Literatur aus Portugal Teil 1

Fernando Pessoa (1888–1935), der Literaturnobelpreisträger von 1998 José Saramago (1922–2010) und António Lobo Antunes (*1942) sind die Autoren, die dem Lesepublikum beim Stichwort Literatur aus Portugal vielleicht als Erstes einfallen. Wenn man zeitlich etwas zurück geht, dann kommen vielleicht noch die Namen José Maria Eça de Queiroz (1845–1900), der „portugiesische Zola“, oder der Nationaldichter Luís de Camões (1524/25–1579/80), der 1572 das Epos „Die Lusíaden“ schrieb und dem portugiesischen Kulturzentrum seinen Namen schenkte, entsprechend unseren Goethe-Instituten, in den Sinn.

Portugal ist kein klassisches Leseland, bis zum Ende der faschistischen Diktatur durch die Nelkenrevolution 1974 wurde die Bildung, besonders auch von Mädchen, sehr vernachlässigt. Auch heute ist Portugal bei der Alphabetisierungsrate Schlusslicht in Europa. Engagierte Verlage, Autor:innen und Initiativen versuchen, der Literatur mehr Stellenwert zu verschaffen.

Obwohl ich nach zwei längeren Aufenthalten in den 1980er Jahren ein starkes Faible für Portugal besitze, standen in meinen Regalen bisher tatsächlich auch weniger als eine Handvoll Romane aus dem Land an Europas westlicher Peripherie. Durch das Gastland-Thema zur dann doch nur in sehr reduzierter Form stattfindenden Leipziger Buchmesse 2022 hat sich das zum Glück endlich geändert. Ich habe ein paar großartige Autor:innen vor Ort erleben dürfen und ganz tolle Romane gelesen. In diesem und einem weiteren Beitrag möchte ich euch gern ein wenig von der aktuellen Literatur aus Portugal vorstellen.

 

 Afonso Reis Cabral Aber wir lieben dichAfonso Reis Cabral – Aber wir lieben dich

Es ist ein wahrer Kriminalfall, der 2006 ganz Portugal erschütterte. Eine Gruppe von zwölf Minderjährigen schlug damals in Porto die aidskranke, heroinabhängige undobdachlose, aus Brasilien stammende Transfrau Gisberta Salce Júnior, die sich in sehr schlechtem Gesundheitszusatnd in den Keller einer Bauruine zurückgezogen hatte, auf brutalste Weise fast tot und stieß sie dann in ein Wasserloch, in dem sie starb. Der 1990 geborene Afonso Reis Cabral nahm sich zehn Jahre später diesen Fall vor, recherchierte und schrieb davon inspiriert seinen Roman Aber wir lieben dich, der 2019 den José Saramago Preis für junge Autor:innen gewann.

Reis Cabral kleidet die Geschichte in eine Rahmenhandlung, in der einer der damals beteiligten Jungen mit Aufzeichnungen zu dem erzählenden Schriftsteller kommt und diesen bittet, daraus ein Buch zu machen. Das ist geschickt gewählt, da der Autor die Perspektive dieses Rafaels einnehmen kann, ohne für dessen damals elfjähriges Ich zu sprechen. Rafa lebt in einer „Jugendhilfeanstalt“ in Porto, die einen sehr fragwürdigen Umgang mit ihren Zöglingen pflegt. Wenn diese hin und wieder in der Schule vorbeischauen und abends pünktlich im Bett liegen, ist das schon genügend Fürsorge und Aufsichtspflicht. Ansonsten machen die Jungen, was sie wollen. Rafa zieht mit seinen Freunden Samuel und Nélson am liebsten an „verlorene Orte“ oder „Dreckslöcher“ und hängt dort ab. Vor dem älteren Fabio haben die drei ein wenig Angst und mit Mädchen erproben sie ihre erwachende Sexualität.

In einem dieser „Dreckslöcher“, der Bauruine, die einmal das Einkaufszentrum Pão de Açúcar werden sollte und in der Rafa ein demoliertes Fahrrad verstecken will, entdeckt er eines Tages Gisberta. Diese ist schon sehr von ihrer Aids-Erkrankung gezeichnet und lebt dort unter unsäglichen Bedingungen. Die Jungen bringen ihr Essen, kümmern sich ein wenig um sie. Alle haben aber nie gelernt, Werte zu entwickeln oder mit ihren Gefühlen umzugehen. Gewalt oder Unterordnung sind in ihrer Welt oft die einzigen Ausdrucksmöglichkeiten. Und so schwanken sie auch jetzt zwischen Zuneigung, Ekel, Aggression, Faszination und Hass. Besonders Rafa fühlt widersprüchliche Gefühle, glaubt in Gisberta etwas wie eine Mutterfigur zu finden. Samuel kennt die Transfrau von früher. Das weckt in Rafa heftige Eifersuchtsgefühle, die ihn zu einem folgenschweren Entschluss führen.

