Was für ein außergewöhnliches, wundersames Buch, das 2020 den Europäischen Literaturpreis erhielt und ein erfolgreicher Bestseller wurde. Die junge katalanische Autorin Irene Solá springt in ihrem Roman Singe ich, tanzen die Berge durch Jahrhunderte spanischer Geschichte und lässt nicht nur der Hexenverfolgung zum Opfer gefallene heilkundige Frauen erzählen, sondern auch einen Hund, einen Rehbock, einen Bär und die Totentrompeten, die zur Familie der Stoppelpilzverwandten gehören. Ja sogar den Gewitterwolken und – ziemlich in der Mitte des Buchs – den Bergen der Pyrenäen, die über ihre Entstehung sinnieren, verleiht die Autorin eine Stimme.
Es beginnt mit einem Gewitter. Während die Wolken wild und beschwingt, sorg- und gewissenlos wie kleine Kinder über die Berge brausen, wird der Bauer Domènec beim Versuch, eines seiner Kälber aus einem Drahtzaun zu befreien, vom Blitz erschlagen. Zurück bleiben seine Frau Sío und die kleinen Kinder Mia und Hilari. Um diese Familie und die Nachbarn des von ihnen bewohnten Haus Matavaques, nahe eines kleinen Bergdorfs bei Camprodon, tief in den spanischen Pyrenäen und unweit der französischen Grenze, kreisen die meisten Episoden des vielstimmigen, mosaikartigen Romans.
Pyrenäen
Die Landschaft der einsamen, kargen Bergdörfer ist nicht nur voll von Mythen und Legenden und der magischen Kraft der Natur, sondern auch geprägt von einer grausamen Last der Geschichte. Von den Hexenverfolgungen im 16./17. Jahrhundert war schon die Rede. Aber auch andere Geister spuken hier herum, deren Schicksal bis in die Gegenwart reicht. Während des Spanischen Bürgerkriegs flüchteten viele Republikaner in die Pyrenäen und, als der Sieg Francos 1939 besiegelt war, über die Berge nach Frankreich. Auch in Irene Solás Roman findet das seinen Niederschlag.
Zentrale Geschichte, falls man davon überhaupt sprechen kann, ist aber der tragische Tod Domènecs und seines Sohns Hilari viele Jahre später, als der bei einem Jagdunfall von seinem Freund Jaume erschossen wird. Jaume, der Freund und große Liebe von dessen Schwester Mia war. Am Ende werden die zunächst etwas unzusammenhängend erscheinenden Episoden zu einem einheitlichen Ganzen verwoben, ein äußerst kunstvolles Gewebe, in das auch z.B. die Legende der Pyrene, Namensgeberin der Bergkette zwischen Frankreich und Spanien, und zahlreiche andere Geschichten integriert sind.
Tollkühner Roman
Singe ich, tanzen die Berge von Irene Solá kreist auch um ganz grundsätzliche Fragen: um Leben und Tod, erzählt vom Umgang der Menschen mit der Natur, dem Gegensatz von Stadt und Land und nimmt teils auch surreale Züge an. Das ist komplex und originell. Irene Solá findet für die wechselnden Erzählstimmen immer den passenden Erzählton und geht mit Zeitsprüngen und Perspektivwechseln wunderbar leicht und sorglos um. Tatsächlich weiß man lange nicht, in welcher Zeit man sich findet, wirkt die Geschichte wirklich zeitlos, dann tauchen plötzlich Fernseher und Auto auf. Genauso dauert es manchmal ein wenig, bis man in den unterschiedlichen Kapiteln gewahr wird, wer hier eigentlich spricht.
Irene Solá ist aber eine so versierte Erzählerin, dass sie die Leser:innen souverän und mit viel Lesefreude durch diesen tollkühnen, wilden Roman führt und Singe ich, tanzen die Berge hat völlig verdient 2020 den Europäischen Literaturpreis erhalten.
Andere Stimmen zum Buch beim Bookster HRO und bei Seitenhinweis
Beitragsbild: via Pixabay
_____________________________________________________
*Werbung*
Irene Solá – Singe ich, tanzen die Berge
Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann
Trabanten Verlag März 2022, 208 Seiten, Hardcover mit Leseband, € 22,00