Gloria Naylor – Linden Hills

Die US-amerikanische Autorin Gloria Naylor (1950-2016) war mir bisher nicht bekannt, obwohl drei ihrer Romane, die ein Quartett rund um das Leben von afroamerikanischen Frauen in den USA bilden, bereits in den 1990er Jahren auch auf Deutsch veröffentlicht wurden. Linden Hills, der zweite Roman, den Gloria Naylor 1985 schrieb, fehlte bisher und wird nun in der Übersetzung von Angelika Kaps vom Unionsverlag veröffentlicht, der auch den ersten, mit dem National Book Award First Novel 1983 ausgezeichneten Roman, Die Frauen von Brewster Place, neu herausgegeben hat. Im nächsten Jahr soll der dritte, Mama Day, erscheinen.

In Besprechungen zu Linden Hills wird stets darauf hingewiesen, dass sich Gloria Naylor bei der Gestaltung an Dantes Inferno orientiert hat. Weiß man das, fallen die Parallelen sofort auf. Aber auch ohne diesen Bezug kann man das Buch ohne Probleme genießen. Die Autorin versteht es, von Anfang an einen gut funktionierenden Spannungsbogen aufzubauen, schafft lebendige Dialoge und schreibt überzeugend und wortmächtig.

Das Inferno

Zunächst fühlt man sich am Beginn eines großen Familienepos und Gesellschaftsromans. Bis ins Jahr 1820 geht die Geschichte des Stadtviertels Linden Hills, die auch eine Geschichte der Familie Nedeed ist, zurück. Damals hat der Freie Schwarze Luther im Wayne County einen wertlosen, kargen Hügelabhang, der an den Friedhof und den See grenzte, erworben und dessen Fuß ein Bestattungsunternehmen gegründet. Eine Erfolgsgeschichte, denn „gestorben wird immer“ und Luther und seine Nachkommen, die alle seinen Vornamen weitertrugen, erwiesen sich als äußerst geschäftstüchtig. Bald wurden auf dem Grund auch Hütten gebaut und vermietet, später immer komfortablere Häuser und schließlich Villen. Das Viertel wird zu einer begehrten Wohngegend.

Wie Dante in seinen Höllenkreisen steigt man auch in Linden Hills tief hinab. In acht Ringstraßen geht es von der Wayne Avenue, wo die wohnen, die es (noch) nicht geschafft haben, den ersten, zweiten, dritten, vierten und fünften Crescent Drive hinunter bis zum Tupelo Drive, wo es richtig teuer wird. Und ganz unten sitzt der Teufel in Person, der aktuelle Luther Nedeed. Er profitiert nicht nur vom immer noch florierenden Bestattungsunternehmen, sondern auch von der Gier vieler Schwarzer Mitbürger, die aus Prestigegründen unbedingt hier in Linden Hills wohnen wollen. Um zu zeigen, dass sie den sozialen Aufstieg geschafft haben, dass sie dazugehören. Und deren Vorfahren sich durch eine 1000 Jahre andauernde Leibpacht quasi an die Familie Nedeed (oder den Teufel) verkauft haben.

Abstieg in die Hölle

Das Motiv des „seine Seele verkaufen“, der Identitätsaufgabe, der Begierden, des Egoismus führt direkt von Dantes Inferno nach Linden Hills. Und so wie Dante vom antiken Dichter Vergil durch die Hölle geführt wird, gibt es auch in Linden Hills zwei junge Männer, die die Leser:innen hindurchführen und mit etlichen der Bewohner:innen bekanntmachen. Willie Mason, tiefschwarz und gerade deshalb mit dem Spitznamen „White“ versehen, und Lester Tilson, genannt „Shit“, sind zwei eher ambitionslose junge Männer um die 20.

Sie erledigen in Linden Hills kleinere Arbeiten für die Bewohner und kommen so im Viertel rum. Eigentlich fühlen sie sich aber als Dichter. Wir begleiten sie in der Woche vor Weihnachten und lernen den Pfarrer kennen, eine erfolgreiche Frau, die sich in einer psychischen Extremsituation befindet, ihre alte Tante, einen homosexuellen Mann, der sich dem gesellschaftlichen Druck beugt und heiratet, einen bösartigen weißen Cop und und und. Sie alle verleugnen sich selbst, um zum Establishment zu gehören. Rassismus, Klassismus, Neid und Habgier herrschen in Linden Hills so wie in Dantes Hölle.

Das Purgatorium

Am Fuß des Hügels herrscht Luther. Aus Eifersucht hat er seine Frau und das kleine Kind, von dem er glaubt, dass es nicht seines ist, in den Keller gesperrt. Hier kommt eine neue Todsünde hinzu. Eine, unter der Frauen seit jeher leiden und es auch Jahrzehnte nachdem Gloria Naylor Linden Hills geschrieben hat immer noch tun: toxische Männlichkeit und ihre Herrschaftsform, das Patriarchat.

Weiße Menschen kommen im Buch nahezu nicht vor (der weiße Polizist ist eine bösartige Ausnahme). Die Schwarzen Bewohner von Linden Hills brauchen sie auch gar nicht, um sich selbst das Leben zur Hölle zu machen. Dennoch: es ist das rassistische System, das die Rahmenbedingungen vorgibt. Es bleibt den Leser:innen überlassen, ob sie das am Heiligen Abend stattfindende Purgatorium als Reinigung, als Hoffnungsfunken oder als endgültigen Tiefpunkt sehen. Gloria Naylor hat ein spannendes, beklemmendes, trotz zeitlichem Abstand immer noch aktuelles Buch geschaffen.

 

Beitragsbild by Allie_Caulfield (CC BY-SA 2.0) via Flickr

_____________________________________________________

*Werbung*

Gloria Naylor - Linden Hills.

Gloria Naylor – Linden Hills
Aus dem Englischen von Angelika Kaps
Unionsverlag September 2022, Hardcover, 400 Seiten, € 26.00

 

 

 

 

 

2 Gedanken zu „Gloria Naylor – Linden Hills

  1. Liebe Petra,
    Du hattest mich auf das Buch aufmerksam gemacht. Danke für diesen tollen Tipp!
    Die Menschen des fiktiven Stadtteils Linden Hills und ihre Geschichten sind geschickt miteinander verwoben. Hier wird Black History lebendig. Ich war immer wieder überrascht, welche Wendungen die Story nimmt und in welche Abgründe ich mitgerissen werde. Der Schluss ist fulminant.
    Zwischendurch habe ich mich gefragt, warum dieses Buch von Gloria Naylor erst jetzt auf Deutsch erschienen ist. Meine Vermutung: Sie war mit der Thematik ihrer Zeit weit voraus.
    LG Anke

    1. Liebe Anke, das freut mich sehr, dass dir das Buch gefallen hat. Ich war auch immer wieder überrascht, wohin mich die Geschichte trug. Tatsächlich ist das Buch von der Autorin wohl als Teil einer Art Tetralogie gedacht gewesen. Interessanter weise sind die anderen drei Bände jeweils bei anderen Verlagen auf Deutsch erschienen (1994-1996). Linden Hills hatte es bis jetzt nicht ins Deutsche geschafft. Der Unionsverlag hat nun Die Frauen von Brewster Place bereits als Taschenbuch veröffentlicht und Mama Day ist für März angekündigt. Liebe Grüße, Petra

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert