Die letzten beiden Monate waren so arbeitsintensiv, dass ich tatsächlich den Monats-Lektüre Beitrag für den August 2022 vergessen habe und auch der September verspätet kommt. Deshalb folgen nun zwei Monate im Doppelpack.
Vielleicht hat es der eine oder die andere schon gelesen, dass ich die Ehre habe, dieses Jahr in der Jury zum NDR-Schbuchpreis mitwirken und über das „Sachbuch des Jahres 2022“ (dotiert mit 15.000 Euro) mitentscheiden darf. Zehn Sachbücher stehen zur Auswahl, die erst einmal gelesen werden wollten. Die Shorlist wird am 28. Oktober veröffentlicht und der Preis am 3. November in Göttingen verliehen. Es sind wirklich tolle Titel darunter, ich habe sie auf Instagram bereits gezeigt, ihr dürft gespannt sein.
Noch eine Ehre (also auch ein Doppelpack) ist, dass ich dieses Jahr den Bayrischen Buchpreis begleiten darf. Auch hier sechs tolle Titel, die vor Publikum am 10. November in München von der Jury diskutiert und gekürt werden.
Gelesen habe ich also jede Menge. Hinzu kam noch eine Blogpartnerschaft mit hr2 Kultur im Bereich Hörbuch/Hörspiel. Auch das eine wunderbare Aufgabe.
Aber hier nun meine Lektüre von August und September 2022:
August
Isabela Figueiredo – Die Dicke
Djaimilia Pereira de Almeida – Im Auge der Pflanzen
Tatiana Salem Levy – Vista Chinesa
Carla Bessa – Urubus
Yara Nakahanda Monteiro – Schwerkraft der Tränen
Diese fünf portugiesischsprachigen Romane habe ich in zwei speziellen Beiträgen besprochen. Teil 1 und Teil 2
Eduardo Lago – Brooklyn soll mein Name sein
Eine wirkliche Entdeckung war für mich Eduardo Lago. Bereits 2006 erhielt der Spanier für seinen Debütroman Brooklyn soll mein Name sein zwei hochrangige Literaturpreise, den Premio Nadal und den Premio de la Crítica de narrativa castellana. Nun ist das so herausfordernde wie verspielte Werk, endlich auch auf Deutsch erschienen. Eduardo Lago hat mit Brooklyn soll mein Name sein ein herrlich vielstimmiges, melancholisch grundiertes, aber sehr lebendiges, labyrinthisch verschlungenes, poetisches und feinsinniges Meisterwerk gegen das Verschwinden der Zeit geschrieben. Gegen das Verschwinden von Menschen, Orten, Lieben und liebgewonnenen Erinnerungen.
Elvira Sastre – Die Tage ohne dich
Die 1992 geborene Elvira Sastre ist ein sogenannter „literarischer Superstar“, zumindest in ihrer Heimat Spanien. Tausende besuchen die Auftritte der Poetry-Slammerin, die wie richtige Events gestaltet sind.
Die Geschichte der Großmutter Dora, die als Republikanerin in den Zeiten des Spanischen Bürgerkriegs als Lehrerin und Privatperson leiden musste, die ihren Mann verlor und sich danach mit ihrem Sohn allein durchschlagen musste, die Unfähigkeit auch der Spanischen Demokratie nach den Tod Francos, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und die Tatsache, dass immer noch Opfer des Bürgerkriegs unauffindbar sind – all das hätte mich sehr interessiert. Leider wird das alles nur gestreift und überlagert von einer bzw. zwei pathetischen Liebesgeschichten. Für mich waren Die Tage ohne dich aber selbst als leichte Urlaubslektüre zu seicht.
Najat El Hachmi – Am Montag werden sie uns lieben
Am Montag werden sie uns lieben, so die Hoffnung der Mädchen in den gesichtslosen Vorstädten Barcelonas, deren Eltern aus Nordafrika stammen und ihren Töchtern viele der dortigen Verhaltensregeln aufzwingen. Beispielsweise die bei Mädchen und Frauen sowieso sehr verbreitete Annahme, sich Liebe durch Wohlverhalten und Anpassung verdienen zu müssen. Und durch Schönheit. Nie ist es genug, nie sind sie gut genug. Das signalisieren gerade die Väter, nachdem die Mädchen in die Pubertät gelangen. Das signalisiert auch das „westliche“ Umfeld mit seinem Schönheits- und Optimierungswahn.
