Gastland der Frankfurter Buchmesse 2022 – Neuerscheinungen – Literatur aus Spanien
Javier Caercas – Die Erpressung
Der 1962 geborene Javier Cercas ist mit zeithistorischen, politischen Büchern wie „Die Soldaten von Salamis“oder „Anatomie eines Augenblicks“ bekannt geworden und hat sich immer wieder auch kritisch zu Wort gemeldet, u.a. als Gegner der katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Als Reaktion auf darauf folgende Anfeindungen begann er 2019 mit einer Krimitrilogie, die in der abgelegenen „Terra alta“ Kataloniens angesiedelt ist und mit Terra alta. Geschichte einer Rache recht blutige, ziemlich „männliche“, rachedurstige Geschichte erzählte. Der Kommissar Melchor Marin ist auch im zweiten Teil namens Die Erpressung Mittelpunkt der Ermittlungen. Und wieder ist auch seine Geschichte und die seiner ermordeten Mutter Thema und kommt ihm hier auch wieder besonders nah. Dabei wird die Vorgeschichte aus dem ersten Teil sehr geschickt eingebunden, so dass man das Buch – theoretisch – auch ohne diesen zu kennen lesen könnte. Allerdings macht es durchaus Sinn und erhöht sicher auch das Lesevergnügen.
Der zu bearbeitende Fall kreist diesmal um die – fiktive – Erpressung der Bürgermeisterin von Barcelona. Ein pikanter Fall, denn es geht um Sexvideos. Dahinter stehen bisher nicht aufgedeckte sexuelle Übergriffe, die von einer unglaublichen Misogynie zeugen. Wieder ist es ein eindeutig „männerlastiger“ Krimi, aber insgesamt war ich doch sehr positiv überrascht, dass der zweite Teil von Terra alta weniger brutal und rachedurstig daherkommt. Bis zum Ende, wo Javier Cercas wieder das ganz große Besteck auspackt – leider. Dennoch stehen auch diesmal Marins eigene, auch traumatische Geschichte und Cercas Kritik an den politischen Gegebenheiten in Katalonien und Spanien im Zentrum des Romans. Daneben verliert die Kriminalhandlung fast ein wenig an Bedeutung. Trotzdem: empfehlenswert!
Jesús Carrasco – Bring mich nach Hause
Der Vater ist gestorben, der lange abwesende Sohn kehrt aus dem fernen Edinburgh, wo er im botanischen Garten arbeitet statt zu studieren und sich ein neues Leben aufgebaut hat, nach Hause, nach Torrijos in der Provinz Toledo zurück. Es ist ein altbewährtes Thema, das Jesús Carrasco für seinen dritten Roman aufgreift. Juan konnte es nach der Schule kaum abwarten, der spanischen Provinz und seinem vom Vater erhofften Einstieg in die heimische Tischlerei zu entkommen. Ein Zurückkommen war nie angedacht und auch jetzt plant er nach spätestens einer Woche wieder in Schottland zu sein. Die Schwester Isabel, mit Familie in Barcelona lebend, aber schon seit Jahren ständig auf dem Sprung, um den Eltern zu helfen, wird sich sicher weiter kümmern. Doch diese fordert plötzlich, dass Juan Verantwortung übernimmt, denn sie wird für ein Jahr nach Amerika gehen. Und bei der Mutter ahnt man eine beginnende Demenz.
Juan fügt sich drein, akzeptiert seine neue Rolle, eher aus Trägheit als aus Einsicht, ist in seiner Ich-Bezogenehit durchaus ein eher schwieriger Charakter. Natürlich entwickelt sich Juans Charakter durch diese neue Verantwortung, kommt auch seiner mutter näher, baut die Bezeihung zum Kindheitsfreund Férmin wieder auf. Jesús Carrasco schafft es überraschenderweise, diese vorhersehbare Entwicklung keineswegs trivial oder platt zu erzählen. Genau hinschauend, empathisch und unsentimental greift er das Thema „Was tun, wenn die Eltern alt und hifsbedürftig werden?“ auf und schreibt darüber in einem warmherzigen, autobiografisch grundierten Roman.
Antonio Muñoz Molina – Tage ohne Cecilia
„Ich habe mich in dieser Stadt niedergelassen, um dort auf das Ende der Welt zu warten.“ So beginnt Antonio Muñoz Molina seinen Roman Tage ohne Cecilia. Ein Mann wartet. Und man beginnt früh zu ahnen, dass es ihm nicht viel anders ergehen wird als den berühmten Wartenden Estragon und Wladimir. Dennoch verfolgt man dieses Warten auf die Geliebte, Cecilia, mit großer Spannung und erfährt dabei einiges über den Ich-Erzähler, der einigermaßen unzuverlässig erscheint und den Leser:innen nicht alles zu offenbaren scheint, und sein Leben mit Cecilia.
