Der mittlerweile neunte Gereon-Rath-Roman von Volker Kutscher, Transatlantik, ist soeben erschienen. Die Veröffentlichung fällt zwar zusammen mit dem Sendestart der 4. Staffel des an der Serie orientierten bildgewaltigen „Babylon Berlin“, ich werde aber nicht müde zu betonen, dass Buch und Fernsehserie herzlich wenig miteinander zu tun haben. Die völlig frei adaptierte Verfilmung geht derart sorg- und gewissenlos mit ihrer Vorlage und vor allem den Protagonist:innen um, dass man die Bücher höchstens als Ideengeber betrachten kann. Die Romane von Volker Kutscher sind wesentlich historisch genauer, atmosphärisch treffender und vor allem tiefgründiger als die auf starke Effekte bauenden Filme.
Eigentlich hätten es nur acht Romane mit dem aus Köln stammenden Kriminalkommissar Gereon Rath werden sollen. 1936, als das Deutsche Reich vielleicht zum letzten Mal die Fassade eines modernen, offenen Landes und vor allen eines Rechtsstaats anlässlich der in Berlin stattfindenden Olympiade zu wahren suchte, sollte ursprünglich Schluss sein. Die 1929 mit Der nasse Fisch beginnende und sich mit jedem weiteren Band fortschreitend einem weiteren Jahr deutscher Geschichte widmende Kriminalreihe war von Beginn an ein Erfolg und eine so erhellende wie unterhaltende Lehrstunde zum Thema nationalsozialistische Machtergreifung. Irgendwann entschloss sich Autor Volker Kutscher, sie bis 1938 und damit dem zehnten Band fortzuführen, Transatlantik ist nun also der vorletzte und spielt im Jahr 1937.
Nach Olympia 1936
Den Vorgänger Olympia beendete Volker Kutscher ungewöhnlich mit einem leicht verwirrenden Epilog, auf den allerdings ein vorgestellter Prolog bereits verwies. „Die Vergangenheit hatte ihn (Anm. Rath) eingeholt“ hieß es da. Und Auftritt hatte eine alte Bekannte, mit der man allerdings schon nicht mehr gerechnet hatte: Gräfin Sorokina. In den über fünfhundert Seiten dazwischen ging es aber um ganz etwas anderes, nämlich um ein sich im völkischen Taumel auf die Olympiade in Berlin vorbereitendes Deutsches Reich, um Morde im Umkreis der Sportveranstaltungen, um eine alte Rechnung des Erzschurken, SS-Mann Sebastian Tornow, und natürlich um den politisch unzuverlässigen, aber irgendwie mitlaufenden Kriminalkommissar Gereon Rath, seine deutlich kritischere Frau Charly, deren ehemaligen Pflegesohn Fritz Thormann, der sich in seiner neuen Pflegefamilie zu einem strammen Hitlerjungen zu entwickeln scheint, und um all die vielen, von den sechs zuvor erschienenen Romanen bekannten Personen.
Ein großes Plus der Gereon-Rath-Reihe (und eigentlich jeder guten Krimireihe) ist, dass den Figuren reichlich Platz für Entwicklungen gegeben wird. Und so sind viele davon den Kutscher-Leser:innen so gut bekannt, dass es nur kurz dauert bis sie wieder vertraut sind. Für den Kutscher-Neuling allerdings ist diese Figurenfülle mit all ihren Verflechtungen hingegen wahrscheinlich kaum zu durchschauen. Überhaupt ist besonders dieser neunte Band kaum ohne den Vorgänger, an den er auf interessante Weise anknüpft, zu genießen. (Vorsicht Spoiler für alle, die Olympia noch nicht gelesen haben!)
Wie geht es weiter mit Gereon Rath?
Olympia endete wie gesagt mit einem Epilog, der acht Monate nach der Handlung angesiedelt ist und in einem für die stets sehr detailreichen und sorgfältigen Rath-Romane untypischen Schnelldurchlauf die Stationen Gereons nach seiner vorgetäuschten Erschießung durch Reinhold Gräf, seine Wiederbegegnung mit Gräfin Sorokina und beider Reise im Mai 1937 mit dem Luftschiff Hindenburg (ja, da klingelte etwas ganz massiv!) nach New York abhandelte. Warum diese Eile, fragte sich da vielleicht so manche Leserin, so mancher Leser. Und war natürlich extrem gespannt, weniger ob als wie Rath das schreckliche Unglück von Lakehurst, bei dem der Zeppelin in Flammen aufging, überlebt hat.
