Diesen Monat lag mal wieder ein Buch auf meinem Lesestapel, an dem ich mich sehr aufgerieben habe. Aber es gab auch – erwartet und überraschend – großartige Lektüre im November 2022. Lasst sie mich euch zeigen.
Tsitsi Dangarembga – Verleugnen
Im vergangenen Jahr erhielt Tsitsi Dangarembga in Frankfurt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Im September 2022 wurde die Autorin nach der Teilnahme an einer friedlichen Demonstration für Reformen in Simbabwe des angeblichen „Landfriedensbruchs, der Bigotterie und der Anstiftung zu Gewalt“ angeklagt und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Dangarembga ist eine wichtige Stimme Afrikas und nun ist auch ihre Tambudzai-Trilogie, übersetzt von Anette Grube, vollständig erschienen.
In Verleugnen erzählt sie von den Jahren auf einer höheren, vorwiegend von weißen Mädchen besuchten Schule in den 1970er Jahren. Die Ich-Erzählerin Tambu ist nicht immer sympathisch, aber wegen der ihr stets neu verwehrten Chancen – als Schwarze und als Mädchen – gewinnt sie doch das Mitgefühl ihrer Leser:innen. Außerdem gibt Verleugnen einen Einblick in den brutalen Bürgerkrieg in Simbabwe. Ich freue mich nun, den dritten Teil, der schon im letzten Jahr bei Orlandabuchverlag erschienen ist, zu lesen.
Gloria Naylor – Linden Hills
Diese war eine überraschende Entdeckung! Was wie eine breit angelegte afroamerikanische Familiensaga aus den USA beginnt, entwickelt sich bald zu einer an Dantes Inferno angelegten Gesellschaftskritik anhand des fiktiven Schwarzen Stadtteils Linden Hills. Hier wohnen alle, die es „geschafft“ haben, die auf die eine oder andere Weise reüssiert haben, zu Geld und Ansehen gekommen sind und nun in diesem prestigeträchtigen, teuren Wohngebiet leben können. Neid, Selbstverleugnung, Egoismus und Arroganz herrschen in den acht, wie Höllenkreise sich von einem Hügel hinunterziehenden Ringstraßen. Ganz unten wird es besonders exklusiv. Hier residiert Luther King, dessen Vorfahr und Namensvetter einst das unwirtliche Gelände gekauft, darauf ein prosperierendes Bestattungsunternehmen und auf Leibpacht aufgebaute Immobilien errichtet hat. Er ist ein wahrer Höllenfürst, der mit den Begierden der Menschen und ihren Leben spielt. Rassismus, besonders aber auch Klassismus und eine extrem toxische Männlichkeit machen das bereits 1985 erschienene Buch von Gloria Naylor (1950-2016) immer noch brandaktuell. Der Autorin gelingt ein grandioser Spannungsbogen und ein lobenswert interpretationsoffenes Ende.
Margaret Atwood – Penelope und die zwölf Mägde
Im Rahmen meiner Blogpartnerschaft mit hr2 Kultur habe ich das neueste Buch von Margaret Atwood als Hörbuch gehört.
Wer kennt nicht Odysseus, den strahlenden Held von Troja, der auf jahrelangen Irrfahrten nur das eine Ziel kennt – heim nach Ithaka. Und die wunderschöne, liebreizende Helena, um die ganze Völker in Kriegen entbrannten. Weniger bekannt sind Odysseus, der Angeber, der Kurzbeinige, der Hallodri oder gar der Massenmörder und Helena, die eitle, selbstsüchtige Narzisstin. Und auch von Penelope, der Gattin von Odysseus hat sich fest das Bild der treuen, selbstlosen, ewig webenden Gemahlin eingebrannt.
Für die großartige Margaret Atwood ein perfekter Stoff, um alles mal ordentlich durcheinander zu wirbeln.
Denn hier spricht Penelope, durchaus auch ambivalent, aber lange nicht so aufopferungsvoll und bieder wie von der patriarchalen Kultur gesehen. Und Margaret Atwood gibt ihren jugendlichen Mägden eine Stimme, die von Odysseus und seinem Sohn Telemachos so brutal getötet wurden. Sie treten im vielsprachigen Chor auf.
