Vicente Valero – Die Fremden, Übergänge, Schachnovellen, Krankenbesuche

Ibiza eine sonnenverwöhnte Insel im Mittelmeer. Nicht unbedingt bekannt durch Literatur, die von dort stammt. Der Berenberg Verlag macht sich schon seit einigen Jahren um das Werk des von dort stammenden Autors Vicente Valero verdient und hat mit Krankenbesuche jüngst den vierten seiner Romane, essayistischen und autobiografischen Texte, immer in der hervorragenden  Übersetzung durch Peter Kultzen, veröffentlicht. Vicente Valero – Die Fremden, Übergänge, Schachnovellen, Krankenbesuche

Es sind schmale Bücher, 90 bis 130 Seiten lang und stets autobiografisch grundiert, mit denen der 1963 auf Ibiza geborene und heute dort wieder lebende Autor ein Porträt der Insel im Laufe der Zeit anfertigt. Der erste auf Deutsch veröffentlichte Text ist Die Fremden. Darin nähert sich Vicente Valero vier seiner Familienmitglieder, deren Lebenswege sich nie gekreuzt haben und die in der Familie und dem Autor stets ein wenig fern und fremd geblieben sind.

Die Fremden

Da ist einmal sein Großvater Pedro Marí Juan, von dem nicht einmal ein Foto erhalten geblieben ist. Als hoffnungsvollen Schüler hatte ihn sein Vater aufs spanische Festland geschickt. Dort sollte er die höhere Schule besuchen und später Jura studieren. Pedro Marí Juan entschied sich aber für eine Militärlaufbahn als Ingenieur und wurde ins Protektorat Spanisch-Marokko versetzt, lernte dort womöglich Antoine de Saint-Exupéry kennen und starb mit nur 28 Jahren an einer Lungenentzündung. Nur ein Jahr vorher hatte er geheiratet und ein Kind gezeugt.

Auch der Halbbruder des Vaters, Alberto, der Profischachspieler in Argentinien war und von dem Vicente Valero vielleicht die Leidenschaft für „das königliche Spiel“ geerbt hat, ist einer der fernen Verwandten, denen der Autor sein Buch widmet. Lange Zeit völlig verschwunden, kehrte er im hohen Alter nach Ibiza zurück und starb ganz plötzlich bei einem Tretbootausflug mit Vicente und seiner Schwester.

Der dritte der familiären Sonderlinge, und vielleicht der sonderbarste, ist Carlos Cervera. Schon mit 16 riss er aus dem Priesterseminar aus und ging nach Madrid, um dort Tänzer zu werden. Seine Karriere führte auch ihn zeitweise nach Argentinien und verlief wie eine Achterbahn.

Der letzte „Fremde“ ist der Großonkel Major Chico, ein Anhänger der Theosophie und praktizierender Yogi, der vor der Verfolgung durch die Franquisten (der Putsch Francisco Francos nahm übrigens 1936 seine Fahrt von Spanisch-Marokko aus auf) nach Frankreich fliehen musste, dort lange in Lagern interniert war und 1970 starb.

Vicente Valero schreibt diese biografischen Miniaturen so zurückhaltend wie stilistisch sicher. Ein leiser Humor und ganz genaue Beobachtung zeichnen Die Fremden genauso wie die folgenden Werke aus. Dabei vermeidet er Absätze und liebt lange Sätze.

Vicente Valero - Die Fremden.

Vicente Valero – Die Fremden
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Berenberg Herbst 2017, 128 Seiten · Halbleinen · fadengeheftet · EUR 22,00

 

Übergänge

Ähnlich verfährt er im zweiten Buch, Übergänge. Transiciónes im Original. Und damit ist sowohl der Übergang vom Leben in den Tod – denn die Rahmenerzählung wird durch die Beerdigung eines Kindheitsfreundes gebildet -, als auch „la Transicíon“, der Übergang von der Franco-Diktatur zum demokratischen Spanien, gemeint. Vicentes Kindheit fällt in die 1970er Jahre, Franco stirbt 1975. Vier vier Kindheitsfreunde teilen sich den Schulalltag mit allerlei Streichen und die Spiele am Nachmittag, sind unzertrennlich. Als der Vater des einen stirbt und ihm etliche – im Spanien Francos verbotene – pornografische Zeitschriften „hinterlässt“, wittern die Freunde ein gutes Geschäft. Und tatsächlich sind die Mitschüler bereit, für die freizügigen Fotos einiges an Geld zu bezahlen. Eine Weile geht das gut, dann allerdings werden sie verraten und ihnen droht der Schulausschluss. Doch dann hilft ihnen Franco… Franco, der sich bei seinen zwei Ibiza-Besuchen 1933 und 1957 vom Großvater eines der Freunde über die Insel chauffieren lässt.

An diese Episoden erinnern sich die übriggebliebenen drei Freunde während der Trauerfeier und Beerdigung von Ignacio, der mit 30 Jahren an einer Überdosis Drogen starb. Ganz wunderbar unsentimental und sparsam erzählt Vicente Valero von dieser Kindheit auf Ibiza, den Restriktionen unter Franco, dem Ende der Diktatur, den auf die Insel reisenden Fremden, zunächst hauptsächlich Künstler und Hippies und dem Wandel der kleinen, abgelegenen Insel zum Touristen-Hotspot.

Vicente Valero - Übergänge.

Vicente Valero – Übergänge
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Berenberg Frühjahr 2019,  88 Seiten · Halbleinen · fadengeheftet · EUR 22,00

Schachnovellen

Schachnovellen wurde in Deutschland, soviel ich weiß, am breitesten rezipiert. Für mich persönlich ist dieses Werk, das eine Verbindung von essayistischen Betrachtungen mit Reisebeschreibungen darstellt, allerdings nicht das stärkste der vier. Vier Reisen mit dem vom Onkel Alberto – dem Profischachspieler – geerbten Reiseschach. Die erste führt nach Schweden, in das Strandhauses eines Bekannten. Die Nähe zum Öresund und damit zu Dänemark verführt den Autor zu einem Ausflug nach Svendborg auf Fünen. Dort lebte Bertolt Brecht von 1933 bis 1939 als Flüchtling vor dem deutschen Nazi-Regime. Hier empfing er mehrmals Walter Benjamin, hier spielten die beiden Schach.

Brecht und Benjamin sind neben Friedrich Nietzsche, auf dessen Spuren eine weitere Reise nach Turin führt, Rainer Maria Rilke und Franz Kafka die Geistesgrößen, denen Valero sich in den Schachnovellen widmet. Eine dritte Reise führt zu einem Schachtunier nach Zürich, von wo Valero einen Ausflug nach Berg am Irchel macht, wo im Winter 1920/21 der Dichter Rainer Maria Rilke weilte. Die vierte Reise schließlich führt den Autor nach Augsburg und München in Bayern, wo ihn das KZ Dachau an Franz Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie“ erinnert. Schachnovellen ist eine gekonnte, stilsichere Verbindung von biografischen Miniaturen und Referenzen an das Schachspiel mit Reise- und Landschaftsbeschreibungen. Mir fehlt aber ein wenig die persönliche Ebene.

Vicente Valero - Schachnovellen.

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Vicente Valero – Schachnovellen
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Berenberg  Frühjahr 2021, 128 Seiten · Halbleinen · fadengeheftet · EUR 22,00

Krankenbesuche

Diese persönliche Ebene kehrt wieder bei Vicente Valeros neuestem Buch, Krankenbesuche. Hier erzählt er mit seinem herrlichen leisen Humor aus seiner Kindheit auf Ibiza, wo es eine gesellschaftliche Verpflichtung war, kranke Verwandte, Bekannte, Nachbarn, eigentlich alle Erkrankten zu besuchen. Der kleine Vicente begleitete seine Mutter zu unzähligen solcher Krankenbesuche und lernt so eine ganze Reihe Menschen und ihre Schicksale kennen. Davon erzählt er in kleinen, zauberhaften Miniaturen und zeichnet ein Bild Ibizas von der dörflichen Welt einer lange abgeschiedenen Insel hin zu einem Ziel des Massentourismus. Mein Lieblingsbuch von Vicente Valero, der für mich eine der wunderbaren Entdeckungen des Gastlandauftritts Spaniens bei der Frankfurter Buchmesse ist.

Vicente Valero Krankenbesuche.

Vicente Valero – Krankenbesuche
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Berenberg Herbst 2022, 112 Seiten · Halbleinen · fadengeheftet · EUR 22,00

 

 

 

Vicente Valero – Die Fremden, Übergänge, Schachnovellen, Krankenbesuche

 

Beitragsbild: Ibiza by Biblioteca de la Facultad de Empresa y Gestión Pública Universidad de Zaragoza from Huesca, España, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

 

Weitere Literatur aus Spanien hier und hier

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