat Juli 2022 war nicht nur von meiner überwiegend sehr starken Lektüre geprägt, sondern natürlich auch durch meinen Aufenthalt beim Literaricum 2022 in Lech am Arlberg. Ich war dort auf Einladung der Lech-Zürs-Tourismus GmbH, meine Berichte und Begeisterung sind allerdings unbezahlt, eigenverantwortlich und aus vollstem Herzen. Die Zeit dort in der herrlichen Bergwelt von Oberlech, bestens umsorgt im dortigen Burg Hotel und mit einem spannenden, von Nicola Steiner kuratierten Literaturprogramm versorgt, werde ich so schnell nicht vergessen. Jedem, der damit liebäugelt oder im nächsten Jahr in der Nähe ist, sei dieses Literaturfestival wärmstens empfohlen.
Nun aber zu meiner Lektüre im Juli 2022, denn auch da war einiges Spannendes dabei. Ende des Monats habe ich begonnen, mich mit portugiesischen Romanen zu beschäftigen, die ich im Frühjahr in Leipzig, als Portugal auch ohne offizielle Buchmesse Gastland war, entdeckt habe. Es wird demnächst noch einen speziellen Beitrag dazu geben.
Sabine Huttel – Das russische Rätsel
Liane ist kein abenteuerlustiger Mensch. Die ein paar Jahre vor ihrem Ruhestand stehende Bilbliothekarin lebt eher ein Leben auf Sparflamme. Deshalb gleicht es einem Wunder, dass sie die Einladung ihres jungen Freundes G., ihn in Russland zu besuchen, um endlich einmal Licht in ein Familienereignis zu bringen, das Liane seit ihrer Kindheit belastet, annimmt. Und so macht sie sich im neuen Roman von Sabine Huttel auf, Das russische Rätsel zu lösen. Lange Zugfahrten, überfüllte Busse, mal mehr, mal weniger freundliche Menschen, es passiert nicht viel auf der Reise und die Ergebnisse ihrer Recherchen sind sehr überschaubar. Wer Anton Herbst, der Soldat und Kriegsgefangene war, wird nicht deutlicher. Genauso wenig, wie die Verhältnisse im Lager tatsächlich waren. Auch die Menschen in Russland kommen Liane nicht näher. Es wird wohl für immer das russische Rätsel bleiben. Dennoch ist die Reise nicht umsonst gewesen. Liane ist vielleicht ihrem Vater und seinem Geheimnis nicht wirklich näher gekommen. Sich selbst aber schon.
James Baldwin – Von einem Sohn diese Landes
Zehn Essays des großen, 1924 geborenen Schwarzen Autors und ein ausführliches Vorwort von Mithu Sanyal. Die Essays kreisen erneut um das Thema Identität, rassistische Zuschreibungen und das zusammenleben von Schwarz und Weiß. Eingeteilt sind sie in drei Gruppen: drei Besprechungen von Büchern und einem Film, drei Teste über das Leben in den USA, darunter der großartige, titelgebende Text, in dem sich Baldwin erneut mit seinem verstorbenen (Stief)Vater auseinandersetzt und vier Texte über seine Zeit in Europa, darunter das herausragende Fremder im Dorf über seine Zeit im Schweizerischen Leukerbad. Geschrieben wurden die Essays zwischen 1948 und 1955, wo sie auch gesammelt erschienen. Verblüffend wieder die Aktualität mancher Texte, die Menschenfreundlichkeit Baldwins trotz aller Ausgrenzungserfahrungen und die starke Sprache. Nicht ganz so überwältigend wie Nach der Flut das Feuer, aber immer noch absolut lesenswert.
Juliane Marie Schreiber – Ich möchte lieber nicht
„Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven“. Juliane Marie Schreiber macht sich darin kluge (und witzige) Gedanken darüber, wohin es führt, wenn das Glücksstreben überhand nimmt und Glück zum reinen Prestige wird, das man herzeigen muss. Wir sollen uns ständig selbst optimieren und coachen lassen. Was macht das mit uns und vor allem auch der Gesellschaft? Juliane Marie Schreiber denkt darüber auf durchaus auch etwas provokante Art nach und rät: öfter mal „Ich möchte lieber nicht“ sagen. Leseempfehlung!
