Helene Bukowski – Die Kriegerin

Lisbeth leidet seit ihrer Kindheit an einer schweren Neurodermitis. Zu dünnhäutig, zu durchlässig für innere und äußere Einflüsse scheint sie zu sein. Als Mädchen hat sie sich bereits abgesondert, niemanden wirklich nah an sich herangelassen, die Verheerungen auf ihrer Haut, die sie sich durch Kratzen zum Teil selbst zufügt, sorgsam verbergend. Nun ist ihr alles zu viel, die Ehe mit Malik, die Ansprüche ihres kleinen Sohns, der Job als Floristin, das eigentlich schöne Zuhause – zu eng. Helene Bukowski hat über Lisbeth einen erstaunlichen Roman geschrieben – Die Kriegerin.

Lisbeth bricht aus. Die Ostsee war schon in ihrer Kindheit ein Fluchtpunkt, die Sonne, das Salz tun der Haut gut. Der Bungalow, in dem sie mit ihrer Familie die Sommerferien verbracht hat, ist auch jetzt ihr Ziel. Vielleicht bringt er auch jetzt Heilung, kann Lisbeth Körper und Seele genesen lassen, so wie damals zum ersten Mal.

Die Kriegerin

Hier trifft Lisbeth auf „die Kriegerin“, die erst spät im Buch ihren Namen erhält: Florentine. Diesen so an den Beruf Lisbeths erinnernden Namen. Die beiden Frauen haben vor Jahren zusammen bei der Bundeswehr die Grundausbildung abgeschlossen. Wegen eines traumatischen Erlebnisses (ich spoilere hier ein bisschen, weil schon relativ früh im Roman klar wird, was geschah), einer Vergewaltigung durch einen Soldaten der Kaserne, verlässt Lisbeth die Bundeswehr und kehrt zurück nach Jena und zur Gärtnerei ihres Vaters. Wie die Ostsee ist die Beschäftigung mit Pflanzen, mit Blumen, das stete Herumwerkeln, die harte Arbeit, die der Beruf erfordert, immer gut für Lisbeth, und damit für den Zustand ihrer Haut und Psyche gewesen.

Dem Verhältnis und der Geschichte von Lisbeth und Florentine nähert sich das Buch nur langsam. In Rückblenden und Briefen erfahren wir mehr. Erfahren davon, wie Florentine bei der Bundeswehr arbeitet, als Fallschirmjägerin gefährliche Auslandseinsätze hat, Kosovo, Mali, Afghanistan. Helene Bukowski hat für Die Kriegerin viel recherchiert, bei Soldat:innen, beim Bund Deutscher EinsatzVeteranen, in wissenschaftlichen Werken über Posttraumatische Belastungsstörungen. Für viele der Soldatinnen erscheint es wichtig, sich und ihrer Umwelt beweisen zu können, dass sie genauso leistungsfähig sind wie ihre männlichen Kollegen, Herausforderungen genauso gewachsen. Für Lisbeth und Florentine ist daneben offensichtlich bedeutsam, sich mit dieser bestimmten Tätigkeit einen Panzer zuzulegen, sich unverletzbar zu machen, durch harte Arbeit, körperliche Anstrengung, Extremsituationen. Florentine hat diesen Wunsch, man könnte fast sagen Zwang, durch ihre Großmutter eingetrichtert bekommen. Diese hatte nach Kriegsende traumatische Fluchterfahrungen gemacht, transgenerationale Vererbung sozusagen.

annaperevozkina AdobeStock ID 248041987
Irritationen

Die Flucht an die Ostsee genügt Lisbeth diesmal nicht. Sie heuert auf einem Kreuzfahrtschiff als Floristin an, verschwindet für viele Jahre aus dem Leben von Mann und Kind. Hier habe ich das erste Mal richtig gestutzt (davor war schon die zufällige und sehr beiläufig geschilderte Begegnung von Lisbeth und Florentine nach Jahren ein wenig irritierend). Weniger, weil das Tabu der die Kinder verlassenden Mutter gebrochen wurde, als die Selbstverständlichkeit und Unbedingtheit, mit der das geschieht und von Malik auch akzeptiert wird. Solche Momente der Irritation werden dann immer häufiger, die Geschichte beginnt zu flirren.

Lisbeth und Florentine treffen sich jedes Jahr einmal im Bungalow. Immer wieder träumt die eine die Träume der anderen, scheint eine fast übernatürliche Verbindung zwischen den beiden zu bestehen. Lisbeth steht im Traum immer wieder auf einer öden Ebene, die vielleicht an die Landschaft Afghanistans erinnert, sie sammelt fast zwanghaft Steine, es erscheint immer wieder ein Hund. Alpträume, Halluzinationen, Flashbacks häufen sich. Und mir wurde langsam klar, dass sich Lisbeth und Florentine womöglich viel näher sind als man das zu Beginn annahm.

Vielschichtigkeit

Einige Rezensionen zum Roman, die nicht den gleichen Interpretationsansatz wie ich verfolgen (und den ich hier unter Vermeidung von allzu großen Spoilern auch nicht verraten mag), bemängeln die Unglaubwürdigkeit bestimmter Passagen, merkwürdige Zufälle, sogar Kitsch. Das wäre vielleicht angebracht, wenn Helene Bukowski mit Die Kriegerin nur einen Roman über Frauen bei der Bundeswehr, PTBS, über von Neurodermitis geplagte Menschen, Bindungsunfähigkeit oder sexuelle Gewalt hätte schreiben wollen. All das steckt auf eindringliche und überzeugende Weise auch drin. Ihr Buch ist aber so sorgfältig gebaut, so voller Motive und Bilder, dass man sich unweigerlich auf die Suche nach einer tieferen Ebene hinter dem Düster-Mysteriösen begibt. Die Motive der Blumen und Steine, der sich quasi auflösenden Schutzschicht der Haut und des Zwangs, sich selbst zu verletzen, die Gemeinsamkeiten von Armee und Kreuzfahrtschiff (Uniformen, Drill, schwere körperliche Arbeit), die Mädchenbande, die rosa Vögel und die Stare etc.

Hier ist ein Mensch tief traumatisiert und muss erst allmählich lernen, keine Schuld daran zu haben. Auch wenn der Ozean mit seinem heilenden Wasser und Salz noch so weit entfernt ist, „eigentlich war überall schon mal Meer.“ Mir ist schon lange nicht mehr ein so vielschichtiges, eindringliches und tief bewegendes Buch begegnet.

 

Weitere Besprechungen beim Bookster HRO und bei booksnotdead

Beitragsbild: Adobe-Stock manu ID #41516804

_____________________________________________________

*Werbung*

Helene Bukowski - Die Kriegerin.

.

Helene Bukowski – Die Kriegerin
Blumenbar September 2022, Hardcover mit Klappen, 256 Seiten, € 23,00

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert