Wir verstehen nicht, was geschieht. Wie sollte man auch verstehen, was den geschätzt über fünf Millionen Sowjetbürgern nach ihrer Befreiung aus nazideutschen Konzentrations- und Arbeiterlagern, in die sie als Kriegsgefangene oder verschleppte Zwangsarbeiter:innen gerieten, in ihrer Heimat geschah. Hier erfuhren sie Stigmatisierung, Inhaftierung und häufig Verbannung und Tod, standen sie doch unter dem Generalverdacht, Vaterlandsverräter, Deserteure oder Spione zu sein. Laut Befehl 270 des Volkskommissars für Verteidigung der UdSSR vom 16. August 1941 durften sich sowjetische Soldaten, namentlich Offiziere nicht in Kriegsgefangenschaft begeben, sondern sollten sich im Zweifel selbst töten. Diese Direktive galt als Anlass, aus der Gefangenschaft zurückkehrende Soldaten in Filtrationslagern zu sammeln, zu verhören und häufig zu inhaftieren. So geschah es auch dem Physiker Lew Mischtschenko, dessen Schicksal Viktor Funk als Quelle für seinen Roman Wir verstehen nicht, was geschieht diente.
Wie sein Roman Alter Ego Alexander List hat Viktor Funk im Rahmen seiner Magisterarbeit zum Thema Gulag geforscht und Betroffene und Zeitzeugen befragt. Dabei stieß er 2004/2005 auf Lew und Swetlana Mischtschenko, die leicht verfremdet und fiktionalisiert Protagonisten seines Romans geworden sind, und die er in Moskau interviewte. Dabei interessierte auch das Thema Resilienz. Was machte die Menschen so stark, dass sie trotz der schrecklichen Dinge, die sie erleben mussten, nicht aufgaben?
Ein Sowjetleben
Lew verlor bereits früh seine Eltern, die von „den Roten“ erschossen wurden. Aufgewachsen ist er bei seiner Tante und der Großmutter. Seine spätere Frau Swetlana lernte er beim Physikstudium kennen. Kurz danach wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, von den Deutschen gefangengenommen und musste vier Jahre Zwangsarbeit im Lager verrichten. 1945 gelang ihm auf einem der berüchtigten Todesmärsche die Flucht. Nur um nach Kriegsende von den Russen zu zehn Jahren Straflager in Petschora in Nordwestrussland verurteilt zu werden. Dorthin möchte Lew noch einmal reisen, jetzt da er verwitwet ist. Und zwar mit Alexander. Im Gegenzug verspricht er ihm einen Koffer voll mit authentischen Briefwechseln, die Alexander dann auswerten darf.
So machen sich die beiden auf nach Petschora, 1800 km von Moskau entfernt, eine lange Eisenbahnfahrt. Neun Tage umfassen die Kapitel des Buchs und Alexander kommt dabei der Geschichte und auch der Person Lew immer näher. Und mit ihm die Leser:innen. In Petschora erwarten sie ein Provinzmuseum, ein fast verschwundener Lagerfriedhof und vor allem Jakow, genannt Israelitsch, ein alter Lagerkamerad Lews.
Dringlichkeit
So groß die emotionale Wucht ist, die sich bei der Lektüre von Wir verstehen nicht, was geschieht entwickelt, so berührend die Geschichten von Lew und Swetlana und der anderen Befragten, die immer wieder einfließen, sind, so nüchtern und mit einer gewissen Distanz erzählt Viktor Funk. Das erhöht für mich die Dringlichkeit des Textes aber eher noch. Bei aller Stille, Sparsamkeit und Zurückhaltung vermag er dennoch, das Leser:innenherz zu brechen. Und das unter Beibehaltung von wissenschaftlichem Anspruch. Sogleich ist man versucht, mehr über dieses dunkle Kapitel der dunklen Stalinzeit herauszufinden. Lange Zeit wurde darüber geschwiegen, auch von den Opfern, da sie weitere Stigmatisierungen fürchteten, auch in den Familien, die man dadurch schützen wollte.
Erst 1995 benennt der russische Präsident Boris Jelzin das Unrecht, das den Betroffenen doppelt widerfahren ist, als Kriegsgefangene in Deutschland und als vermeintliche Verräter in der Sowjetunion. Die seit Ende 2021 verbotene „Internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge“ Memorial hat sich in der Folge um Dokumentation und Forschung verdient gemacht. Archivdokumente wurden regierungsseitig öffentlich zugänglich gemacht. Diese Öffentlichkeit wurde unter der Präsidentschaft von Putin schrittweise zurückgefahren. Heute wären Recherchen dazu nicht mehr möglich, die Akten liegen wieder unter Verschluss.
Aktualität
Gerade auch unter den Entwicklungen heute ist ein Buch wie Wir verstehen nicht, was geschieht ungemein wichtig. Viel zu lange wurde der Osten bei der Aufarbeitung von Nationalsozialismus und Weltkrieg vernachlässigt und übersehen. Lews Geschichte ist beispielhaft für das Schicksal von Millionen Sowjetbürgern. Viktor Funk erzählt sie uns anhand von Gesprächen, Erinnerungen, Dokumenten. Große Bedeutung bekommen, neben anderer Korrespondenz, dabei die Briefe, die sich Lew und Swetlana über die Jahre schrieben. Funk hat diese allerdings nicht übernommen, auch wenn sie zugänglich waren (Der britische Historiker Orlando Figes veröffentlichte sie später im auf Deutsch unter dem Titel „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“ erschienenen Buch). Er hat sie nach eigener Auskunft noch nicht einmal gelesen. Das erschien ihm zu privat. Die Briefe, die er für sein Buch erfunden hat, wirken aber sehr authentisch. Und zeichnen bei aller historischen Dichte zudem noch das Bild einer außergewöhnlichen Liebe. Ein großartiges Buch!
Webseite des Autors mit Fotos und Informationen zur Entstehungsgeschichte des Romans
Webseite von Unrecht-erinnern mit ausführlichem Beitrag mit Fotos und Auszügen aus Interviews von Lew Mischtschenko
Beitragsbild: Petar Milošević, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Besprechung auf Sandra Falkes Literarische Abenteuer und auf Scherbensammeln
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Viktor Funk – Wir verstehen nicht was geschieht
Verbrecher Verlag Herbst2022, Hardcover, 156 Seiten, 20,- €