Im Rahmen der dann doch noch ausgefallenen Leipziger Buchmesse 2022, waren einige der geplanten Autor:innen zum Glück trotzdem angereist. In Veranstaltungen auf dem Blauen Sofa, im Literaturhaus Leipzig und der Schaubühne Lindenfels konnte man zumindest zehn portugiesischsprachige Schriftsteller:innen erleben, was ich gerne nutzte und so Dulce Maria Cardoso, Yara Nakahanda Monteiro und José Louis Peixoto (deren Bücher stelle ich in Literatur aus Portugal Teil 1 vor), Tatiana Salem Levy, Carla Bessa und Djaimilia Pereira de Almeida kennenlernte. Mein bisher sehr spärlich bestücktes Regal mit Literatur aus Portugal kann sich seitdem sehen lassen, hier folgt Teil 2.
Tatiana Salem Levy – Vista Chinesa
Hohe, dunkle Bäume, die zum Himmel aufragen, deren Kronen sich in der Mitte beinahe treffen, eine Sicht von unten, als würde man auf dem Rücken liegen und nach oben schauen – das Cover von Vista Chinesa ist reichlich düster und taucht auch im Buchinneren mehrmals wieder auf. Eine Perspektive, die vielleicht jener ähnelt, die der jungen Architektin Júlia aufgezwungen wurde, als sie ein Mann auf ihrer Joggingrunde durch den Nationalpark Tijuca am Rande von Rio de Janeiro hoch zum Aussichtspunkt Vista Chinesa mit der Waffe am Kopf ins Walddickicht zerrte und stundenlang vergewaltigte. Júlia überlebte, schwer traumatisiert. Júlia ist das Alter Ego einer Freundin von Tatiana Salem Levy, die dieses furchtbare Verbrechen erlebte und es ihr zur Fiktionalisierung in ihrem schmalen, packenden Roman Vista chinesa überließ.
Gerade war es noch ein ziemlich unbeschwertes Leben in der gehobenen Mittelklasse. Warnungen von den Eltern, den Freundinnen, dem Freund Michel gab es genug: Geh nicht allein joggen, Rio ist ein gefährlicher Ort. Aber bisher war nie etwas passiert, waren am Vormittag immer Menschen unterwegs. Júlias Leben läuft gerade gut. Sie hat einen Auftrag für das Hauptgebäude des olympischen Golfgeländes erhalten. Auch Brasilien ist im hoffnungsfrohen Aufbruch.
Es ist 2014, die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land steht vor der Tür, 2016 sollen die Olympschen Spiele folgen, die Welt schaut auf Brasilien. Wie wenig sich die Hoffnungen erfüllt haben, welche Rückschritte das Land in jüngerer Zeit gemacht hat, wissen wir heute. Die Kriminalitätsrate ist immer noch eine der weltweit höchsten. 2021 wurden 52.000 Frauen vergewaltigt, alle zehn Minuten eine, 1319 Frauen bezahlten mit ihrem Leben. Júlia hat überlebt. Aber Schmerz, Ekel, Verzweiflung, Todesangst und Scham sind auch noch Jehre später fast ständig präsent.
Mittlerweile sind Júlia und Michel verheiratet und Eltern von fünfjährigen Zwillingen, Antonia und Martim. Ihnen schreibt Júlia in einem Brief über die schlimmsten Stunden ihres Lebens. Ein etwas merkwürdiges Unternehmen und sie glaubt selbst nicht, dass sie ihnen den Brief jemals geben wird. Aber er will geschrieben werden, Júlia erhofft sich davon Abstand. Sie schreibt über ihr Leben heute, wie präsent die Vergewaltigung immer noch ist, nähert sich in atemloser Prosa dem Geschehen selbst (ich bin eigentlich keine Freundin von Triggerwarnungen, aber hier wird wirklich alles sehr intensiv geschildert), erzählt von den Ermittlungen, wie die anfängliche Rücksichtnahme der Polizei zunehmend in Ungeduld umschlug, und bleibt bei allem Schmerz auch immer hoffnungsvoll, schildert, wie sie ihr Leben und ihre Liebe zu Michel, und auch ihr Sexualleben, wiedereroberte.
Tatiana Salem Levy erzählt einfühlsam und verstörend, schonungslos und behutsam, schmerzhaft und wahrhaftig von diesem alles erschütternden Erlebnis. Aus der genauen persönlichen Geschichte macht sie eine der kollektiven weiblichen Erfahrung. Das ist ihr großartig gelungen. Ein wirklich herausragender Roman in vorzüglicher Übersetzung durch Marianne Gareis.