Afonso Reis Cabral und sein Schriftsteller-Ich werten und kommentieren nicht, sondern überlassen ihrem einigermaßen unzuverlässigen Erzähler Rafa die Geschichte. Die Perspektive von Gisberta kommt darin nicht vor, ihre Geschichte nur in den Bruchstücken, die sie dem Jungen erzählt hat. Der Roman ist nichts für sensible Gemüter, die beschriebene Gewalt schockierend, diskriminierende Sprache wird nicht ausgelassen. Afonso Reis Cabral gelingt damit aber ein äußerst packendes und erschütterndes Stück Literatur. Abgründig, sozialkritisch und, obwohl die Handlung von Anfang an bekannt ist, sehr spannend.

 

 

dulce-maria-cardoso-die-rueckkehrDulce Maria Cardoso – Die Rückkehr

1974 endete mit der Nelkenrevolution gegen den Diktator Salazar auch die Kolonialzeit Portugals. Das autoritäre Regime hatte sich besonders lange gegen die Unabhängigkeit seiner Kolonien gewehrt, 1975 wurden endlich auch u.a. Mozambik und Angola entkolonisiert. In Angola kam es daraufhin zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Befreiungbewegungen, der mit Unterbrechungen bis 2002 andauerte und der schätzungsweise 500.000 Menschenleben forderte. Von Portugal wurde die Aufarbeitung seiner Kolonialgeschichte lange verdrängt, besonders auch was seinen Umgang mit der halben Million sogenannter „Retornados“ betraf, den portugiesischstämmigen Weißen, die Angola infolge der Unruhen dort zum Teil überstürzt verlassen mussten.

Der 15jährige Rui, Erzähler in Dulce Maria Cardosos Roman, ist einer davon. Lange hielt der Vater die Familie von der Flucht ab, glaubte, dass sich die Lage bald beruhigen würde. Irgendwann wird er verhaftet und verschleppt. Rui, seine Schwester und die Mutter fliehen daraufhin ins „Mutterland“, nach Lissabon. Jeder nur mit einem kleinen Koffer und wenig Bargeld ausgestattet, von den in Portugal lebenden Verwandten auf Abstand gehalten, kommen sie in einem Hotel mit anderen Retornados unter. Sehr bald müssen sie erkennen, dass das oft glorifizierte „Mutterland“ rückständig und bettelarm ist, dass die Bevölkerung sie nicht willkommen heißt, ja, sie geradezu verachtet, als „Sklavenhalter“ beschimpft, als hätten die Portugiesen selbst keinerlei Anteil an ihrer Kolonialgeschichte.

Für Rui, der sich mitten in der Pubertät befindet, mit seiner erwachenden Sexualität zu tun hat, sich Vorwürfe macht, weil er bei der Verhaftung seines Vaters dabei war, ohne etwas tun zu können, bedeutet der Verlust der Heimat, der Freunde und aller Gewissheiten einen massiven Bruch in der Biografie, ja fast ein Trauma. Ungefiltert kommen seine Aversionen gegen die „Pretos“ (ähnlich dikriminierend gemeint wie das deutsche N-Wort), seine anerzogene Misogynie, aber auch seine Verunsicherung und die Überforderung, als Vaterersatz für seine psychisch kranke Mutter und die Schwester zu sorgen, zutage. Dulce Maria Cardoso kratzt damit am Mythos der „friedlichen Nelkenrevolution“, den Portugal gepflegt hat und an dessen Umgang mit den „Rückkehrern“, denen man allein durch diese Bezeichnung den Opferstatus absprach und sie allein in die Täterrolle der Kolonialisten drängte.

So einfach ist es bei Dulce Maria Cardoso, ebenfalls eine Retornada, wenn der Roman auch nicht autobiografisch ist, nicht. Sie lässt Ambivalenzen zu, urteilt nicht, keine Anklage, kein Schwarz-Weiß (wie auf dem sehr gelungenen Cover), sondern viele Grauzonen. So wird Die Rückkehr zu einen wichtigen Zeitdokument und einem packenden, auch literarisch sehr gelungenen Roman. Sehr überzeugend übersetzt von Steven Uhly und in einer haptisch und gestalterisch sehr ansprechenden Ausgabe im Secession Verlag. Unbedingt empfehlenswert und es ist zu hoffen, dass nach diesem ersten noch weitere Romane von Dulce Maria Cardoso ins Deutsche übertragen werden.

 

José Luís Peixoto - GalveiasJosé Luís Peixoto – Galveias

In diesem Roman springen wir zehn Jahre nach vorne. 10 Jahre sind seit dem Ende der Salazar-Diktatur und der Nelkenrevolution vergangen. 1984, in einer kalten Januarnacht lässt José Luís Peixoto ein „Ding“, man kann vermuten einen Meteoriten, in ein kleines Dorf in Portugals Alentejo-Region einschlagen. Ein riesiger Krater entsteht außerhalb des Dorfkerns auf den Felder, ein ekelerregender, alles durchdringender Schwefelgestank verbreitet sich – sonst keine Opfer, sieht man mal von dem armen Ti Ramiro Chapa ab, den der Tod in der Erste-Hilfe-Station ereilt. Gleich im ersten Kapitel treten eine Fülle von Personen, meist nur schlaglichtartig, auf. Es sind laut Autor José Luís Peixoto 100, wie in einem Wimmelbild scharen sie sich am Unglücksort und den Straßen des Dorfs Galveias zusammen. Galveias ist der Geburtsort Peixotos und er wollte möglichst viele der Einwohner, natürlich nicht 1:1, aber mit ihren kleinen Eigenheiten, verewigen.

Vom Wimmelbild zoomt der Autor im Folgenden nah heran an einzelne der Protagonisten und begleitet das Geschehen im Dorf über die nächsten neun Monate bis in den September. Mit einer gewissen Nostalgie – der Autor bemüht zwar keine kindliche Erzählstimme und bleibt in der auktorialen Position, aber gewiss spielen persönliche Kindheitserinnerungen hinein – erzählt er von eigenwilligen, im streng patriarchalen und abgelegen-dörflichen Umfeld verorteten Menschen. Viele davon sind nicht unbedingt sympathisch, besonders die stets lüsternen, den Machismo lebenden Männer nicht. Einige der Protagonisten werden am Ende tot sein, einige getrennt, andere (wieder)vereint, ein Kind wird geboren. Und mit ihm endet auch endlich der Gestank und der permanente Schwefelgeschmack, den die Bäckerei des Dorfs (die zugleich ein Bordell ist), zuvor bei ihren Backwaren einfach nicht los wird.

Es ist die Zeit zwischen dem Ende der Diktatur und dem Eintritt Portugals in die EU, der besonders in der ländlichen Abgeschiedenheit viel verändert hat. Landflucht und Versteppung sind heute die zentralen Probleme im Süden Portugals. Deshalb vielleicht noch einmal der nostalgische, aber nicht verklärende Blick darauf. Dennoch gibt es über alle Landes- und Zeitgrenzen hinweg auch globale Gemeinsamkeiten im Landleben, wie der Autor bei Lesungen im Ausland immer wieder feststellt. Und auch in Galveias ist die Kolonialgeschichte und die Kriege in ihrer Folge, wenn auch nur in einer kurzen Episode, präsent, etwa wenn eine der Figuren zum Kriegsdienst nach Guinea-Bissau muss und dort unerwartete Wurzeln schlägt.

Der Roman liest sich, auch in der hervorragenden Übersetzung von Ilse Dick, sehr amüsant, teilweise derb und unterhaltsam. Der Einschlag aus dem Universum bringt im Mikrokosmos Dorf einiges durcheinander. Ein wenig fehlt mir ein übergeordnetes Thema, ein Schicksal oder eine Geschichte, an der man sich festhalten könnte. So bleibt es ein virtuos verknüpftes Wimmelbild mit mehr oder weniger nebeneinanderher verlaufenden Episoden. Aber so ist das ja auch im richtigen Leben. Zumindest war es das, auf einem kleinen Fleck irgendwo im Alentejo, Mitte der 1980er Jahre.