Volker Kutscher verrät es in Transatlantik erst nach zirka der Hälfte des Romans. Davor breitet er die Monate, die er in Olympia im Epilog so gestrafft hat, vor uns aus. Er erzählt von der neuen Existenz Raths als Wilhelm Kessler, der in Wiesbaden als Weinlieferant vor der Verfolgung durch SS-Mann Tornow untergetaucht ist. Wie er dort zufällig Gräfin Sorokina wiederbegegnet, ihr bei der Beseitigung einer Leiche hilft und zum Lohn mit ihr nach New York fliegen darf. Und er erzählt von der Ungewissheit Charlys über seinen Verbleib. Das ist aber nicht ihre einzige Sorge. Fritze Thormann ist wegen seiner Aussage gegen einen Polizisten und der missglückten Flucht zu seiner Jugendliebe Hannah Singer in der geschlossenen psychiatrischen Anstalt gelandet, aus der Charly ihn zwar freiboxt, aber nur mit dem Ergebnis, dass er wieder zur Pflegefamilie Rademann zurück muss. Außerdem ist ihre Freundin Greta nicht nur seit Tagen verschwunden, sondern steht auch unter Mdem Verdacht, ihren Geliebten, den SS-Mann Klaus von Rekowski, umgebracht zu haben. Bald weiß Charly nicht mehr, wem sie noch trauen kann.
Komplexe Handlung
Der neunte Roman um Gereon Rath ist wieder hochkomplex, figurenreich, atmosphärisch und spannend. Er führt in die höchsten Kreise, bis auf den Landsitz Carinhall von Hermann Göring in Brandenburg. Für Neueinsteiger würde ich dringend einen der vorigen Bände empfehlen. Hiermit zu beginnen ist sicher ein wenig schwierig. Für alle „alten Rath-Hasen“ bietet Transatlantik nicht nur ein Wiedersehen mit all den bekannten Figuren, sondern die bewährte Mischung aus Spannung, Atmosphäre und historischer Genauigkeit. Volker Kutscher gelingt in seiner Krimireihe, die düsteren Veränderungen in Deutschland, den Übergang von Weimarer Republik zur absoluten Nazi-Diktatur als Prozess greifbar zu machen. Die Schilderung einer Luftschutzübung beispielsweise lässt spüren, wie die Menschen auf kriegerische Auseinandersetzungen förmlich eingeschworen wurden. Kutscher vermeidet dabei nicht jedes Klischee, aber bürstet sie meistens zumindest ein wenig quer.
Nun heißt es wieder ein wenig zu warten. Gleichzeitig wünscht man sich aber auch, dass der nächste, der zehnte Band nicht zu schnell kommt. Denn das wird dann das Ende einer wirklich sehr guten historischen Kriminalserie sein. Spuren dazu hat Volker Kutscher zumindest schon gelegt, mit einer „Ostpassage“ endet Transatlantik. Und mit an Bord ist nicht nur Gereon Rath, sondern auch sein einst vom Vater verstoßener Bruder Severin. Man darf gespannt sein.
Eine wunderbare Besprechung findet ihr auch bei Uwe Kalkowski Kaffeehaussitzer, der auch ein großer Fan der Reihe ist und bei Litterae artesque.
Beitragsfoto by Sam Shere (1905–1982), Public domain, via Wikimedia Commons
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Volker Kutscher – Transatlantik
592 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, € 26,00
Volle Zustimmung. Ich glaube auch nicht, dass Transatlantik letztlich verfilmt wird, dazu klaffen Serie und Buch zu weit auseinander.
Was die Raths dann in Deutschland machen werden, darauf bin ich sehr gespannt. Polizist kann Rath janicht mehr sein.
Kutscher hatte mal geäußert, dass die Reichspogromnacht nicht unerzählt bleiben sollte.
Hier meine Rezension: https://litterae-artesque.blogspot.com/2022/11/kutscher-volker-transatlantik.html
Viele Grüße vom Dresdner Bücherjungen
Hallo Uwe, ich verfolge die Verfilmung gar nicht mehr, betrachte sie auch eher als bloße Ideengeberin. Ich bin natürlich froh, dass Kutscher bis 1938 „verlängert“ hat. In einem Gespräch hat er, glaube ich, gesagt, dass 1938 für ihn der endgültige Moment war, an dem es kein Zurück mehr gab. Ich bin auch sehr gespannt, wie es den Raths gehen wird und wie sie wieder zueinander finden werden. Viele Grüße!