Und apropos Massenmörder. Odysseus wird vor einen sehr heutigen Gerichtshof bestellt. Denn die Stimmen sind von heute. Alle Beteiligten sprechen heraus aus dem Hades, wo sie alle seit mehr als 2500 Jahren wieder vereint sind.
Ein sehr amüsantes Spiel!
Mit Nina Kunzendorf wurde die ideale Stimme für Penelope gefunden. Jugendlich, leicht gelangweilt/genervt von dem jahrtausendalten Hickhack, auf ruhige Art souverän. Es macht Spaß, diese Produktion von hr2 kultur zu hören.
Judith Holofernes – Die Träume anderer Leute
Als die Band Wir sind Helden ihr erstes Album herausbrachte, waren unsere Kinder noch ziemlich klein. Aber es war die Zeit, wo sie Musik jenseits von Detlev Jöcker und Rolf Zuckowski, MTV und Viva für sich entdeckten. Die Musik der Band war teilweise frech und fröhlich, teilweise sanft und melodiös und, für die Kinder ganz wichtig: mit deutschen Texten. Sie liebten sie sehr und mir gefiel sie auch. Und wie toll: Hier schrieb man dazu noch großartige, literarische Texte. Große Wir sind Helden-Liebe, die aber im Rahmen der veränderlichen Vorlieben der Kids und wenig eigener Musik-Zeit, dann irgendwann ins Hintertreffen geriet. Für mich aber war klar, dass ich mit dem Buch von Frontfrau Judith Holofernes auf jeden Fall ein Wiedersehen (besser -lesen und in Folge dann tatsächlich exzessives Wiederhören) feiern wollte.
Nun bin ich eigentlich keine Freundin von ausführlichen Selbstbespiegelungen und hatte ein wenig Sorge, dass die Geschichte vom Ende der Helden, dem schmerzhaften (selbstgewählten) Abschied, physischer und psychischer Probleme, Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit von Kunst und Familie und vom Neuanfang als Künstlerin mich nicht richtig abholen könnte. Aber ich mag Judith Holofernes einfach zu gern, ihre offene, fröhliche, nachdenkliche und immer intelligente Art (mit der sie mir auf Instagram und ihrem Crowdfunding-Kanal bei Patreon bereits bekannt war). Und als ich sie dann auf der Frankfurter Buchmesse persönlich sah, habe ich mir das Buch ganz oben auf den Lesestapel gepackt. Teils habe ich es mir (von Nora Tschirner sehr gut) vorlesen lassen, teils selbst gelesen. Und ja, es geht ans Herz und erinnert daran, wie toll die Musik von Judith Holofernes ist. Und zeigt, dass sie nicht nur bei Songtexten eine Meisterin ist (auch in Sachen intelligentem Humor).
Toril Brekke – Ein rostiger Klang von Freiheit
Oslo in den Jahren des Aufbruchs 1967/68. Studentenproteste, neue Lebensformen, sexuelle Revolution und immer wieder der Ruf nach Freiheit. Doch Freiheit ohne Verantwortung ist eine schwierige Angelegenheit. Und so bleibt davon oft nur ein rostiger Klang. Das muss auch die gerade volljährig gewordene Agathe erfahren, die diese Freiheit zunächst im neu gegründeten Forsøksgymnaset, einer Reformschule nach dem Modell Summerhill, sucht. Aber zuhause wartet der kleine Bruder Morten, der mit dem abrupten Verlassenwerden durch die Mutter nicht klar kommt. Und auch sonst gibt es so manche Baustelle in der Familie. Toril Brekke erzählt ihre Geschichte auf so frische wie intensive Weise, sehr atmosphärisch und trotz der angesprochenen schweren Themen leicht. Die Musik, die für viele der Protagonisten im Mittelpunkt ihres Lebens steht, ist auch für das Buch wichtig und verleiht ihm einen ganz eigenen Sound. Es ist sowohl ein Coming-of-age-Roman als auch ein vielschichtiges Gesellschaftsporträt Norwegens in den späten 1960er Jahren. Die Leserin ahnt bald, auf was die Geschichte hinausläuft, die Autorin baut etliche kleine Hinweise dazu ein. Ich finde es dann umso bedauerlicher, dass es auf den letzten zehn Seiten eine explizierte „Aufklärung“ gibt. Da hätte Toril Brekke ihren Leser:innen durchaus mehr zutrauen dürfen. Dieses Ende schmälert den sehr positiven Gesamteindruck des Buchs tatsächlich ein wenig. Eine große Leseempfehlung und Entdeckung ist es dennoch.
Ray Loriga – Kapitulation
Eigentlich mag ich Dystopien nicht. Die Realität ist oft schon erschreckend genug. Und Parabeln sind auch nicht unbedingt mein Ding. Oft zu platt belehrend. Ray Lorigas parabelhafte Dytopie Kapitulation hat mir hingegen gut gefallen. Vielleicht liegt es daran, dass Dystopien bei der allgemeinen Weltlage generell kaum noch abstrakte Schreckensszenarien sind, sondern vielmehr als Reflexionen über eine Zukunft, die zwar düster und unerwünscht, aber durchaus nicht mehr undenkbar erscheint. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass dem spanischen Autor eine besonders gute Dystopie gelungen ist. Für letzteres spricht, dass Loriga 2017 den hochdotierten Premio Alfaguara de Novela dafür erhielt.
Ein stets namenlos bleibender Ich-Erzähler führt in eine Welt, in der seit über zehn Jahren Krieg herrscht. Wer hier gegen wen kämpft, wofür und warum, ist der Bevölkerung schon lange nicht mehr klar. Der Kampf ums eigene Überleben und um das der engsten Familie absorbiert alle Kräfte. Besonders die Landbevölkerung leidet unter den Verwüstungen, den ständigen Bombardements, der Lebensmittel- und Wasserknappheit. Das Sagen haben vielerorts die „Herren des Wassers“, also jene Familien, die Zugang zu Quellen haben und sich das gut bezahlen lassen. Der Ich-Erzähler lebt mit seiner Frau, von der auch immer nur als „sie“ die Rede ist, auf ihrem einstmals florierenden Hof. IDie beiden Söhne Pablo und Augusto sind freiwillig in den Krieg gezogen, schon lange kam keine Nachricht mehr von ihnen, vielleicht sind sie schon nicht mehr am Leben. Seitdem sie einen kleinen, verletzten und stummen Jungen aufgenommen haben, zunächst sehr zögerlich und zurückhaltend, später dann wie ein eigenes Kind, und ihn Julio nennen, leben sie wieder wie eine kleine Familie. Dann kommt aber der Evakuierungsbefehl. Alle Menschen sollen das Land verlassen und in die „gläserne Stadt“ umgesiedelt werden. Dort werden alle Bedürfnisse befriedigt, jedem wird eine Arbeit zugewiesen, aber niemand hat auch das kleineste bisschen Privatsphäre. Denn es spannt sich nicht nur eine riesige Glaskuppel über die ganze Stadt, sondern alles ist gläsern, auch sämtliche Wände, die Böden, alles. Es gibt auch keine Dunkelheit mehr, es ist immer taghell. Durch eine „Kristallisation“ werden die Menschen regelmäßig gereinigt und der Ich-Erzähler vermutet, dass im Wasser ein Zusatz ist, der Glücksgefühle hervorruft. Oder auch eine gewisse Gleichgültigkeit. Anders kann er sich nicht erklären, warum es ihn relativ kalt lässt, dass sich ein Nebenbuhler bei ihnen breit macht und bald das Bett mit seiner Frau teilt. Der Gedanke an Kapitulation ist nah. Oder gibt es doch ein Entrinnen aus der gläsernen Stadt?
Der Ich-Erzähler ist keineswegs ein 100%iger Sympathieträger. Er ist eigentlich ein ziemlicher Misanthrop, ein absoluter Konformist.
