Neues Jahr- Neues Leseglück : Lektüre im Januar 2023
Nach einem etwas holprigen Start mit Mohamed Mbougar Sarr wurde der Januar noch ein richtig guter Lesemonat mit einigen wirklichen Lese-Highlights. (Und wie verrückt ist es eigentlich, dass schon wieder ein ganzer Monat in 2023 vorbei ist und ich gefühlt in diesem Jahr noch gar nicht angekommen bin?). Besonders Die Romane von Aroa Moreno Duran und Jakob Guanzon finden meiner Meinung nach (noch) viel zu wenig Beachtung in den Besprechungen, beide Bücher sind richtig gut. Und die Neu/Wiederentdeckung eines großen Exilromans – Planet ohne Visum – müsste auch noch viel mehr gefeiert werden. Einzig Dörte Hansen erfährt aus meiner Lektüre im Januar 2023 die ihr gebührende Aufmerksamkeit – zu Recht.
Dörte Hansen – Zur See
Dörte Hansen ist ein Phänomen. Ihre in der norddeutschen Provinz spielenden Romane begeistern die Literaturkritik genauso wie das breite Publikum. Auf den Bestsellerlisten ist sie Stammgast. Ihr neuester Roman führt auf eine nicht benannte Nordseeinsel und erzählt in diesem Mikrokosmos von unvergesslichen Charakteren und von universellen Dingen wie Familie, Einsamkeit, Sehnsucht, Verlust und Verbundenheit. Wir begleiten die alteingesessene Familie Sander, die auf 300 Jahre Kapitänstradition zurückblickt. Die Vorfahren waren Grönlandfahrer und Walfänger, das schönste und prächtigste Inselhaus ist das ihre. Doch schon lange leben auf der Insel nur noch die Drenthe-Brüder vom Fischfang, Umsatz wird heute mit dem Tourismus gemacht und die Familie ist schon lange nicht mehr intakt. Vater Jens, einst als Kapitän auf hoher See, hat sich als Vogelwart in die Einsamkeit zurückgezogen. Mutter Hanne hält den Laden am Laufen, sorgt seit Kurzem wieder für ihren 40jährigen Sohn Ryckmer, weil der dem Alkohol verfallen ist. Tochter Eske ist Altenpflegerin und Heavy-Metal-Fan und der jüngste Sohn Henrik lebt als Treibgutkünstler. Und auch der Inselpastor hadert mit seinem Leben und seinem Glauben. Sie alle in ihrer Komplexität zu schildern, gelingt Dörte Hansen durch wechselnde, oft auch divergierende Erzählperspektiven. Sie erzählt ruhig und gelassen, eindringlich und atmosphärisch dicht. Ihre Sprache ist höchst musikalisch. Kleine Referenzen zu Klassikern wie Theodor Storm oder Herman Melville baut sie unaufdringlich ein. So ist ihr wieder ein ganz wunderbares, zutiefst menschliches Buch gelungen.
Es ist das Leben in der Provinz – die in Frankreich fast alles, was nicht Paris ist, umfasst – die Nicolas Mathieu in seinen psychologisch genauen Romanen ins Visier nimmt. Mit Wie später ihre Kinder gewann er damit 2018 den Prix Goncourt, ihm ist damit ein wirklich sehr guter, breiter Gesellschaftsroman gelungen.