Najat El Hachmi erzählt davon sehr eindringlich und überzeugend in einem Brief/Monolog, gerichtet von einer jungen Frau an ihre ehemalige Freundin.
Irene Solá – Singe ich, tanzen die Berge
Die junge katalanische Autorin Irene Solá springt in ihrem Roman Singe ich, tanzen die Berge durch Jahrhunderte spanischer/katalanischer Geschichte und lässt nicht nur der Hexenverfolgung zum Opfer gefallene heilkundige Frauen erzählen, sondern auch einen Hund, einen Rehbock, einen Bär und die Totentrompeten, die zur Familie der Stoppelpilzverwandten gehören. Ja sogar den Gewitterwolken und – ziemlich in der Mitte des Buchs – den Bergen der Pyrenäen, die über ihre Entstehung sinnieren, verleiht die Autorin dieses vielstimmigen, mosaikartigen Romans eine Stimme. Am Ende werden die zunächst etwas unzusammenhängend erscheinenden Episoden zu einem einheitlichen Ganzen verwoben, zu einem äußerst kunstvollen Gewebe. Das ist komplex und originell. Irene Solá findet dabei für die wechselnden Erzählstimmen immer den passenden Erzählton und geht mit Zeitsprüngen und Perspektivwechseln wunderbar leicht und sorglos um. Eine tolle Entdeckung, die 2020 den Europäischen Literaturpreis völlig verdient erhalten hat.
Sarah Jäger – Schnabeltier deluxe
Für Die Nacht so groß wie wir, die Geschichte einer Abitursfeier-Nacht, die zugleich eine einfühlsame Freundschaftsgeschichte ist, wurde Sarah Jäger für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 in der Kategorie Jugendbuch nominiert. Und nun erscheint Schnabeltier deluxe.
Hier geht es um Kim. Und Kim hat ein sogenanntes „Aggressionsproblem“. Die Mutter fühlt sich irgendwann überfordert, genauso wie die Lehrer:innen. Und so kommen sie auf die Idee, Kim zu Renée, dem Ex-Freund der Mutter zu schicken. In ein Dorf mit 3000 Seelen, einer lausigen Busanbindung und einer ziemlich feindseligen Tante, die mit Renée zusammen wohnt. Klingt alles nicht sehr verlockend. Und doch wird die Zeit dort zu einem überraschenden Neustart. Und Kim lernt Janne kennen…
Die Figuren, die Sarah Jäger auch in Schnabeltier deluxe so vielschichtig und psychologisch stimmig schafft, bleiben im Gedächtnis und haben mein Herz im Sturm erobert. Ein Roman deluxe.
Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee
In zahlreichen Interviews hat Ralf Rothmann nicht verheimlicht, dass sein Verhältnis zur Mutter immer ein schwieriges war.
Nun versucht er, mit Die Nacht unterm Schnee, ein Buch, das die Vorgänger Im Frühling sterben und Der Gott jenes Sommers zur Trilogie weitet, auch ihre Geschichte zu erzählen.
Als 17jährige floh die Mutter mit ihrer Mutter, der Großmutter und den Brüdern vor der vorrückenden russischen Armee aus Westpreußen und kam auf dem Hofgut, auf dem Walter Rothmann als Melker arbeitete, unter. Wir sind ihr in der Figur der Elisabeth Isbahner in den beiden vorangegangenen Büchern bereits begegnet. Für Die Nacht unterm Schnee wählt Ralf Rothmann eine ebenfalls vertraute Person als Erzählerin: Luisa Norff, das junge, aus dem bombardierten Kiel evakuierte Mädchen, das mit seiner Mutter auf dem Hof Zuflucht findet und die Hauptprotagonistin in Der Gott jenes Sommers ist. Eine Erzählperspektive, die dem Autor ein wenig mehr Distanz zur Geschichte seiner Mutter gewährt. Eine von Krieg und Flucht geprägte Geschichte, vom Schweigen über die Vergangenheit und erlittene Traumata, von Alltagstristesse und Betäubung von Schmerz und Sehnsucht. Von diesen gescheiterten Leben, von dieser transgenerationalen Leidvererbung zu lesen, ist erschütternd und intensiv. Ein meisterhafter Abschluss der Trilogie.