 

Yara Nakahanda Monteiro, Michael Kegler Schwerkraft der TränenYara Nakahanda Monteiro – Schwerkraft der Tränen

Schwerkraft der Tränen ist ein seltsam zweigeteiltes Buch, wobei diese Zweiteilung nicht gekennzeichnet ist und völlig unmittelbar erfolgt. In den ersten zwei Dritteln des Textes lässt die 1979 in Angola geborenen und in Nordportugal aufgewachsene Autorin ihre Protagonistin Vítoria erzählen. Diese befindet sich auf der Flucht vor einer Vernunftehe, die sie beinahe mit ihrem schwulen Freund auf Druck der Eltern bzw. Großeltern eingegangen wäre. Ein wenig ist es sicher auch eine Flucht aus ihrer Liebesbeziehung zu Catarina.

Nun ist sie Hals über Kopf auf dem Weg nach Angola, dorthin, wo sie geboren wurde und von wo ihre Großeltern Elisa und António Queiroz da Fonseca mit ihr als kaum Zweijähriger vor dem Bürgerkriegsunruhen in Folge der Unabhängigkeit des Landes 1980 geflohen sind. Elisa und António – eine damals ungewöhnliche Ehe zwischen der Weißen und dem Schwarzen Kaffeefarmer. Besonders an ihren Großvater denkt Vitória mit großer Zärtlichkeit und ein wenig schlechtem Gewissen. Die Großeltern haben sie großgezogen, nachdem ihre Mutter Rosa Chitula 1965 in den bewaffneten Widerstand gegangen und verschollen ist. Nur einmal kam sie zurück, um ihren Eltern die kleine Vítoria auszuhändigen. Vítorias Reise ist vor allem auch eine Suche nach der Mutter.

In Luanda soll ihr eine Freundin ihrer Tante weiterhelfen. Die Nachforschungen gestalten sich aber schwierig, es bleibt Zeit, die widersprüchliche Metropole, die mittlerweile zu den teuersten Städten der Welt, mit einem ausgeprägten Nachtleben zählt, gleichzeitig aber auch von unbeschreiblicher Armut, Unsicherheit und Gewalt erfüllt ist, zu erkunden. Ein Hinweis bringt Vítoria schließlich zu einer alten Kampfgefährtin ihrer Mutter nach Huambo. Hier erfährt sie ihren wahren Namen, Wayula, und entdeckt ihre afrikanischen Wurzeln neu, was sich z.B. dadurch äußert, dass sie ihre langen, glatten Haare abschneidet. Innerlich entfernt sie sich immer mehr von Portugal.

Dieser erste Teil des Romans ist sehr gut erzählt, interessant, einfühlsam und spannend. Dann geschieht ein unverhoffter und unangekündigter Bruch. Plötzlich erzählt nicht mehr Vítoria, sondern eine andere Erzählinstanz. Yara Monteiro erklärte dies in einem Interview so: „An diesem Punkt habe ich die Perspektive geändert, weil Schwarze Frauen nicht die Chance haben, ihre Geschichte zu erzählen, also musste jemand sie für sie erzählen.“ Mich hat der Perspektivwechsel nicht nur irritiert, sondern auch seine Motivation nicht überzeugt. Vor allem, weil ich das letzte Drittel des Romans auch erzählerisch viel schwächer finde. Es geschieht ein entsetzliches Unglück, dessen Ausmaß, Umsetzung und sprachliche Fassung ich schlichtweg missglückt finde.

Das ist äußerst schade, da ich den Beginn des Romans wirklich sehr stark finde. Die Vorgänge während des Bürgerkriegs, die Situation der Großeltern, die keine „Retornados“, sondern angolanische Flüchtlinge waren, das Thema weiblicher Kämpferinnen im Bürgerkrieg, Vítorias Selbstfindungsprozess – alles sehr überzeugend mit einer Schilderung Angolas und Luandas heute verknüpft. Schwerkraft der Tränen ist Monteiros Debütroman. Ich würde gern noch weitere, dann vielleicht noch ausgereiftere Texte der Autorin lesen.

 

Teil 2 meiner kleinen Reihe zur Literatur aus portugiesischsprachigen Ländern findet ihr hier.

2 Gedanken zu „Literatur aus Portugal Teil 1

    1. Ja, bei Tabucchi bin ich immer nicht so sicher. Italiener, aber lange Zeit in Portugal lebend, schreibt er ja wirklich portugiesische Romane. Und Erklärt Perreira ist überhaupt eines meiner Lebensbücher. Danke, dass du nochmal daruf hinweist. Viele Grüße!

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