Connemara beschäftigt sich nun vorwiegend mit zwei Protagonist:innen, siedelt ihre Geschichte aber in einem ähnlichen Umfeld an. Die kleine fiktive Kleinstadt Cornécourt liegt in der Nähe von Nancy und Épinal. Hier sind Christophe und Hélène aufgewachsen, zur Schule gegangen. Während Christophe, damals umschwärmter Eishockeystar, nie von Cornécourt fortgezogen ist und dort ein sehr mittelmäßiges Leben führt, hatte es Hélène eigentlich geschafft, ihren kleinbürgerlichen Verhältnissen und der tristen Provinz zu entkommen. Sie hat in Paris an einer Eliteuniversität studiert, ist in ihrem Job bei einer Consulting Firma sehr erfolgreich gewesen, hat einen attraktiven, erfolgreichen Mann geheiratet und zwei niedliche Töchter bekommen. Aber nach einem Burnout, hält es Hélène in der Hauptstadt nicht mehr aus. Zusammen mit ihrem Mann Philippe bezieht sie ein hübsches Haus außerhalb von Nancy, fängt einen neuen Job an. Abert in Hélènes Leben und Ehe kriselt es. Die Wiederbegegnung mit Christophe ist der Beginn oder die Wiederaufnahme einer leidenschaftlichen Affäre.
Nicolas Mathieu gelingt es wieder, sehr tief in die Psyche seiner Figuren einzudringen und ein authentisches Bild zu zeichnen. Im Buch steht Frankreich kurz vor der ersten Wahl von Emmanuel Macron. Das Land ist tief gespalten ist. Paris-Provinz, Reich-Arm, Elite – Normalbürger. Die Aufstiegschancen sind gering. Der Autor ist hier ganz dicht am Thema Klassenschranken und ganz nah an Kolleg:innen wie Annie Ernaux, Didier Eribon und Éduard Luis, vielleicht ein wenig epischer, ein wenig milder, weniger autofiktional.
Für meinen Geschmack erzählt Nicolas Mathieu in Connemara oft zu detailliert, gibt seinen psychologischen Grabungen zu viel Raum. Das ist teilweise ein wenig ermüdend. Dabei bleiben gerade die Hauptprotagonist:innen trotzdem ziemlich fern. Ein etwas strafferer Rahmen hätte der Geschichte gut getan. Es gibt allerdings auch wunderbare Szenen, beispielsweise eine ziemlich aus dem Ruder laufende Hochzeitsfeier gegen Ende. Hier erfahren wir auch, warum das Buch Connemara heißt, denn mit der so heißenden westirischen, seenreichen Landschaft hat Nicolas Mathieus Roman nichts zu tun. Der Titel ist vielmehr vom Chanson „Les lacs de Connemara“ aus den 1980er Jahren inspiriert, das man hierzulande eher nicht kennt, das in Frankreich aber anscheinend ein Evergreen, besonders gern auf größeren Festen gespielt, ist. Ein ganz so großer Wurf wie Wie später ihre Kinder ist Connemara vielleicht nicht, aber dennoch lesenswert.
Anita Leocádia Prestes – Olga Benario Prestes
Eine biografische Annäherung
Während Olga Benario Prestes in Brasilien, dem Heimatland des Vaters ihrer Tochter Anita und vielleicht Ehemanns (Nachweise der Eheschließung fehlen bis heute) Luiz Carlos Prestes sehr bekannt ist, sie auch in der DDR vielfach geehrt wurde, ist sie in der Bundesrepublik fast vergessen. (Im November 2022 wurde im Rahmen des Projekts Erinnerungszeichen für Opfer des NS-Regimes in München an ihrer ehemaligen Schule in München eine Gedenktafel für sie angebracht.) Als Tochter eines jüdischen, sozialdemokratischen Anwalts schloss sich die 1908 geborene Olga früh den Kommunisten an, arbeitete in der kommunistischen Jugendorganisation, durchlief eine militärische Ausbildung und wurde mehrfach verhaftet. 1934 lernte sie den brasilianischen Hauptmann Luiz Carlos Prestes kennen und ging mit ihm im Auftrag der KPD nach Südamerika, wo Prestes einen Aufstand junger Militärs gegen die herrschende Oligarchie und die damalige Regierung anführen sollte. Aus der Arbeitsbeziehung wurde Liebe. Nach dem Scheitern des Putsches wurden Prestes und Olga 1936 verhaftet. Olga war da bereits mit Anita schwanger, wurde aber trotz gegenteiliger Vereinbarungen an das Deutsche Reich ausgeliefert. Im Frauengefängnis Barnimstraße in Berlin gebar sie ihr Kind, das mit vierzehn Monaten zur brasilianischen Großmutter gegeben werden durfte. Diese setzte sich sehr für ihre Schwiegertochter ein, bewirkte Protestaktionen auch aus dem Ausland und mobilisierte einflussreiche Fürsprecher. Es nützte alles nichts. Als Volljüdin und „besonders hartnäckige und gerissene Kommunistin“ wurde ihr die mögliche Ausreise verweigert. Über die Zwischenstationen Lichtenburg und Ravensbrück wurde sie 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg in der Gaskammer ermordet.