„(…) und ich finde es weder schlecht noch merkwürdig, wenn die Verantwortlichen sich Gedanken machen, während wir anderen die Dinge erledigen, das war schon immer mein Verständnis von Herrschaft (…)“
Dennoch folgt man ihm gespannt durch die vom Krieg verwüsteten „Badlands“ in die „Glücksstadt“, wird allmählich misstrauisch und drückt ihm die Daumen, diesem Wahnsinn zu entrinnen. Denn manchmal ist er verblüffend hellsichtig.
„(…)habe ich abgeleitet, dass es nirgendwo auf der Welt große Unterschiede gibt und dass die Leute genau aus diesem Grund unterschiedliche Farben tragen und andere Schlaflieder singen, um wenigstens für einen augenblick davon träumen zu können, dass sie ein kleines bisschen anders sind“
Fatma Sagir – Alphabet der Sehnsucht
Im vergangenen Jahr jährte sich das Anwerbeabkommen zwischen der BRD und der Türkei zum 60. Mal. Viel Zeit ist vergangen seitdem 1961 die ersten „Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen, meist mit dem festen Vorsatz, nur für eine überschaubare Zeit zu bleiben, Geld zu verdienen, für „Daheim“. Das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder ist eng verknüpft mit diesen „Gästen“, die oft genug blieben, hier Familien gründeten, deren Nachkommen nun schon in dritter oder vierter Generation in Deutschland leben. Und die doch in der Erinnerungskutur unseres Landes, steht nicht gerade ein Jubiläum an, in dieser Funktion kaum vorkommen, denen viel zu wenig Wertschätzung und Anerkennung zuteil wurde und wird. Werden sie vergessen?
„Texte zum Vergessen“ untertitelt zumindest die Autorin und Kulturanthropologin an der Uni Freiburg, Fatma Sagir, ihre Gedichte und kurzen autobiografischen Texte, die sie 2021 zum Jahrestag des Anwerbeabkommens veröffentlichte. Es sind Texte über Fremdheit und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, einem Dazwischen der Identität, das oft schmerzhaft ist. Sie erzählen von harter Arbeit, 60 Stunden die Woche, oft an sieben von sieben Tagen, in anstrengenden Tätigkeiten, die kaum Zeit ließen zum Deutschlernen, zur sogenannten Integration, die von den „Gastgebern“ auch nur mäßig erwünscht war. Vom Streben, vom Wunsch, den Kindern eine bessere Zukunft zu schaffen, von der nie versiegenden Sehnsucht. Fatma Sagir erzählt von dieser 1. Generation und legt zwei Schwerpunkt. Der erste ist der Tod des Vaters, der kurz nach dem Eintritt in den Ruhestand stirbt und auf eigenen Wunsch in der Heimat Anatolien beigesetzt wird. Und es sind die fremdenfeindlichen, rassistischen, rechtsradikalen Anschläge und Gewalttaten etwa von Mölln und Solingen.
Wer wir einst waren
wissen nur wenige
wir
wollten wir
diese Zeugenschaft
wir waren dort
wir blickten in die Welt
in alle Welten
wir fanden Farbe und Klang
überalldoch
sie
stellten uns zwei Stühle hin
dort
zwischen zwei Stühlen
sitzt du
Farbe, Klang, Licht
drohte zu verblassen
zu versinkenzwischen zwei Stühlen
hart
Nein. Wir sitzen gar nicht
auf Stülen
Wir saßen auf dem Boden
an runden Blechen
Brot teilendUnsere Plätze finden wir selbst
Behalt deine Stühle
Deutschland
Ana Iris Simón – Mitten im Sommer
An diesem Buch habe ich mich gehörig aufgerieben. Ich wollte es gerne im Rahmen meines Spanien-Schwerpunkts lesen, da es im Original einiges Aufsehen erregt hat und die 1991 geborene Autorin als eine der vielversprechenden jungen spanischen Stimmen gilt. Die Meinungen waren dabei durchaus konträr, die deutsche Übersetzung wurde hingegen überwiegend positiv aufgenommen.