September
Patrick Modiano – Unterwegs nach Chevreuse
Es gibt Autor:innen, von denen ich wirklich alles lese. Eine:r davon ist der Franzose Patrick Modiano. Und das nicht erst nach dem Literaturnobelpreis 2014.
Seine stete Variation des einen großen Themas – Erinnerung, Vergessen, Fakten und Fiktion und das Schreiben darüber -, die Verankerung in Ort und Zeit – Paris und sein Umland, Savoyen, Côte d’Azur; die 1940er, 1960er, die Gegenwart – und die oft wiederkehrenden Details machen die wiederholte Lektüre Modianos zu einem faszinierenden Puzzlespiel, das einen eigentümlichen Sog ausübt. Auch nach Unterwegs nach Chevreuse (und mittlerweile fast 30 Romanen) ist dieses Puzzle noch nicht komplett. Zum Glück!
Dominique Fortier – Städte aus Papier
Emily Dickinson gilt heute als eine der bedeutendsten und einflussreichsten Dichterinnen Amerikas. Doch von Emily als Person ist recht wenig bekannt. Es gibt neben den Dichtungen zahlreiche Briefe, aber sie lebte sehr zurückgezogen, bis zu ihrem Tod im Elternhaus in Amherst/Massachussets. Für nachfolgende Generationen war sie oft die “Verschrobene”, die “Depressive”, die einsame Junggesellin, die nie heiratete, Familie hatte, sich freiwillig immer mehr in die Einsamkeit zurückzog. Fortier nähert sich ihr anhand ihrer Gedichte, Briefe, ihres liebevoll gepflegten Herbariums poetisch, diskret, füllt die vielen Leerstellen in ihrem Leben feinfühlig und bedächtig.
Julia Wolf – Alte Mädchen
Dreimal drei Frauenschicksale – einmal drei hochbetagte Damen im Seniorenheim, einmal drei Frauen auf der Autobahn Richtung Polen, einmal drei Kindheitsfreundinnen um die Dreißig, die ihr Wiedersehen feiern. Julia Wolf tippt in Alte Mädchen viele verschiedene Themen an, ohne dass das Buch dadurch überfrachtet erscheint. Sie bietet den Leser:innen viel Raum für eigene Gedanken und Assoziationen und sicher würde man bei einer wiederholten Lektüre noch mehr entdecken. Formal ist das Buch durchaus anspruchsvoll. Die 1980 geborene Julia Wolf schafft ein Panorama deutscher Weiblichkeit mit nicht ganz untypischen Vertreterinnen dreier Generationen, bei aller Schwere der Themen dennoch auch leicht und mit viel Humor. Die Last der deutschen Geschichte ist bei allen, in natürlich unterschiedlicher Form, spürbar. Ein Roman, der noch lange nachhallt. Und für dessen Manuskript Julia Wolf 2018 den Robert-Gernhardt-Preis erhielt.
hr2 Kultur hat mit Sprecherin Melanie Straub aus Alte Mädchen ein Hörbuch produziert, das noch bis 12. November in der ARD-Mediathek ungekürzt und kostenlos nachgehört werden kann.
Malla Nunn – Ist die Erde hart
Ort der Handlung ist Swasiland, zur Zeit der Handlung 1965 noch britisches Protektorat, und man kann davon ausgehen, dass einiges an Autobiografischem in diesen Roman eingeflossen ist.
Adele Joubert besucht ein christliches Internat für, wie man damals einteilte, “Mischlinge”. Unter den Schüler:innen herrscht eine strenge Hierarchie, in der Adele recht weit oben mitmischt. Aber seitdem die reiche Sandi Cardoza der neue Star der Schule ist, wollen ihre ehemaligen Freundinnen nichts mehr von ihr wissen. Und ausgerechnet mit Lottie Diamond soll sie sich zukünftig ein Zimmer teilen. Lottie, die kaum ihr Schulgeld zusammenbekommt, die “eine aus dem Busch” ist.
Eigentlich eine klassische Coming-of-age- und Internatsgeschichte, macht Malla Nunn aus Ist die Erde hart in ihrer klaren, unspektakulären Sprache einen Roman über die Apartheid, über das Aufwachsen darin, über Rassismus, Freundschaft und Solidarität. Und nicht zuletzt ist es auch ein feministisches Buch. Es sind die Frauen, die den Laden am Laufen halten, auch wenn sie noch weit von Emanzipation entfernt und gnadenlos auf Wohlwollen und finanzielle Zuwendung ihrer “Männer” angewiesen sind. Aber: “Ist die Erde hart, tanzen die Frauen.”
Åsa Larsson – Wer ohne Sünde ist
Seit 2003 lässt Åsa Larsson ihre etwas kantige Staatsanwältin Rebekka Martinsson zusammen mit der Polizeikommissarin Anna-Maria Mella im hohen Norden Schwedens, in Kiruna, 200 km nördlich des Polarkreises, ermitteln. Mehr noch als in ihren vorherigen Kriminalromanen legt Larsson im aktuellen Fall den Schwerpunkt auf die Lebensgeschichten ihrer Protagonisten. Es beginnt mit dem Lebensüberdruss der vor Kurzem in die Rente verabschiedeten Krankenschwester Ragnild Pekkari. Ihren Plan, ihrem Leben ein Ende zu bereiten durchkreuzt ein Anruf. Der Lebensmittelhändler meldet sich, dass er ihren Bruder Henry nun schon seit einiger Zeit nicht zu Gesicht bekommen hat. Ob ihm woll etwas zugestoßen sei? Und tatsächlich findet sie Henry tot vor. Und nicht nur das. In seiner Tiefkühltruhe liegt eine weitere Leiche. Mafiöse Verstrickungen, Korruption, Betrug, Menschen- und Drogenhandel – es geht wieder sehr kriminell zu im hohen Norden. Ein spannender, stimmiger Abschluss der Serie.
Wolfgang Schiffer – Dass die Erde einen Buckel werfe
Erinnerungen an eine entbehrungsreiche Kindheit, an die Eltern, die Landschaft am Niederrhein. Sieben Wochentage, sieben Abschnitte, die jeweils ein längeres Gedicht von Wolfgang Schiffer enthalten. Nachdenken über den Vater, die Mutter, sich selbst als jungem, ungeduldigem Menschen. Der Versuch, in den Dialog zu treten, auch lange nach dem Tod der Eltern. Und eine Konfrontation mit dem eigenen Altern, der Welt, die sich beständig ändert und der Katastrophe entgegentrudelt. Auch und vor allem durch unsere eigene, uneinsichtige Spezies. Lamento und Eingeständnis. Dieses leise, melancholische Buch sei jeder Leserin, jedem Leser ans Herz gelegt, auch solchen, die mit Lyrik sonst eher fremdeln.
Zwei Frauengenerationen, Großmutter und Enkelin, die auf den ersten Blick ein ähnliches Schicksal teilen: beide gehen allein fort aus ihrer Heimat Andalusien und schlagen sich in Madrid mehr schlecht als recht in prekären Jobs durch und kämpfen täglich gegen ihre Armut. Auf den zweiten Blick unterscheiden sich die Lebenswege der beiden Frauen allerdings sehr. Beide haben sich auch nie kennengelernt, ahnen nur vom Leben der anderen. Beide Schicksale verweisen die Erzählung vom sozialen Aufstieg ins Reich der Legenden. Beide zeigen, wie wenig der gesellschaftliche Wandel an den Zwängen, denen viele Frauen unterliegen, grundsätzlich geändert hat. Klar und illusionslos, differenziert und aussagestark erzählt Elena Medel in Die Wunder die Geschichten von Maria und Alicia, und mit ihnen von vielen Frauen in Spanien. Und schreibt einen sehr empfehlenswerten, aktuellen Roman.
Zu den spanischen Romanen erscheint in den nächsten Tagen noch ein Sammelbeitrag anlässlich des Gastlandauftritts Spaniens bei der Frankfurter Buchmesse. Dort sind auch die in den vergangenen Monaten gelesenen Titel zu finden, ebenso wie diese beiden:
Vicente Valero – Krankenbesuche
Jesús Carrasco – Bring mich nach Hause
Was das Lesepensum betrifft, waren die beiden letzten Monate tatsächlich grenzwertig. Ich freue mich nun, wieder etwas kürzer zu treten, auch andere Blog-Projekte weiter zu verfolgen und natürlich die anstehenden Veranstaltungen, vor allem natürlich die Frankfurter Buchmesse, aber auch die beiden Preisverleihungen, genießen zu können. Ich nehme euch gerne mit. Seid gespannt!