„Amelia“ ist der Debütroman von Anna Burns, der nach dem großen Erfolg des Booker Prize- Gewinners „Milchmann“ nun zum Glück auch übersetzt und in Deutschland veröffentlicht wurde. Wer Anna Burns ganz spezifischen Erzählton kennt, findet ihn bereits hier wieder.
Amelia ist acht, als 1969 in Nordirland die euphemistisch als „the troubles“ bezeichneten schweren Unruhen zwischen den Unionisten, meist Protestanten, die Teil des UK bleiben wollten, und den Republikanern, die als Katholiken den Anschluss an Irland erkämpfen wollten, eskalierten. Der Absurdität, der Grausamkeit und dem alles Menschliche vernichtende Irrsinn dieses bürgerkriegsähnlichen Konflikts nähert sich Burns mit einem ans Absurde grenzenden Witz und einer Lakonie, die mehr erschüttert, als jede gefühlsbeladene Erzählung. Man muss das mögen oder zumindest aushalten können, diese Düsternis und Brutalität, den tiefschwarzen, bisweilen zynischen Humor.
Amelia ist dann ein ganz großartiges Buch, das die Vorgänge in Nordirland bis zum Karfreitagsabkommen 1998 wie kaum ein anderes Buch deutlich und spürbar macht.
Vielleicht mit Ausnahme von „Milchmann„.
Donna Leon schreibt ihre Brunetti-Romane nie sehr handlungsorientiert oder spannungsgeladen. Weshalb man sie dennoch sehr gerne und regelmäßig liest, ist die Atmosphäre, das Venedig-Ambiente, Brunetti und seine Familie, die liebgewordene Figuren geworden sind, und die leise und doch oft scharfe Gesellschaftskritik, die meist mitschwingt. Bei Milde Gaben vermisse ich leider fast alles davon. Ein kaum vorhandener Kriminalfall, durch Corona kaum stattfindende Verbrechen und eine irgendwie von ihrem eigenen Sujet gelangweilte Autoren machen Milde Gaben zu einer nur für wirklich hartgesottene Donna Leon-Fans Empfehlung. Bleibt zu hoffen, dass die Autorin, die Venedig mittlerweile den Rücken gekehrt hat und in der Schweiz lebt, nicht die Lust an ihrem Sujet verloren hat, sondern dass der neueste Fall nur eines der vielen Corona-Opfer darstellt. Dass es besser geht, hat sie in ihrem gelungenen Jubiläumsband Flüchtiges Begehren bewiesen.
Afonso Reis Cabral – Aber wir lieben dich
Es ist ein wahrer Kriminalfall, der 2006 ganz Portugal erschütterte. Eine Gruppe von zwölf Minderjährigen schlug damals in Porto die aidskranke und heroinabhängige, obdachlose, aus Brsilien stammende Transfrau Gisberta Salce Júnior, die sich in sehr schlechtem Gesundheitszusatnd in den Keller einer Bauruine zurückgezogen hatte, auf brutalste Weise fast tot und stieß sie dann in ein Wasserloch, in dem sie starb. Der 1990 geborene Afonso Reis Cabral nahm sich zehn Jahre später diesen Fall vor, recherchierte und schrieb davon inspirierte seinen Roman Aber wir lieben dich, der 2019 den José Saramago Preis für junge Autor:innen gewann. Reis Cabral kleidete die Geschichte in eine Rahmenhandlung, in der einer der damals beteiligten Jungen mit Aufzeichnungen zu dem erzählenden Schriftsteller kommt und diesen bittet, daraus ein Buch zu machen.
Afonso Reis Cabral und sein Schriftsteller-Ich werten und kommentieren nicht, sondern überlassen ihrem einigermaßen unzuverlässigen Erzähler Rafa die Geschichte. Die Perspektive von Gisberta kommt darin nicht vor, ihre Geschichte nur in den Bruchstücken, die sie ihm erzählt hat. Der Roman ist nicht für sensible Gemüter, die beschriebene Gewalt schockierend, diskriminierende Sprache wird nicht ausgelassen. Afonso Reis Cabral gelingt damit aber ein äußerst packendes und erschütterndes Stück Literatur. Abgründig, sozialkritisch und, obwohl die Handlung von Anfang an bekannt ist, sehr spannend.
Dulce Maria Cardoso – Die Rückkehr
Der 15jährige Rui, Erzähler in Dulce Maria Cardosos Roman, ist ein „Retornado“, einer der Rückkehrer aus der ehemaligen Kolonie Angola nach Portugal, die durch die Gewalt im auf die Unabhängigkeit folgenden Bürgerkrieg vertrieben wurden. Lange hielt der Vater die Familie von der Flucht ab, glaubte, dass sich die Lage bald beruhigen würde. Irgendwann wird er verhaftet und verschleppt. Rui, seine Schwester und die Mutter fliehen daraufhin ins „Mutterland“, nach Lissabon. Sehr bald müssen sie erkennen, dass das oft glorifizierte „Mutterland“ rückständig und bettelarm ist, dass die Bevölkerung sie nicht willkommen heißt, ja, sie geradezu verachtet als „Sklavenhalter“, als hätten die Portugiesen selbst keinerlei Anteil an ihrer Kolonialgeschichte.
So einfach ist es bei Dulce Maria Cardoso, ebenfalls eine Retornada, wenn der Roman auch nicht autobiografisch ist, nicht. Sie lässt Ambivalenzen zu, urteilt nicht, keine Anklage, kein Schwarz-Weiß (wie auf dem sehr gelungenen Cover), sondern viele Grauzonen. So wird Die Rückkehr zu einen wichtigen Zeitdokument und einem packenden, auch literarisch sehr gelungenen Roman.
José Luís Peixoto – Galveias
1984, in einer kalten Januarnacht lässt José Luís Peixoto ein „Ding“, man kann vermuten einen Meteoriten, in ein kleines Dorf in Portugals Alentejo-Region einschlagen. Gleich im ersten Kapitel treten eine Fülle von Personen, meist nur schlaglichtartig, wie in einem Wimmelbild auf. Dann zoomt der Autor nah heran an einzelne der Protagonisten und begleitet das Geschehen im Dorf über die nächsten neun Monate bis in den September. Viele der Figuren sind nicht unbedingt sympathisch, besonders die stets lüsternen, den Machismo lebenden Männer nicht. Es ist die Zeit zwischen dem Ende der Diktatur und dem Eintritt Portugals in die EU, der besonders in der ländlichen Abgeschiedenheit viel verändert hat. Landflucht und Versteppung sind heute die zentralen Probleme im Süden Portugals. Deshalb vielleicht noch einmal der nostalgische, aber nicht verklärende Blick darauf. Das Ganze liest sich sehr amüsant, teilweise derb und unterhaltsam.
In den nächsten Tagen geht es weiter mit portugiesischen Autoren. Wenn ihr noch einen Tipp dazu habt, gerne her damit! 😉 Ich wünsche euch einen schönen Restsommer!
Hallo Petra,
bezüglich der Tipps zu portugiesischer Literatur fiel mir spontan „Wohin der Wind uns weht“ von João Ricardo Pedro ein. Das Buch erschien im portugiesischen Original bereits vor zehn Jahren, war seinerzeit das Debüt des Autors, wurde von mir vor einigen Jahren gelesen und offensichtlich in guter Erinnerung behalten.
Es war etwas schwermütig und kein Gute-Laune-Buch, aber letztlich war das Einzige, was ich daran zu kritisieren hatte, der irreführende Klappentext. 🙂
Liebe Grüße
Frank
Lieber Frank, Wohin der Wind uns weht war bisher auch eines meiner mageren vier Bücher aus Portugal. Ich glaube, ich war damals etwas gespalten in Urteil. Es gibt auf jeden Fall noch viel zu entdecken. Auch von Sarramago möchte ich noch einiges lesen. Viele Grüße, Petra