Gastland der Frankfurter Buchmesse 2022 – Neuerscheinungen – Literatur aus Spanien
Nach den Pandemiejahren 2020 und 2021, die den Gastlandauftritt Spaniens um ein Jahr verschoben (Kanada konnte auf der unter eingeschränkten Corona-Bedingungen erst 2021 seinen Gastlandpavillon eröffnen), präsentieren nun unter dem Motto „Creatividad desbordande“ Verlage aus Spanien Neuerscheinungen aus den Bereichen Literatur, Sachbuch und Kinder/Jugendbuch in Frankfurt. Spanien ist ein starkes, vielfältiges Literaturland, das auch in meinen Regalen schon lange einen bedeutenden Platz einnimmt. 24,1 % der veröffentlichten Bücher sind in anderen Amtssprachen als Spanisch wie Galizisch, Katalanisch, Baskisch und anderen verfasst. Der Gastlandauftritt ist sehr weiblich geprägt. Besonders junge Autorinnen sind stark vertreten. Ein sehr umfassender, vielseitiger und interessanter Internetauftritt lädt zum Entdecken ein. Und auch ich möchte euch in einigen Beiträgen einladen, neue und ältere Literatur aus Spanien kenenzulernen.
EDUARDO LAGO – BROOKLYN SOLL MEIN NAME SEIN
Bereits 2006 erhielt der in New York als Leiter des dortigen Instituto Cervantes tätige Spanier Eduardo Lago für seinen Debütroman Brooklyn soll mein Name sein zwei hochrangige Literaturpreise, den Premio Nadal und den Premio de la Crítica de narrativa castellana. Nun ist das so herausfordernde wie verspielte Werk, wohl auch Dank des angekündigten Gastlandauftritts Spaniens bei der Frankfurter Buchmesse, endlich auch auf Deutsch in der Übersetzung von Guillermo Aparicio im Kröner Verlag erschienen.
Die Struktur des Romans ist einigermaßen kompliziert, passend zum komplexen, metafiktionalen Inhalt. Dennoch liest sich das Buch sehr gut, braucht aber durchaus ein wenig Konzentration. Der Roman beginnt 1991 mit dem Tod von Gal Ackerman. Der Journalist Néstor Olivera-Chapman, der Ackerman einige Jahre zuvor kennengelernt hat, sortiert dessen Nachlass und komplettiert die vorgefundenen Manuskripte, Briefe, Notizen, Zeitungsausschnitte, Tagebucheinträge, Kurzgeschichten und unvollständige Entwürfen zum von Ackerman geplanten Buch „Brooklyn“. Mit der Arbeit von Néstor und seinen Recherchen reisen die Leser:innen bis ins Jahr 1858 zurück, in dem Gals Urgroßvater geboren wird und als Einwanderer in Amerika Fuß fasst.
Neben der Familiengeschichte, die sich aus Gals Aufzeichnungen und nachgelassenen Materialien zusammensetzt, sind Gals gescheiterte Liebe zu Nadja Orlov, der Spanische Bürgerkrieg, die Oakland Bar an der Atlantic Avenue und natürlich Brooklyn selbst zentrale Motive der auf verschiedenen Zeitebenen und in wechselnden Perspektiven verfassten Episoden auf. Eduardo Lago hat mit Brooklyn soll mein Name sein ein herrlich vielstimmiges, melancholisch grundiertes, aber sehr lebendiges, labyrinthisch verschlungenes, poetisches und feinsinniges Meisterwerk gegen das Verschwinden der Zeit geschrieben. Gegen das Verschwinden von Menschen, Orten, Lieben und liebgewonnenen Erinnerungen. Über Freundschaft und Liebe. So wie Gal Ackermans Aufzeichnungen diese Dinge vor dem Vergessen bewahren wollen, hält sie Eduardo Lago in seinem Roman fest. Wunderbar!
ELVIRA SASTRE – DIE TAGE OHNE DICH
Die 1992 geborene Elvira Sastre ist ein sogenannter „literarischer Superstar“, zumindest in ihrer Heimat Spanien. Tausende besuchen die Auftritte der Poetry-Slammerin, die wie richtige Events gestaltet sind. Buchmessen-Gastland Spanien steht auch bei mir in den nächsten Wochen im Fokus und ihr Debütroman Die Tage ohne dich hat auch hierzulande gute Kritiken erhalten. Aber: ich hätte es wissen können. Bücher, die mit sechs Seiten Danksagungen enden, gefallen mir selten. Und die Liebe in Romanform hat es bei mir eh nicht leicht. Und sie ist es, um die Evira Sastre in hohen, oftmals auch pathetischen Tönen kreist.
Die Geschichte der Großmutter Dora, die als Republikanerin in den Zeiten des Spanischen Bürgerkriegs als Lehrerin und Privatperson leiden musste, die ihren Mann verlor und sich danach mit ihrem Sohn allein durchschlagen musste, die Unfähigkeit auch der Spanischen Demokratie nach den Tod Francos, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und die Tatsache, dass immer noch Opfer des Bürgerkriegs unauffindbar sind – all das hätte mich sehr interessiert. Das Buch wird damit auch beworben, aber all das wird leider nur gestreift und sehr oberflächlich behandelt. Auch bei Doras Geschichte steht die große, unsterbliche Liebe zu ihrem Mann im Mittelpunkt. Sie erzählt in ihren Abschnitten ihrem erwachsenen Enkel Gael, ihrem „Schatz“, davon. Und zwar in so hochgestimmten Worten, dass manch einer von Poesie sprechen mag, für mich ist es leider Kitsch. Besonders da Dora und ihr Mann derartige Lichtgestalten darstellen, dass sie für mich kaum greifbar sind.
Hinzu kommt dieses „Großmutter erzählt dem Enkelsohn von der Liebe“-Szenario, das allerlei Küchenpsychologie und Kalenderspruchartiges bemüht. Gael hat seinerseits am Zerbrechen seiner „großen Liebe“ zu Marta zu leiden, die ihn nach wenigen Monaten aus fadenscheinigen Gründen (schwieriges Verhältnis zum Vater, Bindungsängste, gähn) verlässt, obwohl sie ihn „so liebt“. Richtiges Mitgefühl an seinem breit ausgeführten Leiden mag bei mir nicht aufkommen, tut mir leid. Die mit Doras Erinnerungen alternierenden Gael-Kapitel, die die Hälfte des Romans einnehmen, mochte ich tatsächlich noch weniger.
Mag sein, dass ich nicht die Zielgruppe des Romans bin (zu alt, zu unromantisch, zu geschichtsinteressiert, zu kritisch). Man kann das Buch gut lesen, erste Orientierung über den Spanischen Bürgerkrieg zu vermitteln ist sicher auch eine gute Intention. Für mich waren Die Tage ohne dich aber selbst als leichte Urlaubslektüre zu seicht.
IRENE SOLÀ – SINGE ICH, TANZEN DIE BERGE
Die junge katalanische Autorin Irene Solá springt in ihrem Roman Singe ich, tanzen die Berge durch Jahrhunderte spanischer/katalanischer Geschichte und lässt nicht nur der Hexenverfolgung zum Opfer gefallene heilkundige Frauen erzählen, sondern auch einen Hund, einen Rehbock, einen Bär und die Totentrompeten, die zur Familie der Stoppelpilzverwandten gehören. Ja sogar den Gewitterwolken und – ziemlich in der Mitte des Buchs – den Bergen der Pyrenäen, die über ihre Entstehung sinnieren, verleiht die Autorin eine Stimme. Es beginnt mit einem Gewitter. Während die Wolken wild und beschwingt, sorg- und gewissenlos wie kleine Kinder über die Berge brausen, wird der Bauer Domènec beim Versuch, eines seiner Kälber aus einem Drahtzaun zu befreien, vom Blitz erschlagen.
Zurück bleiben seine Frau Sío und die kleinen Kinder Mia und Hilari. Um diese Familie und die Nachbarn des von ihnen bewohnten Haus Matavaques, nahe eines kleinen Bergdorfs bei Camprodon, tief in den spanischen Pyrenäen und unweit der französischen Grenze, kreisen die meisten Episoden des vielstimmigen, mosaikartigen Romans. Am Ende werden die zunächst etwas unzusammenhängend erscheinenden Episoden zu einem einheitlichen Ganzen verwoben, ein äußerst kunstvolles Gewebe. Der Roman kreist auch um ganz grundsätzliche Fragen: um Leben und Tod, erzählt vom Umgang der Menschen mit der Natur, dem Gegensatz von Stadt und Land und nimmt teils auch surreale Züge an. Das ist komplex und originell. Irene Solá findet dabei für die wechselnden Erzählstimmen immer den passenden Erzählton und geht mit Zeitsprüngen und Perspektivwechseln wunderbar leicht und sorglos um. Eine Entdeckung, die 2020 den Europäischen Literaturpreis völlig verdient erhalten hat.
NAJAT EL HACHMI – AM MONTAG WERDEN SIE UNS LIEBEN
Am Montag werden sie uns lieben, so die Hoffnung der Mädchen in den gesichtslosen Vorstädten Barcelonas, deren Eltern aus Nordafrika stammen und ihren Töchtern viele der dortigen Verhaltensregeln aufzwingen. Beispielsweise die bei Mädchen und Frauen sowieso sehr verbreitete Annahme, sich Liebe durch Wohlverhalten und Anpassung verdienen zu müssen. Und durch Schönheit. Nie ist es genug, nie sind sie gut genug. Das signalisieren gerade die Väter, nachdem die Mädchen in die Pubertät gelangen. Das signalisiert auch das „westliche“ Umfeld mit seinem Schönheits- und Optimierungswahn.
Najat El Hachmi erzählt davon sehr eindringlich und überzeugend in einem Brief/Monolog, gerichtet von einer jungen Frau an ihre ehemalige Freundin.
ELENA MEDEL – DIE WUNDER
Ein Debütroman, der es in sich hat. Zwei Frauengenerationen, Großmutter und Enkelin, die sich nicht kennen, gehen beide fort aus ihrem südspanischen Heimatdorf. Die Zeiten und Rahmenbedingungen sind andere, aber manches hat sich kaum verändert. Dazwischen steht die Mutter, die sich von der Großmutter verlassen fühlt, ihrerseits aber kein enges Verhältnis zur Tochter aufbauen kann. Und bei allen dreien immer wieder der Kampf gegen die Armut, die Frauen oft besonders hart trifft. Es geht auch um Klasse, um die Schwierigkeit eines sozialen Aufstiegs. Ein poetisches, feministisches, ein gelungenes Buch.
Dies ist Teil 1 einer kleinen Serie über Literatur aus Spanien. Hier standen Neuerscheinungen im Fokus, deren Übersetzungen ins Deutsche im Jahr des Gastlandauftritts Spaniens zur Frankfurter Buchmesse 2022 (oder kurz davor) erschienen.