Mir war Olga Benario Prestes zuvor unbekannt. Es gibt zwei ältere Biografien über sie, einen deutschen Dokumentarfilm, eine neuere Biografie mit Schwerpunkt auf Dokumenten aus bisher nicht zugänglichen Akten des Deutschen Reiches aus russischen Archiven und eine Veröffentlichung des Briefwechsels von Olga und Luiz Carlos Prestes. Die Tochter Anita hat sich nun im vorliegenden Buch auf 75 Seiten besonders der Zeit in deutscher Haft, ihrer eigenen Geburt und der Ermordung ihrer Mutter genähert. Sie tut das als Historikerin und Wissenschaftlerin völlig nüchtern, spricht von sich bis auf die letzten beiden Sätze in der 3. Person, niemals von „Mutter“. Wie auch, sie durfte sie niemals wirklich kennenlernen. Von ihrem Vater ist kaum die Rede. Er saß in Brasilien im Gefängnis, dennoch ist seine Nichtexistenz in der Annäherung verwunderlich. Gut ist deshalb die Entscheidung des Verbrecher Verlags, dem Text von Anita Leocádia Prestes noch ausgewählte Briefe des Paares und ein Interview mit der Autorin beizufügen.
Mohamed Mbougar Sarr – Die geheimste Erinnerung der Menschen
Es war vielleicht das Buch, auf das ich mich am meisten gefreut habe und von dem ich mir eigentlich sicher war, dass es mich begeistern könnte. Doch enthusiastische Kritiken sind nicht immer eine Garantie. Und so konnte mich nicht für sich gewinnen. Tatsächlich war mir die Lektüre eher Qual als Freude. Nicht, dass einzelne Teile mir nicht durchaus gefallen haben. Wer als Literaturliebhaber:in liest nicht gern über die Macht des Geschriebenen, den Zauber von Literatur? Und wie Mohamed Mbougar Sarr die verschiedenen Ebenen seines Romans verschränkt, ohne Absatz und Übergang den senegalesischen Schriftsteller Diégane Latyr Faye sich von der Schriftstellerin Siga D. in Paris erzählen lässt, was diese sich Jahrzehnte zuvor von einer haitianischen Schriftstellerin in Argentinien und einer französichen Literaturkritikerin über den afrikanischen Schriftsteller T.C. Elimane, der seit den Plagiatsvorwürfen zu seinem erfolgreichen Roman von 1938 verschwunden ist, berichten ließ, lässt schwindeln und liest sich doch so flüssig, dass man wirklich von großer Kunst sprechen muss. Und von einer gewissen Kühnheit.
Die Auswirkungen von Kolonialismus und Rassismus im Literaturbetrieb – darauf wirft Sarr einen ironischen, bitteren Blick. Eine seneglesiche Familiengeschichte (die von Elimane), afrikanische Studenten und Kunstschaffende in Europa, Studentenunruhen in Dakar – für mich gab das alles keine runde Geschichte, die ich gern gelesen hätte, zu verkopft, zu sehr um Bedeutung bemüht, nicht mein Buch. Der Lobeshymnen gibt es hingegen viele. Die Leser:innen schwärmen von der Vielfalt der Bedeutungsebenen, dem Stil, der Originalität. 2021 erhielt Die geheimste Erinnerung der Menschen den Prix Goncourt.
