Bereits 2006 erhielt der in New York als Leiter des dortigen Instituto Cervantes tätige Spanier Eduardo Lago für seinen Debütroman Brooklyn soll mein Name sein zwei hochrangige Literaturpreise, den Premio Nadal und den Premio de la Crítica de narrativa castellana. Nun ist das so herausfordernde wie verspielte Werk, wohl auch Dank des angekündigten Gastlandauftritts Spaniens bei der Frankfurter Buchmesse, endlich auch auf Deutsch in der Übersetzung von Guillermo Aparicio im Kröner Verlag erschienen. Ich hoffe sehr, dass es nicht das letzte übersetzte Buch des James-Joyce- Kenners Lago, der seit 2011 wieder am Sarah Lawrence College unterrichtet, bleiben wird.
Die Struktur von Brooklyn soll mein Name sein ist einigermaßen kompliziert, passend zum komplexen Inhalt. Dennoch liest sich das Buch sehr gut, braucht aber durchaus ein wenig Konzentration. Ein dankenswerterweise beigefügter sechsseitiger Anhang mit Namensliste und eine Zeittafel erleichtern die Orientierung. In einem Nachwort erläutert Eduardo Lago seinen Schreibprozess und die durchaus vorhandenen autobiografischen Bezüge.
Metafiktion
Brooklyn soll mein Name sein ist ein metafiktionaler Text, der seinen Entstehungsprozess stets mitreflektiert, ihn gleichzeitig aber auch fiktionalisiert, ohne reine Spielerei zu sein. Lagos Vorbilder mögen neben James Joyce Jorge Luis Borges und Julio Cortázar gewesen sein, weiter zurückreichend auch Cervantes und Bocchaccio, Bezüge zu ihnen allen finden sich im Text. Labyrinthisch und formal virtuos leitet Lago die Leser:innen durch seinen vielstimmigen Roman, bei dem man sich immer wieder die verschiedenen Erzähler:innen und Zeitebenen vergegenwärtigen muss. Das klingt nach mehr Lesearbeit als es sich dann tatsächlich anfühlt. Brooklyn soll mein Name sein zu lesen ist vor allem ein großes (ein wenig intellektuelles) Vergnügen.
Gal Ackermans Kindheit und der Spanische Bürgerkrieg
Der Roman beginnt 1991 mit dem Tod von Gal Ackerman. Der Journalist Néstor Olivera-Chapman, der Ackerman einige Jahre zuvor kennengelernt hat, sortiert dessen Nachlass und komplettiert die vorgefundenen Manuskripte, Briefe, Notizen, Zeitungsausschnitte, Tagebucheinträge, Kurzgeschichten und unvollständige Entwürfen zum von Ackerman geplanten Buch „Brooklyn“. Dieses hinterlegt er an Ackermans Grab auf dem kleinen Dänischen Friedhof an der Küste von Fenners Point, wo einst Schiffbrüchige beigesetzt wurden.
Mit der Arbeit von Néstor und seinen Recherchen reisen die Leser:innen bis ins Jahr 1858 zurück, in dem Gals Urgroßvater geboren wird und als Einwanderer in Amerika Fuß fasst. Mit seinem Großvater David, der für den Brooklyn Eagle Kolumnen über die New Yorker Stadtteile schreibt, streift der kleine Gal durch die Stadt und häufig nach Coney Island. Als er 14 Jahre alt ist, erfährt er, dass sein Vater Ben und seine Mutter Lucia nicht seine leiblichen Eltern sind. Diese hatten einst mit der Lincoln Brigade am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen und als Gals leibliche Mutter Teresa Quintana dort als republikanische Kämpferin getötet wurde, nahmen sie Gal als Baby mit nach Amerika.
Die Liebe zu Nadja Orlov und die Oakland-Bar
Neben der Familiengeschichte, die sich aus Gals Aufzeichnungen und nachgelassenen Materialien zusammensetzt, ist Gals gescheiterte Liebe zu Nadja Orlov ein zentrales Thema im Buch. Gal wird sich von der Trennung nie ganz erholen. Die Tochter Nadjas wird später im Roman noch eine Rolle spielen. Ein wichtiger Schauplatz von Brooklyn soll mein Name sein ist die Oakland Bar an der Atlantic Avenue, die Eduardo Lago an der von spanischen Emigranten geführten Bar Montero angelehnt hat. Hier lernt Néstor Gal kennen, der Inhaber Frank Otero, wird zum Freund und die Stammgäste der Kneipe werden zu Protagonisten.
Neben der zentralen Familiengeschichte, in die die Geschichte des Spanischen Bürgerkriegs und hier besonders die der Internationalen Brigaden verwoben ist, der Liebesgeschichte und der Hommage an Brooklyn blitzen noch unendlich viele kleine Episoden auf. Beispielsweise über das berühmte Chelsea Hotel, den Selbstmord des Malers Mark Rothko, die Hinrichtung der Anarchisten Sacco&Vanzetti, linke Bewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einen verliebten Seemann, den Kleinwüchsigen Raul und und und. Was davon real, was fiktiv ist, spielt im Endeffekt keine Rolle.
Eduardo Lago hat mit Brooklyn soll mein Name sein ein herrlich vielstimmiges, melancholisch grundiertes, aber sehr lebendiges, labyrinthisch verschlungenes, poetisches und feinsinniges Meisterwerk gegen das Verschwinden der Zeit geschrieben. Gegen das Verschwinden von Menschen, Orten, Lieben und liebgewonnenen Erinnerungen. Über Freundschaft und Liebe. So wie Gal Ackermans Aufzeichnungen diese Dinge vor dem Vergessen bewahren wollen, hält sie Eduardo Lago in seinem Roman fest. Wunderbar!
Weitere Besprechungen bei Marius Buch-Haltung, Leseschatz und (sehr kritisch und ich widerspreche natürlich vehement 😉 ) beim Bookster HRO
Beitragsbild: Streets of Brooklyn by Maria Eklind (CC BY-SA 2.0) via Flickr
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Eduardo Lago – Brooklyn soll mein Name sein
aus dem Spanischen von Guillermo Aparicio, in Zusammenarbeit mit Carlos Singer
Kröner Verlag September 2021, 464 Seiten, Halbleinen mit Lesebändchen, 25,00 EUR