Kenneth Fearing. Nie gehört? Selbst eingefleischte Krimileser:innen wissen zu dem 1902 in Illinois geborenen und 1961 mit nur 59 Jahren verstorbenen Autor hierzulande wenig oder nichts zu sagen. Denn obwohl er in den USA und in anderen europäischen Ländern mit seiner Lyrik, seinen sieben Romanen und – was nicht unbeträchtlich zu seinem Lebensunterhalt beigetragen hat – seinen Geschichten für Pulp-Magazine durchaus erfolgreich war, wurde keiner seiner Texte bisher auf Deutsch veröffentlicht. Dabei ist zumindest sein vierter Thriller, Die große Uhr, ein Noir-Klassiker, taucht in vielen Bestenlisten auf, wurde zweimal verfilmt und brachte Kenneth Fearing sogar die Bewunderung von Raymond Chandler ein, der ansonsten mit Lob eher geizte. Im Elsinor Verlag ist nun endlich eine deutsche Ausgabe in der Übersetzung von Jakob Vendenberg, herausgegeben von Martin Compart, der auch ein informatives Nachwort beisteuerte, erschienen.
Die Story ist eine für einen Noir-Thriller recht typische. George Stroud, Redakteur eines True-Crime-Magazins im riesigen Medienimperium von Earl Janoth, beobachtet zufällig, wie dieser mit seiner Geliebten Paulin Delos deren Apartmenthaus betritt. Kurze Zeit später ist die schöne Blondine tot. Wir Leser:innen wissen sowohl, dass Janoth tatsächlich der Mörder ist, als auch dass George in den Tagen davor eine heftige Affäre mit der Freundin seines Chefs gehabt hat und dieser ihn am Abend der Tat vor dem Apartmenthaus gesehen, aber nicht erkannt hat. Da Janoth aber befürchtet, dass der „Unbekannte“ seinerseits ihn identifizieren und bei der Polizei melden könnte, setzt er „seine“ Medienleute darauf an, diesen zu finden. Die Leitung dieser Sache überträgt er keinem anderen als George Stroud. Der muss nun gegen sich selbst ermitteln und natürlich diese Ermittlungen möglichst verschleppen und manipulieren.
Verfolgungsjagd
Die Leser:innen sind stets im Wissensvorsprung vor den Protagonisten, da Fearing unterschiedliche Personen chronologisch fortschreitend erzählen lässt. Die wichtigste davon ist George Stroud, als Ehebrecher, Säufer und windiger Journalist einerseits kein wirklicher Sympathieträger, andererseits aber auch liebevoller Vater, Kunstliebhaber und loyaler Kollege. Fearing zeichnet all sein Personal sehr ambivalent und interessant. Neben Stroud erhalten noch Earl Janoth, dessen Kompagnon, zwei „ermittelnde“ Journalisten, Georges Frau und eine Malerin, deren Bild eine Rolle spielt, eine Stimme. Dieses Bild, das George Stroud zusammen mit Pauline Delos in einem Antiquitätenladen am Abend vor ihrer Ermordung gekauft hat, ist eine der heißen Spuren, die zu ihm führen, neben den gemeinsamen Besuchen in Gil´s Bar und einem Hotel. Bald schon sind die Verfolger ganz nah.
Existenzialistisch
Wem dieser Plot bekannt erscheint, hat vielleicht ein ähnliches Buch gelesen (sie sind gar nicht so selten) oder aber den Film „No way out“ (1987) gesehen, der – ziemlich verfremdet – Die große Uhr von Kenneth Fearing als Vorlage hat. Hier fehlt aber das, was das 1946 erschienene Original so besonders macht: die Nachkriegsatmosphäre. Auch wenn der Krieg überhaupt nicht erwähnt wird, es ist dieses Existenzialistische, Düstere, an keine Moral mehr Glaubende, diese grundlegende Verunsicherung der Menschen nach dem großen Morden in Europa, dem Börsenkrach, der Großen Depression die den Grundton des Thrillers bilden.
Die große Uhr, die dem Roman den Namen gibt, war für Kenneth Fearing nicht nur die unerbittlich verrinnende Zeit, sondern auch die Mechanik einer Gesellschaft, in der der Einzelne nur noch ein kleines Rädchen im Getriebe ist. (Einst unvergleichlich dargestellt in Charlie Chaplins Film Modern Times.) Gegen diese Gesellschaft, aber auch gegen die aufstrebende Medienindustrie, ihre Einverleibung und Manipulation der Menschen, ihre Skrupellosigkeit und Verlogenheit – etliche Romane und Filme dieser Zeit spielen im Verlags- und Zeitungsmilieu -, richtet sich auch Fearings implizierte Kritik. Das, die Atmosphäre und die Multiperspektivität lässt Die große Uhr neben dem geschickten Plot aus der Masse der Noir-Thriller hervorstechen.
Beitragsbild: everettovrk Adobe-Stock #104459494
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Kenneth Fearing – Die große Uhr
übersetzt von Jakob Vandenberg
Mit einem Nachwort herausgegeben von Martin Compart
Elsinor Herbst 2022, 200 Seiten, Klappenbroschur, 20,00 Euro
Liebe Petra Reich,
danke für die schöne Rezension. Aber eines muss ich berichtigen: Ich bin zwar Herausgeber und habe auch das Nachwort geschrieben, aber übersetzt wurde der Roman von Jakob Vandenberg (der auch schon den Mair und den Buchan für meine kleine Reihe ins Deutsche interpretierte). Ich hätte das nie so gut machen können (der Lyriker Fearing war eine ziemliche Herausforderung für eine Übersetzung, die ja immer eine Interpretation ist). Deshalb: Ehre wem Ehre gebührt. Und ich kann und will es mir nicht leisten, Vandenbergs Unmut zu erregen.
Aber das ist ja leicht zu klären.
Tolle Rezension, toller Blog!
Martin
Danke, lieber Martin. Das werde ich gleich richtigstellen. Es steht natürlich auch auf der zweiten Seite (warum erst dort? das ist tatsächlich ein wenig ungewöhnlich, aber der Fehler liegt natürlich absolut bei mir) und die Übersetzung ist wirklich toll und das Lob gebührt natürlich Jakob Vandenberg (dessen Unmut ich hoffentlich auch nicht geweckt habe). Danke dir aber für die schöne Reihe und die netten Worte zu meinem Blog. Viele Grüße, Petra
Deine berechtigte Bemerkung zur Platzierung des Übersetzers gebe ich an den Verleger weiter.
Danke!