Helene Bukowski – Die Kriegerin
Lisbeth leidet seit ihrer Kindheit an einer schweren Neurodermitis. Zu dünnhäutig, zu durchlässig für innere und äußere Einflüsse scheint sie zu sein. Als Mädchen hat sie sich bereits abgesondert, niemanden wirklich nah an sich herangelassen, die Verheerungen auf ihrer Haut, die sie sich durch Kratzen zum Teil selbst zufügt, sorgsam verbergend. Nun ist ihr alles zu viel, die Ehe mit Malik, die Ansprüche ihres kleinen Sohns, der Job als Floristin, das eigentlich schöne Zuhause – zu eng.
Lisbeth bricht aus. Die Ostsee war schon in ihrer Kindheit ein Fluchtpunkt, die Sonne, das Salz tun der Haut gut. Der Bungalow, in dem sie mit ihrer Familie die Sommerferien verbracht hat, ist auch jetzt ihr Ziel. Vielleicht bringt er auch jetzt Heilung, kann Lisbeth Körper und Seele genesen lassen, so wie damals zum ersten Mal.
Hier trifft Lisbeth auf „die Kriegerin“, die erst spät im Buch ihren Namen erhält: Florentine. Die beiden Frauen haben vor Jahren zusammen bei der Bundeswehr die Grundausbildung abgeschlossen. Wegen eines traumatischen Erlebnisses, verlässt Lisbeth die Bundeswehr und kehrt zurück nach Jena und zur Gärtnerei ihres Vaters.
Dem Verhältnis und der Geschichte von Lisbeth und Florentine nähert sich das Buch nur langsam. In Rückblenden und Briefen erfahren wir mehr. Erfahren davon, wie Florentine bei der Bundeswehr als Fallschirmjägerin gefährliche Auslandseinsätze absolviert, während Lisbeth auf einem Kreuzfahrtschiff als Floristin anheuert und für viele Jahre aus dem Leben von Mann und Kind verschwindet. Langsam beginnt die Geschichte an zu flirren. Lisbeth und Florentine treffen sich jedes Jahr einmal im Bungalow. Immer wieder träumt die eine die Träume der anderen, scheint eine fast übernatürliche Verbindung zwischen den beiden zu bestehen. Und mir wurde langsam klar, dass sich Lisbeth und Florentine womöglich viel näher sind als man das zu Beginn annahm.
Ein Roman über Frauen bei der Bundeswehr, PTBS, über von Neurodermitis geplagte Menschen, Bindungsunfähigkeit oder sexuelle Gewalt – aber nicht nur. Bildreich erzählt Helene Bukowski von einer Frau, die tief traumatisiert ist und erst allmählich lernen muss, keine Schuld daran zu haben. Mir ist schon lange nicht mehr ein so vielschichtiges, eindringliches und tief bewegendes Buch begegnet.
Aroa Moreno Durán – Die Tochter des Kommunisten
Die junge spanische Autorin Aroa Moreno Durán erzählt in ihrem Debütroman die Geschichte von Katia, die in den 1950er Jahren mit ihrer Schwester Martina in Ostberlin inmitten des Kalten Krieges aufwächst. Der Vater der Mädchen flüchtete als Mitglied der kommunistischen Partei und Kämpfer auf der Seite der Republik bereits 1938 vor dem faschistischen Franco-Regime in die Sowjetunion und nach Kriegsende in die DDR. Dorthin holte er seine Frau nach und gründete eine Familie. Der Vater ist überzeugter Kommunist, die Mutter hat Heimweh und trauert vor allem um die abgerissenen Bande zu ihrer Familie. Als sich Katja eines Tages Hals über Kopf in einen jungen Mann aus dem Westen verliebt, gibt sie dessen Drängen eher unbedacht und spontan nach und begeht Republikflucht über die Tschechoslowakei nach Österreich. Katia bereut ihren Entschluss fast sofort, dennoch führt sie fast zwanzig Jahre eine mittelprächtige Ehe mit Johannes in dessen Heimatort Backnang in Schwaben. Aroa Moreno Durán erzählt ihre Geschichte auf nur 170 Seiten in datierten Episoden. Ihr gelingt dabei ein authentisch anmutender, genauer Blick sowohl auf die Nachkriegs-DDR als auch auf die „Bleierne Zeit“ der 1970er und 80er Jahre in der BRD. Prägnant, eindringlich und spannend vermeidet sie dabei jegliche Klischees und fängt doch die Atmosphäre erstaunlich bestechend ein.
