Der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin erlebt seit ein paar Jahren eine völlig verdiente und längst überfällige (Wieder)Entdeckung, was nicht nur der verblüffenden Aktualität seiner Texte, gerade auch vor dem Hintergrund der Black Lives Matter-Bewegung, sondern auch den hervorragenden Übersetzungen durch Miriam Mandelkow zu verdanken ist. Ich habe bereits einen längeren Blogbeitrag über die bisher bei dtv neu veröffentlichten Bücher von James Baldwin geschrieben, nun erscheint endlich mit Von einem Sohn dieses Landes der zweite Band mit Essays.
„Endlich“, weil meine erste Begegnung mit dem Autor tatsächlich über einen Text hieraus verlief. In Fremder im Dorf schrieb Baldwin über seine Aufenthalte im kleinen schweizerischen Dorf Leukerbad, wo er zwischen 1951 und 1953 dreimal verweilte, u.a. um seinen ersten Roman, Von dieser Welt, zu vollenden. Wie ein Schaf in der Wüste war das Radiofeature des SRF betitelt, das mir den Autor Baldwin, von dem ich lediglich den Namen kannte, näherbrachte und mein Interesse an ihm weckte. Das Feature ist auch heute noch unter diesem Link zu erreichen.
„Allem Anschein nach hatte vor mir noch nie ein Schwarzer dieses kleine Schweizer Dorf betreten.“
Fremder im dorf
So beginnt der letzte Essay in Von einem Sohn dieses Landes, in dem James Baldwin in seiner unvergleichlichen Art voll Offenheit und Fassungslosigkeit, sowohl mit Härte als auch Empathie, schonungslos analytisch den Umgang der Dörfler mit und ihre Reaktion auf ihn beschreibt. Diese Reaktion gleicht eher derjenigen auf ein exotisches, nie zuvor gesehenes Tier als der auf einen unbekannten Mitmenschen. Und so rufen die Dorfkinder ihm ein fröhliches, „argloses“ N-Wort hinterher wann immer sie ihn sehen.
„Kein Weg wird Amerikaner zur Schlichtheit dieses europäischen Dorfs zurückführen, in dem Weiße noch immer den Luxus genießen, mich als Fremden zu betrachten.“
Dieser „Luxus“ ist schon lange verlorengegangen. Und es gilt für Weiße überall, was Baldwin als Kernproblem der weißen Amerikaner identifizierte, nämlich dass sie „einen Weg finden müssen, mit den schwarzen Amerikanern zu leben, damit sie mit sich selbst leben können.“
Das Verhältnis von Weißen und Schwarzen ist auch in diesem Essay das beherrschende Thema. Dabei spricht er auch sehr aktuelle Punkte an.
„Ich sage, die Kultur dieser Menschen beherrscht mich – aber sie können schwerlich für die europäische Kultur verantwortlich gemacht werden. (…)Von der Warte der Macht ausbetrachtet können diese Menschen nirgendwo auf der Welt Fremde sein; genau genommen haben sie die moderne Welt erschaffen, ob sie es nun wissen oder nicht. (…) Noch die ungebildetsten unter ihnen sind auf eine mir verwehrte Weise mit Dante, Shakespeare, Michelangelo, Aeschylus, Da Vinci, Rembrandt und Racine verwandt;(…) Vor wenigen Jahrhunderten erstrahlten sie in vollem Glanz – ich aber bin in Afrika und sehe die Eroberer kommen.“
Die Zeit in Frankreich
Alle Essays drehen sich um Identität und rassistische Zuschreibungen und entstanden zwischen 1948 und 1955. 1948 ging James Baldwin nach Paris, da er nach eigener Aussage den Rassismus in den USA nicht mehr ertrug. Neben Fremder im Dorf erzählen noch drei weitere Essays über seine Zeit in Europa, vornehmlich in der französischen Hauptstadt Paris. Besonders bitter empfand Baldwin hier, wo auch viele Afrikaner aus den ehemaligen französischen Kolonien lebten, dass er im Gegensatz zu diesen kein „Dort“, also keine Schwarze Heimat besitzt. Seine Heimat ist ein Amerika, das für Menschen mit seiner Hautfarbe keine Heimat sein will, wo er sich stets als „der Andere“ empfand.
„Ich liebe Amerika mehr als jedes andere Land auf der Welt, und genau aus dem Grund nehme ich mir heraus, es unablässig zu kritisieren.“
Aus derselben Zeit stammt aber auch eine sehr ironische, fast launige Episode, in der er einmal wegen der Nutzung eines von einem Bekannten aus einem Pariser Hotel entwendeten Bettlakens acht Tage im Gefängnis landete.
Kernstücke des Bandes Von einem Sohn dieses Landes sind sicher die Essays, mit denen sich James Baldwin direkt auf sich und seine Familie bezieht. Eines behandelt sein Aufwachsen in Harlem und das dort herrschende Verhältnis zwischen Schwarzen und Juden, eines erzählt von der Tour, die seine in einem Musikquartett auftretenden Brüder mit der Progressive Party in den Süden der USA nach Atlanta unternahmen, und der titelgebende, vielleicht intensivste Essay kreist um seinen Vater bzw. Stiefvater, mit dem ihn ein schwieriges Verhältnis verband, das auch Inspiration für seinen ersten Roman Von dieser Welt war, und der 1943 starb.
Literaturkritik
In den drei ersten Essays beschäftigt sich James Baldwin mit der negativen Besprechung des Buchs „Onkel Toms Hütte“ und des Films „Carmen Jones“ und einer Kritik an seinem literarischen Ziehvater Richard Wright und dessen Buch „Native Son“. Für Leser:innen, die diese drei Werke nicht kennen, sind diese Texte eher wenig interessant, wobei spannend ist, wie Baldwin in letztem in die Rolle eines weißen Betrachters schlüpft.
„Indem wir die Schwarzen entmenschlichen, entmenschlichen wir uns selbst: ihnen die Identität abzusprechen, hat zwangsläufig den Preis, unsere eigene zu verlieren.“
Wie Mithu Sanyal in ihrem Vorwort betont, war „James Baldwins „Wir“ immer ein „Wir Amerikaner“. Nicht „Wie Schwarze Amerikaner“, sondern „Wir alle.“
Zentrale und wichtigste Texte sind für mich Von einem Sohn dieses Landes und Fremder im Dorf , bei dem James Baldwin scharf, aber immer mit dem ihm eigenen warmen, menschenfreundlichen Blick auf das Thema „Schwarze Identität“, das Zusammenleben von Weißen und Schwarzen und die Überwindung von Rassismus schaut. Präzise und rhythmisch sprachlich gefasst, sind viele Gedanken dazu heute noch so aktuell wie vor siebzig Jahren.
„Die Welt ist nicht mehr weiß, und sie wird es nie mehr sein.“
Mithu Sanyal hat ein Vorwort zu dieser Ausgabe geschrieben und Miriam Mandelkow ein Nachwort, in dem sie auf ihre Methode der Übersetzung von problematischen Begriffen eingeht. In meinen Augen ist ihr das hervorragend und einfühlsam gelungen.
Beitragsbild: James Baldwin am Albert Memorial by Allan Warren, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
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