Tara June Winch – Wie rote Erde

So fern sich die Länder und Kontinente auch sind, so erschreckend ähnlich waren doch die Mechanismen und Praktiken, mit denen die Weißen Kolonisatoren indigene Völker missachteten, diskriminierten, unterdrückten und teilweise vernichteten. Habe ich die entsetzlichen Vorgänge in den kanadischen Residential Schools zum überwiegenden Teil erst in den letzten beiden Jahren durch die Beschäftigung mit Literatur mit First Nations Autor:innen erfahren, hat mir nun die 1983 geborene und in Paris lebende Wiradjuri-Autorin Tara June Winch mit ihrem Roman Wie rote Erde gezeigt, dass mit den Aboriginal Australiens (auch das habe ich gelernt: „Aborigines“ gilt als eher abwertender Begriff) ähnlich, aber noch viel grausamer – falls man ein solches „Ranking“ aufmachen darf oder will – umgegangen wurde.

Rückkehr nach Massacre Plains

Die Ausgangsituation des Romans ist eine bekannte: Die junge August, die schon früh aus ihrem Heimatort Massacre Plains, einem gottverlassenen Ort irgendwo in New South Wales am Ufer des Murrumby (die Orte sind fiktiv), nach London geflohen ist, wo sie sich aber als Tellerwäscherin nur gerade so über Wasser hält, ist zur Beerdigung ihres Großvaters Albert zurückgekehrt. Hier lebt die Großfamilie Gondiwindi seit Generationen auf dem Gelände der ehemaligen Missionsstation Prosperous. Die Zeiten sind hart und werden immer härter. Durch anhaltende Dürren sind die Farmer häufig verschuldet, die Arbeitslosigkeit ist hoch und viele Menschen dem Alkohol verfallen. Die Jungen ziehen weg oder treten in die Army ein.

Augusts Mutter Jelene ist seit langem drogenabhängig und sitzt im Gefängnis. August und ihre ältere Schwester Jedda sind bei den Großeltern aufgewachsen. Zu diesen haben sie beide ein liebevolles Verhältnis, vor den sie umgebenden Gefahren können die sie aber nicht wirklich schützen. Jedda verschwindet als Teenager und jede Spur verliert sich. Das ist eine Leerstelle, die immer noch schmerzt. Nun droht eine neue Gefahr: auf dem Prosperous-Gebiet und im benachbarte Southerly soll eine Zinnmine errichtet, die Bewohner enteignet und vertrieben werden. Ihrer Nana Elsie beizustehen, sieht August als neue Aufgabe, die sie bleiben lässt. Zusammen mit ihre Tante Missy und dem Cousin Jeremy suchen sie nach Aufzeichnungen, die der Großvater in den letzten Monaten vor seinem Tod verfasst hat, und die zeigen könnten, dass die Gondiwindis mit Prosperous kulturell verbunden sind, was wohl die Vertreibung erschweren würde. Doch die Bagger rollen bereits an.

Ein Wörterbuch der Wiradjuri-Sprache

In einer zweiten Erzählebene lesen wir diese verschollenen Aufzeichnungen, bei denen es sich um ein Wörterbuch der vom Aussterben bedrohten Wiradjuri-Sprache handelt. Die Begriffe werden nicht nur übersetzt, sondern mit kleinen Geschichten verbunden, mit Schilderungen von Tieren und Pflanzen, alten Mythen. Es zeigt, wie schwer die Übersetzung einer Sprache in eine andere ist, wenn die Lebenswelten so weit auseinanderklaffen wie die der First Australiens und der modernen Bevölkerung. Und die Aufzeichnungen geben uns Auskunft über das Schicksal von Jedda.

Die dritte Erzählebene umfasst einen langen Brief des deutschstämmigen Missionars Ferdinand Greenleaf von 1915, der sich über die grausame Behandlung der indigenen Bevölkerung, die wirklich sprachlos macht, den Entzug der Kinder ähnlich wie bei den kanadischen Residential Schools mit dem Ziel, die Traditionen und Verbindungen zu zerstören, vor allem aber auch über sein eigenes Schicksal beklagt. Als aus Deutschland stammender Einwanderer wird er nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Feind behandelt und seinerseits diskriminiert. Dieser Missionar Greenleaf ist eine interessante Gestalt, meint er es mit seiner Fürsorge für die Indigenen wohl wirklich ernst und gut, überdenkt er aber seinen eigenen Status als Kolonialist und privilegierter Weißer doch zu keinem Moment kritisch.

Aus allen drei Erzählebenen ist Tara June Winch mit Wie rote Erde ein so kraftvolles wie poetisches Buch gelungen, bei dem man gut und spannend unterhalten wird und nebenbei so einiges Berührendes über das Schicksal der Aboriginal Australiens erfährt. Das in seiner Kritik und Anklage so deutlich und zugleich so subtil ist, dass man niemals eine moralische Keule spürt und doch tief betroffen ist. Leseempfehlung!

 

Beitragsbild by 10ixta02 (CC BY-SA 2.0) via Flickr

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Tara June Winch - Wie rote Erde.

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Tara June Winch – Wie rote Erde
übersetzt von Juliane Lochner
Haymon Oktober 2022, 376 Seiten, gebunden, € 22,90

 

 

 

 

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