Elena Medel – Die Wunder

Bereits mit 17 Jahren veröffentlichte sie, Jahrgang 1985, Gedichte und leitet mittlerweile einen eigenen Lyrikverlag. 2020 gelang Elena Medel dann ein Riesenerfolg mit ihrem Debütroman, der in 15 Sprachen übersetzt wurde und nun als Die Wunder in der Übersetzung von Susanne Lange auch auf Deutsch vorliegt, rechtzeitig zum Gastlandauftritt Spaniens bei der Frankfurter Buchmesse im Oktober. Für idiesen feministischen Gesellschaftsroman über die jüngere Geschichte Spaniens erhielt Medel als erste Frau überhaupt 2020 den renommierten Premio Francisco Umbral.

Zwei Frauengenerationen, Großmutter und Enkelin, die auf den ersten Blick ein ähnliches Schicksal teilen: beide gehen allein fort aus ihrer Heimat Andalusien und schlagen sich in Madrid mehr schlecht als recht in prekären Jobs durch und kämpfen täglich gegen ihre Armut. Auf den zweiten Blick unterscheiden sich die Lebenswege der beiden Frauen allerdings sehr. Beide haben sich auch nie kennengelernt, ahnen nur vom Leben der anderen.

Maria

Maria muss ihren Heimatort in den 1960er Jahren verlassen, nachdem sie ein uneheliches Kind auf die Welt gebracht hat. Nach den rigiden Moralvorstellungen im Süden Spaniens unter Diktator Franco und dem Einfluss einer strengen katholischen Kirche, ist Maria ein „gefallenes Mädchen“. Ihre Eltern schicken sie fort, um in der Hauptstadt Geld zu verdienen und damit für den Unterhalt ihrer Tochter Carmen aufzukommen. Außerdem wollen sie die aus dem Weg haben, die ihr Ehrgefühl verletzt hat und Veranlassung zu ständigem Gerede in der Nachbarschaft gibt. In Madrid bieten sich der schlecht ausgebildeten Maria nur unterbezahlte Hilfsjobs in der Pflege oder als Reinigungskraft. Ein schweres Leben, zumal sich ihre Tochter ihr völlig entfremdet, der Kontakt zu ihr bald ganz abreißt.

Dennoch ist Maria keine schwache, keine geschlagene Gestalt. Die Sympathie, die sie bei den Leser:innen vielleicht durch die Abwendung von ihrem Kind verloren haben könnte, verdient sie sich im Lauf des Romans durch ihre Stärke, ihren Stolz, ihren Bildungshunger und ihr Klassenbewusstsein zurück. Sie bleibt (auch geistig) unabhängig, führt mit ihrem Lebensgefährten Pedro eine gleichberechtigte Partnerschaft, engagiert sich in Bürgerinitiativen und entwickelt ein waches politisches Bewusstsein. Der Aufstieg gelingt ihr nicht wirklich, da lässt Elena Medel in Die Wunder kein solches geschehen, aber sie zeigt, dass die soziale Herkunft zwar den Lebensweg meist vorzeichnet, jeder aber Möglichkeiten der Ausgestaltung besitzt.

Alicia

Enkelin Alicia, die Tochter von Carmen, hat ganz andere Erfahrungen gemacht. Ihr Leben verlief eigentlich bestens. Der Vater war mit mehreren Restaurants erfolgreich, über Geld mussten sie und ihre Mutter sich nie Gedanken machen. Bis zum Suizid ihres Vater, der hoffnungslos überschuldet war. Die fantasierten Bilder seines Todes verfolgen Alicia seitdem im Traum. Der Tristesse des sozialen Abstiegs ihrer Mutter will sie durch einen Umzug nach Madrid und ein Studium dort entkommen. Das gelingt ihr nicht, stattdessen schlägt sie sich mit einem prekären Job in einem Kiosk am Bahnhof Atocha durch, geht eine Ehe mit einem ungeliebten Mann ein, der ihr aber soziale Sicherheit bietet. Die Weltwirtschaftskrise, die Spanien ganz besonders hart erwischt, tut ihr übriges. Alicia, deren Schicksal eigentlich berühren sollte, bleibt der Leserin dabei wegen ihrer arroganten, schwierigen, oft herablassenden Art eher unsympathisch.

Beide Frauen kämpfen gegen die Armut, die Frauen oft ganz besonders hart trifft. Beide Schicksale verweisen die Erzählung vom sozialen Aufstieg ins Reich der Legenden. Beide zeigen, wie wenig der gesellschaftliche Wandel an den Zwängen, denen viele Frauen unterliegen, grundsätzlich geändert hat. Der Umgang mit dem jeweiligen Schicksal ist aber grundlegend anders. Und legt die These nahe, dass heutige Frauengenerationen unter Umständen eher weniger emanzipiert handeln als vorangegangene. Eine These, die durchaus diskussionswürdig ist. Beim großen Frauenstreik am 8. März 2018 in Madrid begegnen sich Maria und Alicia unwissentlich. Bezeichnend, dass Maria aktiv und Alicia nur zufällig vor Ort ist.

Klar und illusionslos, differenziert und aussagestark erzählt Elena Medel in Die Wunder die Geschichten von Maria und Alicia, und mit ihnen von vielen Frauen in Spanien. Und schreibt einen sehr empfehlenswerten, aktuellen Roman.

 

Sandra Falke hat das Buch auch bereits besprochen

Beitragsbild: Demo Madrid 08.03.2018 by Marilin Gonzalo (CC BY-NC-ND 2.0) via flickr

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Elena Medel - Die Wunder

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Elena Medel – Die Wunder
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Suhrkamp August 2022, Fester Einband mit Schutzumschlag, 221 Seiten, € 23,00

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