Ein intensives Lesejahr 2022 endet mit einer schönen Lektüre im Dezember:
Volker Kutscher – Transatlantik
Der mittlerweile neunte Gereon Rath-Roman von Volker Kutscher ist wieder großes Kino.
Es ist mittlerweile 1937 in Berlin, die Olympiade und damit die mühevoll aufgestellte Fassade eines modernen, offenen Deutschen Reichs sind vorbei. Gereon Rath ist dem Mordkomplott seines Widersachers Sebastian Tornow entkommen und untergetaucht. Charly muss mit der Ungewissheit über sein Schicksal leben und sich gleichzeitig um die Zukunft ihres ehemaligen Pflegesohns Fritze sorgen. Als wäre das nicht schon genug, verschwindet ihre Freundin Greta und wird bald als Hauptverdächtige im Mordfall am SS-Mann Klaus von Rekowski, ihres ehemaligen Liebhabers, gesucht.
Gewohnt komplex und eher nicht für einen Neueinstieg in die Serie geeignet, spannend, detailreich und historisch erhellend, lässt die Krimiserie auch bei Band 9 – der vorletzte – nicht nach.
Anuk Aradpragasam – Nach Norden
Eine Zugfahrt von Colombo in den Norden von Sri Lanka nutzt der junge Protagonist Krishan, um über seine vergangene Liebe zur Aktivistin Anjum, die sich vor Kurzem per E-Mail bei ihm gemeldet hat, über seine Kindheit und Jugend in einem von Bürgerkrieg zerrissenen Land, die Wunden, die dieser zurückgelassen hat und seine Familie nachzudenken. Dabei beobachtet er aber auch seine Mitreisenden und die sich verändernde Landschaft. Ziel ist die Beerdigung von Rani, der ehemaligen Pflegerin von Krishans Großmutter, die beim Sturz in einen Brunnen ums Leben gekommen ist. Rani war nach dem Verlust beider Söhne durch den Krieg schwer traumatisiert und depressiv. Aradpragasam nimmt sich viel Zeit fürs Erzählen. Nach Norden ist ein langsames, ein hoch reflektiertes, manchmal sogar philosophisches Buch. Es thematisiert einen wenig beachteten Konflikt, verknüpft ihn mit einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte und ist von großer sprachlicher Schönheit. 2021 stand es völlig verdient auf der Shortlist zum Booker Prize.
Leïla Slimani – Schaut, wie wir tanzen
Der zweite Teil der autobiografischen Trilogie von Leïla Slimani schließt locker an Das Land der Anderen an. Die Tochter Aïcha studiert nun Medizin im Elsass, es sind die späten 1960er Jahre und auch in Marokko verlangt die Jugend nach mehr Freiheiten, nach dem Lösen alter Fesseln und einem neuen Zusammenleben der Geschlechter. Zumindest die gebildete Elite, die Studenten, die sich an den Westen und die alte Kolonialmacht Frankreich orientierenden Bevölkerungskreise. Sowohl die häufig noch bitterarme, traditionell orientierte Landbevölerung als auch das autoritäre Regime unter König Hassan II sehen das mit Argwohn. In ein Land unterdrückter Proteste, in das aber Hippies aus aller Welt auf der Suche nach freiem Leben pilgern, kehrt Aïcha zurück, zu ihren Eltern, die sich weitgehend entfremdet haben, zu ihrem orientierungslosen Bruder Selim, zu ihrer sich prostituierenden Tante Selma und dem beim Geheimdienst arbeitenden Onkel Omar. Eine zerrissene Welt. Leïla Slimani gelingt wieder ein atmosphärisch dichtes, mitreißendes Porträt ihrer Familie und des Landes. Unbedingt lesenswert!
Mathijs Deen – Der Holländer
Mathijs Deen wählt einen eher ungewöhnlichen Ort für seinen Kriminalroman – das Wattenmeer. Hier im deutsch-niederländischen Grenzgebiet wird ein in Fachkreisen sehr bekannter Wattwanderer tot auf einer Sandbank aufgefunden. Der niederländische Grenzschutz, genauer die kurz vor der Pension stehende Geeske Dobbenga, findet den Leichnam und relativ bald kommen Steitigkeiten zwischen den niederländischen und deutschen Behörden auf, wer für den Toten zuständig ist. Die deutsche Polizei hat dafür den idealen Beamten: Liewe Cupido, zweisprachig auf Texel aufgewachsen, übernimmt den Fall, bei dem zunächst von einem tragischen Unfall ausgegangen wird. Klaus Smyrna war mit seinem Kollegen Peter Lattewitz vom ostfriesischen Festland aus auf dem Weg durchs Watt nach Borkum. Eine äußerst schwierige, fast unmögliche Wanderung, für die ganz bestimmte Bedingungen wie Nipptide, strammer Ostwind und ein spezieller Luftdruck herrschen müssen. Und die dennoch gefährlich ist. Der sonst meist Dritte im Wanderbunde, Aron Reinhold, befand sich gerade mit seiner Frau Maria in England und konnte deshalb an dieser spektakulären Wanderung nicht teilnehmen.