„Ich beneide meine Eltern um ihr Leben in meinem Alter.“
Das Buch startet provokant. Die Autorin erzählt ihre eigene Geschichte und die einer „enttäuschten“ Generation, nämlich der Menschen um die 30. Von der Wirtschaftskrise 2008, die Spanien besonders hart traf, zu Beginn ihres Berufslebens voll erwischt und durch die Corona-Epidemie nochmals ausgebremst, fühlt Simón sich und ihre Altersgenossen „am Rande eines Abgrunds“. Tatsächlich sind 31% der jungen Menschen in Spanien gegenwärtig ohne Job, die meisten anderen in prekären und/oder befristeten Arbeitsverhältnissen beschäftigt. Laut Simón benötigen sie ca. 94% ihres Einkommens einfach nur um in Madrid für die Miete aufzukommen. Kein Wunder, dass viele noch bei den Eltern wohnen, sich eine eigene Existenz gar nicht aufbauen können. So weit, so zutreffend wie erschreckend. Solidarität mit ihrer Generation zeigt die Autorin aber eher nicht.
„Wir seien heute freier, und unsere Eltern hätten nicht zwei Fächer studieren und einen Master in Englisch machen können und sie hätten auch kein Jahr Doritos futternd und kreuz und quer vögelnd in Brüssel verbringen können dank diesem sogenannten Erasmus-Programm, das doch nur eine Strategie zur Dynastiebildung im einundzwanzigsten Jahrhundert ist, eine Subvention, damit die europäische Mittelschicht sich miteinander paart und sich europäische Geschlechtskrankheiten holt und feiert (…)“
Nicht das einzige Bashing der jüngeren Generation, das Simón loslässt, aber nach der ersten halben Seite ihres Buchs wäre ich eigentlich schon raus gewesen. Es sind nicht einmal die Ansichten der Autorin, die in vielen kleinen Anekdoten und Episoden von ihrer großen Familie, sogenannten „kleinen“ Leuten aus dem Bauern- und Schaustellermilieu (die Eltern waren Briefträger) durchaus schön, liebevoll und berührend erzählt, sie mich so stören. Zwar färbt sie ihre Erinnerungen an das einfache Leben in der Provinz kräftig nostalgisch und idealisierend ein, verklärt traditionelle Familienverhältnisse, preist die Mutterschaft, die Familie, das Eigenheim, die Spießigkeit und das kann man durchaus reaktionär nennen und wurde ihr in Spanien teils auch vorgeworfen. Dass sie von der Tradition des „einzigartigen Spanien“ träumt – kann man auch noch als konservative Nostalgie verbuchen. Bei manchem kann ich da sogar noch mitgehen, beispielsweise wenn sie fordert, dass jede Frau sich für Kinder und Familie entscheiden können muss, ohne gesellschaftlich und sozial geächtet und/oder finanziell gefährdet zu sein. Oder wenn sie sich gegen ungezügeltes wirtschaftliches Wachstum ausspricht.
Was mir das Buch ziemlich unerträglich gemacht hat, ist vielmehr diese beleidigte Wut – „wir sind die erste Generation, die schlechter lebt als ihre Eltern“ – , die der materiellen Sicherheit nachweint, ohne irgendwelche kreativen Ideen, Lösungsansätze, Visionen zu haben. Dabei findet sie, dass
„die Welt, in der wir leben, ja zusehends einem Wettbewerb im Jammern gleicht.“
Und da ist Ana Iris Simón mitten dabei. Schlimmer noch ist aber die Haltung, die gegenüber Mitmenschen, politischen und gesellschaftlichen Ideen und Idealen durchscheint. Da schreibt sie oft verächtlich, macht sich lustig und die Übersetzung kann das auch nicht dadurch retten, dass sie beispielsweise das spanische „Gitanos“ einfach stehenlässt, anstatt das deutsche Z-Wort zu benutzen. (Im Buch wimmelt es von „Gitanos“) Der „Dorftrottel“ bei ihr im Dorf war natürlich ein „sehr dunkelhäutiger Mann mit fettigem Haar“ – mag ja sein, aber muss man das so betonen?
„Und ich, die ich in der Schule verschwieg, dass ich im Sommer von Jahrmarkt zu Jahrmarkt fuhr und in der Bude das Bett mit meiner Großmutter María Solo teilte, weil die aus meiner Klasse nicht denken sollten , wir wären Gitanos oder sonst wie Abschaum.“
Sie bedauert, dass auf Jahrmärkten keine „kleinwüchsigen Stierkampfartisten oder Wanderzoos“ mehr auftreten dürfen, denn
„Der Fortschritt brachte (…) eine Welle an Grausamkeit mit sich, brachte sie nicht in die Welt, aber uns vor Augen, sodass wir plötzlich Opfer sahen, die zuvor nicht gesehen wurden, und selig sind, die da Leid tragen, also Matthäus 5.4.“
Natürlich teilt sie auch gegen den Feminismus aus.
„(…) kamen wir zu dem Schluss, dass wir Kinder wollten und die Möglichkeit, uns um sie zu kümmern, und dass wir nicht vierhundert Euro im Monat ausgeben wollten, damit jemand anderes sie aufzog, und dass Männer, um zu gefallen, tätig sein müssen, uns aber das Sein genügt und dass womöglich jede Frau einen Faschisten liebt, wie Sylvia Plath geschrieben hat (…)“
Ach Herrje! Vielleicht verstehe ich auch nur die Ironie nicht, aber ich fürchte fast…. Die „Indies“ aus den 1990er Jahre waren „Weicheier“ mit B12-Mangelerscheinungen. Bewundernswert waren eher diejenigen Männer, „die das eigene Körpergewicht beim Bankdrücken stemmen konnten.“
Was am Ende stehen bleibt sind nicht zur Diskussion gestellte konservative (oder auch reaktionäre) Ansichten, sondern vielmehr dieses selbstbezogene, wütende, beleidigte „Warum ich nicht?“. Dieses Lamentieren, dass die „Kommilitonen schon mal von Foucault und Lasswell gehört hatten, sie in den Bücherschränken ihrer Eltern gesehen hatten oder über sie beim Abendessen mit Freunden gesprochen worden war, und dann, weil die meisten von denen während des Studiums nicht arbeiten mussten und sich dem politischen und studentischen Aktivismus oder dem Lotterleben hingeben konnten, sofern das nicht ein und dasselbe sind.“
Es ist dasselbe ichbezogene Wüten, dass mir schon Eduard Louis´ Wer hat meinen Vater umgebracht verleidet hat und die wichtigen Themen – wie die tatsächlich bedrückende Lage vieler gerade junger Menschen nicht nur in Spanien infolge all der Krisen, die in jüngster Vergangenheit und Gegenwart auf uns einprasseln – leider hinter der eigenen Befindlichkeit verschwinden lässt.
Abdulrazak Gurnah – Nachleben
Das neueste Buch des vorjährigen Literaturnobelpreisträges Abdulrazak Gurnah, das 2020 veröffentlichte Afterlives liegt nun auch in deutscher Übersetzung (in sehr gelungener deutscher Übersetzung um genau zu sein) durch Eva Bonné vor. Es schließt zeitlich und thematisch an seinen früheren Roman Das verlorene Paradies an, hat aber noch deutlicher die deutsche Kolonialgeschichte in Ostafrika im Blick. Wieder episch (aber nicht episch breit), nüchtern (aber stilistisch elegant) und historisch genau erzählt und wieder sehr fesselnd, öffnet das ein viel zu lange auch in Deutschland vollkommen verdrängtes Geschichtskapitel: die grausame deutsche Kolonialpolitik, den Nachklang, den sie im Deutsche Reich hat und auch die Unterstützung, die die Kolonialherren durch Afrikaner erfahren haben. Differenziert, zurückhaltend, nachdenklich. Ein Nobelpreis würdiges Buch!