Kennengelernt haben sich die Beiden in New York, wo sie gearbeitet und gelebt haben. Antonio Muñoz Molina hat selbst als Leiter des dortigen Instituto Cervantes gewirkt. Das Leben in Manhattan ist ihnen spätestens seit dem Terror von 9/11, den Cecilia beinahe hautnah miterlebt hat, verleidet. Die Angst, die Enge, der Schmutz – in einem Lissabonner Viertel haben sie sich eine Wohnung gekauft, in ihr wartet der Ich-Erzähler mit den schon eingetroffenen Möbeln ungeduldig auf seine Frau. Diese ist Neurowissenschaftlerin und forscht vor allem an Rattenhirnen. Sie sucht nach dem Sitz der Angst und erfahrener Traumata. Und diese teilweise unerträglich geschilderten Forschungen am Tier nehmen einen gewissen Teil des Romans ein. Für ihre Wissenschaft reist Cecilia durch die Welt, während der Erzähler von seiner New Yorker Bank vor die Türe gesetzt wurde. Die Weltwirtschafts- und Bankenkrise lässt grüßen. Nun sitzt er mehr oder weniger beschäftigungslos mit der Hündin Luria in der Lissabonner Wohnung, schaut auf den Tejo, streift durchs Viertel, sitzt in Cafés. Die tief und häufig auf ihrem Weg zum Flughafen über das Haus dröhnenden Flugzeuge sind erste Boten davon, dass das erhoffte Idyll mit Cecilia gefährdet sein könnte. Die sich andeutenden Klimakatastrophen und sich überstürzenden schlechten Nachrichten über Kriege, Fluchtbewegungen und reaktionäre politische Strömungen deuten für den Ich-Erzähler das Ende der Welt an.
Es passiert wenig auf den 272 Seiten des Buches, und doch ist man als Leser:in sehr gespannt, wie sich die Geschichte entwickeln wird. Man ahnt, dass Cecilia nicht so bald wie erhofft kommen wird, man stellt Mutmaßungen an. Wie der Roman dann schließlich endet, enttäuscht allerdings. Bis dahin entwickelt Tage ohne Cecilia aber einen enormen Sog. Und ein großer Stilist und begnadeter Beobachter ist Antonio Muñoz Molina sowieso.
Elisa Levi – Anderes kenne ich nicht
Noch eine ganz junge Stimme aus Spanien ist Elisa Levi, Jahrgang 1994. Sie erzählt eine merkwürdige Geschichte aus einem kleinen Dorf mit genau vier jungen Menschen. Eine davon ist die 19-jährige Lea, die einem durchreisenden Fremden vom Leben im Dorf, der Enge und Beschränktheit, dem unheilbringenden Wald und dem Ende der Welt, auf das die Bewohner des Dorfes seit einiger Zeit warten, erzählt. Es ist der Neujahrmorgen und Lea hält den Mann davon ab, seinem verschwundenen Hund in den Wald zu folgen. Denn den „verlässt kein Mensch mehr lebend“. Lea erzählt vom schweigsamen Javier, den sie liebt, und vom jähzornigen Marco, der sie liebt. Und von Catalina, die Marco vergebens anschmachtet, bis die „Städter“ ins Dorf kommen. Sie erzählt vom Tod des Vaters und der Trauer der Mutter, und von ihrem Wunsch fortzugehen. Im Zentrum ihrer Gedanken steht immer wieder ihre behinderte Schwester, für die sie sich verantwortlich fühlt. Der Ton ist märchenhaft-naiv und poetisch. Und so soll auch der Blick Leas auf die Schwester sein, die einen „leeren Kopf“ hat, eigentlich „kein Leben“ und vielleicht „lieber tot“ wäre. Dieser Blick bereitet mir ehrlich gesagt etwas Bauchschmerzen, weswegen ich dieses erzählerisch und sprachlich originelle Buch nicht vorbehaltlos empfehlen kann.
Die nächsten beiden Bücher liegen noch auf meinem Lesestapel mit Literatur-Neuerscheinungen aus Spanien. Leider habe ich sie vor Beginn der Messe nicht mehr lesen können. Beide klingen aber so interessant, dass ich das ganz sicher in den nächsten Wochen nachholen werde. Es folgen dann natürlich noch Besprechungen dazu.
Ana Iris Simón – Mitten im Sommer
Eine ganz junge Stimme aus Spanien ist Ana Iris Simón, Jahrgang 1991. Ihr Debüt wurde gleich ein Bestseller in ihrem Heimatland und wird als „Die Stimme einer verlorenen Generation“ gefeiert. Einer Generation, die nach 2008 vor einer dunklen Zukunft stand und angesichts der sich häufenden Krisen nicht so wirklich im Erwachsenwerden ankommt. Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Explosion der Mieten. Für Simón ist die Rückkehr in die Provinz eine Option. Ihr mit Familienfotos bebildertes Buch schaut mit einer gewissen Nostalgie auf das Leben ihrer Eltern, für die es lange Zeit nur aufwärts zu gehen schien. Während sich ihre Generation oft verloren fühlt. Das Buch hat eine Debatte ausgelöst. Für viele Leser:innen gilt es als rückwärtsgewandt, alte, evtl. überlebte Familientraditionen und Frauenbilder propagierend. Ich bin sehr neugierig darauf.
Ray Loriga – Kapitulation
Im Original bereits 2017 erschienen, hat der erfolgreiche Drehbuchautor Ray Loriga mit Kapitulation eine erschreckend aktuelle Dystopie geschaffen. Nach langen Jahren des Krieges sollen Menschen vom verheerten Land in die neue Hauptstadt umgesiedelt werden, auch der Erzähler und seine Frau. In der Stadt herrscht Frieden, alles ist vorhanden, aber eines fehlt: Privatsphäre. Alle Wände sind durchsichtig, nichts bleibt verborgen und wer gegen die Regeln der Gemeinschaft verstößt, wird schwer bestraft. Während die Frau froh über die Sicherheit ist, begehrt der Mann zunächst auf, kapituliert aber letztendlich. Wieviel ist der Mensch bereit für seine Sicherheit und seinen Komfort aufzugeben? Parallelen zur wirklichen Welt haben an Aktualität auf erschreckende Weise zugenommen.
Hier geht es zu Teil 1 der Reihe zu Neuerschinungen aus Spanien zur Frankfurter Buchmesse 2022.