Laut Aussage von Peter verschwand Klaus plötzlich bei der Durchquerung eines Priels und wurde von der Strömung mitgerissen. Aber der Fundort der Leiche passt nicht zu den Strömungsverhältnissen dieses Teils der Nordsee. Außerdem weist Klaus eine Wunde am Kopf auf. Als die Obduktion schließlich ergibt, dass der Tote nicht ertrunken sondern erstickt ist, vermutet man zunächst einen akuten Asthmaanfall. Aber der nach dem tragischen Tod seiner Frau Helen bei einem Segelausflug zu psychotischen Schüben neigende Peter macht sich verdächtig, hatte bei der Wanderung merkwürdige Erscheinungen. Liewe Cupido ermittelt ruhig und unaufgeregt. Er ist wortkarg, aber auch empathisch und nähert sich beharrlich der dann doch etwas sehr konstruierten Auflösung. Dennoch ist Der Holländer wegen seiner atmosphärisch stark geschilderten Kulisse und dem sehr ruhigen, fast entschleunigenden Tempo eine Empfehlung für einen etwas anderen Kriminalroman.
Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter
Ich habe den Klappentext und eine Leseprobe dieses für den Deutschen Buchpreis 2022 auf der Shortlist platzierten Romans gelesen und auf verschiedenen Veranstaltungen eine sehr sympathische Autorin Daniela Dröscher erlebt. Ich war mir sicher, dass ich dieses Buch lieben würde. Und doch fällt mein Fazit leider nicht so ganz positiv aus. Die Geschichte einer recht unglücklichen Kindheit in einer dysfunktionalen Familie der 1980er Jahre, eines mit einer toxischen Männlichkeit gesegneten Vaters, der das Übergewicht seiner Frau nicht nur nicht akzeptiert, sondern es zum Grund für seine berufliche Mittelmäßigkeit und sein gesellschaftliches Scheitern macht, und eine Mutter, die zwar sehr darunter leidet, aber nicht zerbricht, ist nicht nur sehr autobiografisch gefärbt, sondern von der Konstellation her sehr interessant. Der fast manische Aufstiegswillen des Bauernsohns, der durch Hausbau, Tennisverein und schickes Auto Anschluss an die gehobenen Kreise sucht, dessen völlig danebengehende Selbsteinschätzung und herablassende Verachtung seiner Frau und deren aus Schlesien stammender Familie – das hätte genauso spannend sein können wie der Konflikt der zu Beginn sechs, später zehn Jahre alten Tochter, die ihre Mutter zwar liebt, aber sich wegen deren (vom Vater vielleicht nur eingeredeten) Leibesfülle schämt. Leider entsteht daraus kein wirklich packender Roman.
Das Erzählte bleibt trotz aller Tragik seltsam oberflächlich, oft redundant und vor allem die Figuren sind bedauernswert eindimensional gezeichnet. Besonders der Vater erscheint oft wie ein Abziehbild. Das Ganze wird durch die Hörbuchfassung, die ich überwiegend gehört habe, womöglich intensiviert. Die Sprecherin Sandra Voss, die den Figuren einen eigenen Klang geben will und damit deren Schablonenhaftigkeit extrem unterstreicht – Vater pausenlos aggressiv, Tochter kleinlaut, Mutter unterdrückt etc. – , tut dem Text damit keinen Gefallen. Schade, in der Geschichte stecken viele spannende Themen. Die Umsetzung konnte mich leider nicht richtig abholen. Auch die zwischengeschobenen essayistischen Abschnitte, in denen die Erzählerin von heute analysierend zurückblickt, empfand ich als eher banal und störend. Es gibt dennoch eine Lese-, aber keine Hörempfehlung.
Nathan Harris – Die Süße des Wassers
Dies ist eine der Buchüberraschungen des Jahres für mich. Ein historischer Roman aus der Zeit der Sklavenbefreiung nach der Niederlage der Konföderierten 1865, der Debütroman eines jungen texanischen Autors (Jahrgang 1991), der zwar in den USA viel beachtet wurde (Longlist Booker Prize und Dylan Thomas Prize, New York Times Bestsellerliste), hier in Deutschland bisher aber unter dem Radar der meisten Feuilletons und des breiten Publikums blieb, entwickelte sich zu einem der von mir am liebsten gelesenen Bücher 2022. Wie der „Observer“ so schön schrieb, „Ein herausragender, poetischer Roman, der einer vermeintlich auserzählten geschichtlichen Epoche neues Leben verleiht.“
Die Geschichte von zwei freigelassenen jungen Schwarzen in den Wirren des endenden amerikanischen Bürgerkriegs, eines Weißen Farmers in Georgia, der diese bei sich arbeiten lässt, und wie nicht nur Rassenhass, sondern auch Homophobie und toxische Männlichkeit einem im historischen Zusammenhang fast utopistisch anmutenden Lebensentwurf den Garaus machen, ist nicht nur ungemein erhellend, sondern auch eine ganz besondere Lesefreude. Eine dem Buch vorangestellte Rechtfertigung des Verlags zu verwendeten diskriminierenden und eindeutig rassistischen Begriffen und Szenen erscheint mir im Zusammenhang mit dem Thema völlig überflüssig, muss aber anscheinend mittlerweile so sein und hält hoffentlich nicht von der Lektüre des Buches ab. Der Rassenhass in den USA hat eine ganz spezifische Geschichte, jenseits des Fremdenhasses, der leider überall tobt. Sie sich noch einmal zu vergegenwärtigen, bietet Die Süße des Wassers eine gute Gelegenheit.