Kenneth Fearing – Die große Uhr
Der 1946 erschienene Thriller Die große Uhr zählt als Noir-Klassiker, ist in Deutschland bisher aber leider nicht sehr bekannt. George Stroud, Redakteur eines True-Crime-Magazins im riesigen Medienimperium von Earl Janoth, beobachtet zufällig, wie dieser mit seiner Geliebten Paulin Delos deren Apartmenthaus betritt. Kurze Zeit später ist die schöne Blondine tot. Wir Leser:innen wissen sowohl, dass Janoth tatsächlich der Mörder ist, als auch dass George in den Tagen davor eine heftige Affäre mit der Freundin seines Chefs gehabt hat und dieser ihn am Abend der Tat vor dem Apartmenthaus gesehen, aber nicht erkannt hat. Da Janoth aber befürchtet, dass der „Unbekannte“ seinerseits ihn identifizieren und bei der Polizei melden könnte, setzt er „seine“ Medienleute darauf an, diesen zu finden. Die Leitung dieser Sache überträgt er keinem anderen als George Stroud. Der muss nun gegen sich selbst ermitteln und natürlich diese Ermittlungen möglichst verschleppen und manipulieren. Die Leser:innen sind stets im Wissensvorsprung vor den Protagonisten, da Fearing unterschiedliche Personen chronologisch fortschreitend erzählen lässt. Ein Roman mit Nachkriegsatmosphäre. Auch wenn der Krieg überhaupt nicht erwähnt wird, es ist dieses Existenzialistische, Düstere, an keine Moral mehr Glaubende, diese grundlegende Verunsicherung der Menschen nach dem großen Morden in Europa, dem Börsenkrach, der Großen Depression die den Grundton des Thrillers bilden.
Annie Ernaux – Das andere Mädchen
Das Foto wurde nicht versteckt, aber lange Zeit dachte Annie Ernaux, dass es sie mit ihren Eltern und ihrer Cousine zeige und nicht Das andere Mädchen, jene verschwiegene Schwester, die vor Annies Geburt sechsjährig an Diphtherie verstarb. Erst mit 10 Jahren hörte sie zufällig die Mutter mit der Nachbarin über diese „Doppelgängerin“ sprechen. Und auch nur, weil Eltern zu oft glauben, „Kinder hätten keine Ohren“. Wie sehr es das Mädchen verletzt und verstört haben muss, auf diese Weise von einer Schwester zu erfahren, besonders, weil die Mutter noch hinzufügen musst, dass diese „viel lieber als die da“ gewesen sein, lässt sich ahnen und versucht die Autorin in ihrem schmalen Buch auf die ihr eigene verknappte, soziologisch durchdringende Weise zu analysieren. Die Klasse in der Gesellschaft ist Annie Ernauxs großes Thema und auch in diesem so persönlichen Text fokussiert sie sich darauf. Die Eltern waren arm. Mehr als ein Kind konnten sie sich schwer leisten, das wird Annie bald klar. Lebt sie also nur, weil ihre Schwester zuvor gestorben ist. War sie also eine Art „Ersatz“?