Isabela Figueiredo – Die Dicke
Die Dicke ist Autofiktion, mehr Memoir als Roman, auch wenn die Protagonistin Maria-Luisa heißt und nicht Isabela. Verständlich, denn mit welcher Radikalität und Offenheit die Autorin hier ihr Aufwachsen und Leben als „dicke“ Frau beschreibt, ist verblüffend. Der Roman bricht ebenso Tabus wie ihr 2009 in Portugal erschienenes Buch über „Mosambik am Ende der Kolonialzeit“ (Deutsch 2019 Roter Staub). So wie sie damals die jahrzehntelang in Portugal herrschende Weigerung, offen über die Kolonialzeit zu sprechen, und das gepflegte Narrativ vom „soften Kolonialismus Portugals“ aufbrach, so offen spricht sie in Die Dicke über die Ausgrenzung von Körpern, die offensichtlich nicht dem „Standard“-Ideal entsprechen und welche Traumatisierung das hinterlassen kann. Dabei spielt die Kolonialvergangenheit auch hier eine Rolle und Isabela Figueiredo möchte das Buch auch als zweiten Teil nach Roter Staub verstanden wissen.
Maria Luisa ist wie die Autorin 1963 in Mosambik geboren und wurde 1975 mit Ausbruch des Bürgerkriegs nach der Unabhängigkeit von den Eltern zur Tante nach Portugal geschickt. Sie selbst wollten das Land trotz der Gefahr nicht verlassen und kehrten erst 1985 zurück. Maria Luisa besucht in Portugal ein Kolleg und erfährt dort die ganze Grausamkeit sozialer Ächtung durch ihre Mitschülerinnen, die sie als „Retornada“ verachten, sie aber auch wegen ihrer zunehmenden Körperfülle ausgrenzen. Zur Kompensation ihrer Einsamkeit, zum Trost, als Schutzwall futtert sich Maria-Luisa etliche Kilos an. Sie ist „Die Dicke“, auch wenn sie über Jahre eine durchaus glückliche Liebesbeziehung zu David hat (der sich aber nie wirklich zu ihr bekennt, wenn sich seine Freunde über Maria-Luisa lästern), auch nachdem sie später durch eine Magenverkleinerung 40 Kilo leichter ist. So schnell ändert sich die Einstellung zum eigenen Körper nicht.
Mehr noch als ein Roman über die Kolonialgeschichte Portugals oder das Dicksein ist das Buch für mich eines über das Verhältnis zu den Eltern. Die sehr ambivalente und doch durch große Liebe(ssehnsucht) geprägte Beziehung zieht sich durchs ganze Buch. Dieses ist nicht fortlaufend chronologisch erzählt, sondern durch den Grundriss der elterlichen Wohnung geordnet. Die Kapitel sind nach einzelnen Räumen benannt und in jedem davon setzt Isabela Figueiredo erneut mit ihrer Geschichte an, gibt ihr andere Schwerpunkte. Das Erzählte überlappt und vertieft sich dadurch.
Eine sehr interessante und gelungene formale Gestaltung. Dennoch konnte mich das Buch nicht restlos überzeugen. Der Schwerpunkt lag für meinen Geschmack zu sehr auf der Körperlichkeit (auch wenn das natürlich durch das Thema gerechtfertigt ist). Die komplexe Beziehung zu David und anderen Männern steht mir zu sehr im Mittelpunkt und wird zu sehr auf den Sex reduziert. Wer Maria-Luisa neben ihrer Körperlichkeit und ihrem steten Verlangen nach Essen und Sex ist, hätte mehr Raum einnehmen dürfen. So kommt für mich das bestimmende Verhältnis zu den Eltern, deren Prägung durch die Kolonialgeschichte und der anhaltende Rassismus besonders des Vaters inhaltlich leider zu kurz.
Carla Bessa – Urubus
Urubus, das sind die stattlichen brasilianischen Aasgeier. Sie kreisen, auch zu Beginn des schmalen Erzählungsbands von Carla Bessa, über einer Müllkippe in Rio de Janeiro. Diese Eingangsgeschichte zieht uns mit ihrer Drastik tief hinein ins Erzählte und ein klein wenig kreisen auch wir Leser:innen fortan über den 17 Geschichten, die wie in einem Reigen die zunächst vereinzelt erscheinenden Episoden durch ihre Protagonisten und durch die geschilderten Ereignisse verbinden und auf sehr kunstvolle Weise zu einer Art Roman verstrickt werden.