Tillie Olsen – Ich steh hier und bügle
Vier schmale Erzählungen sind neben dem großen essayistischen Werk Was fehlt. Unterdrückte Stimmen in der Literatur von der 1912 geborenen und 2007 gestorbenen US-Amerikanerin Tillie Olsen nun auf Deutsch veröffentlicht. Schon sehr früh politisch und gewerkschaftlich engagiert und mit Texten über Arbeiterleben und soziale Gerechtigkeit erfolgreich, kam der jungen Schriftstellerin, wie man so schön sagt, das Leben in die Quere. Zwei Ehen, vier Töchter, der Zwang, schlecht bezahlte Jobs anzunehmen, führten dazu, das Olsen lange Zeit nicht schriftellerisch tätig war und ihr Werk recht überschaubar ist. In ihren Stories Ich steh hier und bügle, erzählt sie von Mutterschaft und Frausein, über Ehe, Enttäuschungen und Altern, Diskriminierung und Unterdrückung. Sie macht das formal so originell und vielseitig und so modern, dass die Lektüre der 1961 zuerst veröffentlichten Erzählungen immer noch sehr aktuell anmutet.
Tara June Winch – Wie rote Erde
Tara June Winch ist eine Aboriginal Wiradjuri-Autorin, die in Paris lebt und mit Wie rote Erde ein Buch (auch) über die Sprache und Traditionen der Wiradjuri geschrieben hat. Die in London jobbende August kehrt zur Beerdigung ihres Großvaters in ihr kleines Heimadorf Massacre Plains in New South Wales zurück, um ihrer Großmutter beizustehen. Sie und ihre Schwester sind bei den Großeltern aufgewachsen, die Mutter war damals schon drogenabhängig und sitzt nun im Gefängnis. Die Rückkehr und der Versuch, die Vertreibung der Großmutter aus ihrem Haus durch eine Zinnminengesellschaft zu verhindern, bilden die eine Erzählebene. In einer zweiten Ebene werden Wörter der Wiradjuri-Sprache übersetzt und mit kurzen Geschichten und Beschreibungen der Landschaft, Tier- und Pflanzenwelt ergänzt. Eine dritte Ebene bildet der lange Brief eines Missionars von 1915, der den brutalen Umgang der Kolonialmächte mit den Aboriginal Australiens anprangerte, ohne seine eigene Position tiefer zu durchdenken. Das Verschwinden von Augusts Schwester als Jugendliche ist ein Familiengeheimnis, das schließlich auch aufgedeckt wird. Wie rote Erde ist ein aufschlussreiches, spannendes Buch, das ich sehr gern gelesen habe.
Schließlich habe ich noch Dörte Hansens Bestseller Zur See im Dezember gelesen. Ihr zutiefst menschliches Buch über die Menschen auf einer kleinen Nordseeinsel ist melancholischer als ihre beiden Bestseller Altes Land und Mittagsstunde, weniger lustig. Sehr gern gelesen habe ich es aber trotzdem. Es hat leisen Humor, unvergessliche Figuren und viele Einsichten. Ich werde es demnächst ausführlich vorstellen.
*******************************************************************
Schließen möchte ich meinen Überblick zur Lektüre im Dezember 2022 mit einem kleinen Blick auf die Statistik. Ich habe insgesamt 110 Bücher überwiegend gelesen, hin und wieder gehört, gerne auch in Kombination. 65 davon stammen von Autor:innen, gut ein Drittel davon haben mir sehr gut bis hervorragend gefallen. Totalausfälle waren wenige dabei, nur ein Buch habe ich abgebrochen. Die allermeisten Titel haben es zu einer Rezension hier auf dem Blog geschafft.
Neben zwei Buchmessen und der Literaturtagung in Lech habe ich zwanzig Lesungen, überwiegend in Frankfurt am Main besucht, mir etliche Bücher signieren lassen, nette Gespräche mit Autor:innen geführt und viele, viele Büchermenschen getroffen. Es war ein anregendes, bereicherndes, ausfüllendes Bücherjahr 2022. Vielen Dank dafür!
.
Nun wünsche ich euch ein tolles neues Jahr mit ganz viel guter Lektüre und auch sonst vielen schönen Momenten. Schön, dass ihr da seid!