„Ich wurde geboren, weil du gestorben warst, ich habe dich ersetzt.“
Sehr bald kommt sie dann darauf:
„Ich schreibe nicht, weil du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreibe, das ist ein großer Unterschied.“
„2010 schrieb Annie Ernaux Das andere Mädchen“, da war sie bereits 70 Jahre alt. Lange Zeit war die Existenz ihrer Schwester aus ihrem Leben verbannt, erst nach ihrem autobiografischen Text über den Vater, Der Platz, kam sie ihr wieder in den Sinn. Warum war das so und warum haben ihre Eltern sie zeitlebends totgeschwiegen? Was bedeutet diese verstorbene Schwester für Annie und was für das stets schwierige Verhältnis zur Mutter? Annie Ernaux nähert sich diesen Fragestellungen in einer Art Brief an die Schwester und bleibt ihrem kühl analysierenden, extrem verdichteten Stil einmal mehr treu.
Jakob Guanzon – Überfluss
Noch viel zu selten stehen Menschen am unteren Ende der sozialen Leiter im Zentrum von Romanen, das gilt für die deutschsprachige Literatur genauso wie für die US-amerikanische. Jakob Guanzon hat mit seinem Roman Überfluss genau das getan und mich restlos überzeugt. Er erzählt von einem alleinerziehenden Vater, der mit seinem Sohn in einem alten Ford Pickup haust, nachdem die drogensüchtige Mutter – Henry wurde gewalttätig gegen sie – abgehauen ist und sie den gemeinsam bewohnten Trailer verlassen mussten. Einen Job zu finden ist für den vorbestraften Henry schwierig, aber morgen hat er ein vielversprechendes Vorstellungsgespräch. Zunächst einmal will er den achten Geburtstag von Junior gebührend feiern – soweit das sein sehr beschränktes Finanzkonto erlaubt. Denn Henrys und Juniors Leben wird vom Geld bestimmt, von den wenigen Dollars, die ihnen am Tagesende bleiben. Folgerichtig sind die Kapitel auch mit dem entsprechenden Finanzstand überschrieben. Eingeschoben in die Kapitel, die von den zwei gegenwärtigen Tagen erzählen, sind solche, die in die Vergangenheit zurückgehen, in die Kindheit von Henry, der als Sohn eines von den Philippinen stammenden, strengen Vaters und einer früh verstorbenen Mutter aufwächst, als Jugendlicher auf die schiefe Bahn gerät; vom Kenenlernen von Henry und Michelle, ihrer kleinen, stets gefährdeten Familie, Henrys Gefängnisaufenthalt. Die Erzählung bleibt immer nah an Henry dran, der dadurch aber keineswegs wirklich sympathisch wird. Er bemüht sich, das kann man ihm nicht absprechen, aber manchmal würde man ihn gern auch mal durchschütteln. Bei allen gesellschaftlichen Schranken, an die er immer wieder stößt, trägt er einen Großteil der Schuld an seiner Misere doch auch selbst. Wie schwer das Ganze für den kleinen Jungen ist, bricht der Leserin das Herz. Jakob Guanzon schreibt darüber auf sehr bewegende, klare, direkte Art. Er ist so empathisch-mitfühlend wie schonungslos realistisch. Eines meiner Januar-Highlights.
Jean Malquais – Planet ohne Visum
Erstaunlich, welche Perlen manchmal erst Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung auf den Buchmarkt kommen. So auch der 1947 erschienene Exilroman des aus Polen stammenden und seit 1926 in Frankreich lebenden Jean Malaquais, der eigene Erfahrungen zu einem großen Zeitpanorama des Jahres 1942 in Marseille verarbeitet. Vor der Besetzung durch die Deutschen war die südfranzösische Hafenstadt eine der lezten Anlaufstellen für Menschen, die vor der Naziherrschaft fliehen mussten. Hier gab es vielleicht noch letzte Visa, hier abeitete der ERC (Emergency Rescue Committee) unter Varian Fry, hier gelang tatsächlich Vielen (vor allem Prominenten) in allerletzter Minute die Flucht nach Übersee. Ein ganz breites Figurenensemble, vielfältige stilistische Mittel und ein großes Erzähltalent – ein ganz außerordentlicher Exilroman, den es jetzt endlich zu entdecken gilt. Ganz große Leseempfehlung!