Die Straßenkinder, die in der ersten Geschichte auf der stinkenden Mülldeponie ihrer Favela im toxischen, schwarzen Schlick nach Verwertbarem suchen, kommen in einer der folgenden Geschichte in Streit mit einem alten Herrn. Der eine Junge ersticht diesen in der Folge. Zeugin ist eine Frau mit einem Bündel, die in den Bus von Fahrer Wellington steigt, der den beiden Straßenkindern vor der Nase wegfährt und kurz darauf Opfer eines Überfalls wird. Die Frau wiederum versenkt ihr Bündel im Meer und ertrinkt dabei fast, kommt danach ins Gespräch mit einem Kioskbesitzer, wo sie nebenbei, beim Plaudern über ein Kuchenrezept ihr tragisches Schicksal erinnert und so weiter.
Jede der Figuren kommt mit einer oder mehreren der anderen in Berührung, meist nur im Vorbeigehen. Man kennt das Prinzip. Carla Bessa gelingt dabei ein ganz eigener Ton, den sie in den einzelnen Episoden an ihr Personal anzupassen vermag. Sie bleibt dabei im Präsens, was den Geschichten eine besondere Eindringlichkeit verleiht und lässt viele Leerstellen, bleibt den Leser:innen manche Erklärung schuldig. Das führt zu einem soghaften Mosaikeffekt. Man möchte die Geschichten gern zusammensetzen, was meist aber nur teilweise gelingt. Was aber kein Manko ist, sondern den Text umso interessanter macht.
Hart und bitter sind die meisten der Erzählungen, die immer nur wenige Seiten umfassen, aber kleine Glücksmomente lassen sich auch finden. Es sind Momentaufnahmen vom Leben in Rio, Sozialkritik schwingt subtil im Hintergrund mit. Es ist aber auch generell ein Blick aufs Leben, seine Zufälligkeit, seine Verbundenheit, seine Tragik. Sehr empfehlenswert!
Djaimilia Pereira de Almeida – Im Auge der Pflanzen
Wie Dulce Maria Cardoso und Yara Monteiro besitzt auch Djaimilia Pereira de Almeida angolanische Wurzeln, wuchs aber in Portugal auf. In ihrem kurzen Roman Im Auge der Pflanzen greift sie, der vorangestellte Textauszug macht es deutlich, eine Figur aus dem Buch Raul Brandãos „Die Fischer“ (1923) auf und spinnt dessen Leben fort bzw. variiert es. Der alte Seemann Celestino, einst ein grausamer Pirat und Kapitän eines Sklavenschiffs, zieht am Ende seines Lebens ins kleine Haus seiner verstorbenen Mutter in die Nähe von Porto. Dort verwandelt er den verwilderten Garten in ein blühendes Paradies, dessen Pflanzen er liebevoll und zart umhegt und die ihm eine Art Familienersatz werden.
Frieden kann er dort bei Pereira de Almeida aber nicht wirklich finden, kehren doch immer wieder Menschen, denen er einst unglaubliche Grausamkeiten zugefügt hat, wie Geister zu ihm zurück. Er ist fast erblindet, schweift immer mehr in Delirien ab, Passagen in denen Traum und Wirklichkeit ineinandergleiten. Kurz vor der Jahrhundertwende, schaut er auf das kommende 20. Jahrhundert, das er nicht mehr erleben wird. Reue über seine Untaten scheint er nicht zu empfinden. Im Gegenteil schürt er die Angst der Dorfbevölkerung noch mit gräulichen Geschichten über seine „Heldentaten“. Was davon wahr ist, was Fiktion, kann man höchstens ahnen.
Djaimilia Pereira de Almeida thematisiert mit ihrer Geschichte die Kolonialgeschichte und die lange Zeit fehlende Auseinandersetzung Portugals mit deren dunklen Seiten. Sie wählt dafür einen sehr lyrischen, barocken Ton, voll mit (nicht immer verfangenden) Metaphern und satten Bildern. Ihr gelingt damit ein sehr poetischer Text vom Sterben eines alten, einsamen Mannes. Sprachlich war mir das aber oft zu wenig konkret. Das ist aber sicher Geschmacksache.
Einen weiteren Überblick über portugiesischsprachige Literatur bietet mein Teil 1 dazu. Romane von Afonso Reis Cabral, Dulce Maria Cardoso, Yara Nakajanda Monteiro und José Louis Peixoto.