Jean Malaquais – Planet ohne Visum

Es ist wirklich erstaunlich, welche Meisterwerke der Exilliteratur heute, achtzig Jahre später, noch neu entdeckt werden, bei denen man sich fragt, wie sie vergessen oder sogar ganz übergangen werden konnten. So wie Planet ohne Visum von Jean Malaquais, das nun, 75 Jahre nach seinem Erscheinen, endlich auf Deutsch veröffentlicht wird. Der Edition Nautilus und vor allem seiner Übersetzerin Nadine Püschel sei Dank!

Ein schierer Zufall führte zu dem Buch, das wir nun in Händen halten dürfen. Auf einem Bücherflohmarkt in Marseille fiel Nadine Püschel ein gebrauchtes Buch namens Planéte sans visa in die Hände, das sie begeistert las und schnell auf die Idee brachte, es zu übersetzen. Mit der Edition Nautilus fand sich auch ein interessierter Verlag, der aber nach eigenem Bekunden die Kosten der Übersetzung dieses über 600 Seiten dicken Wälzers nicht stemmen konnte. Und da kam Corona mit ins Spiel. Dank des Sonderprogramms „Neustart Kultur“ des Bundeskultusministeriums waren die Mittel plötzlich da und das Projekt konnte umgesetzt werden. Da muss man dem kleinen, fiesen Virus sogar fast ein wenig dankbar sein.

Großartiger Exilroman

Denn mit seinem Exilroman Planet ohne Visum spielt Jean Malaquais in einer ganz hohen Liga, zusammen mit Autoren wie Anna Seghers, den Manns, Lion Feuchtwanger. Aber wie kann es sein, dass dieses Buch nie in Deutschland erschienen ist und der Autor zwar 1939 den Prix Renaudot für seinen Roman Les Javanais erhielt und auch das 1947 erschienene Planéte sans visa recht erfolgreich war und in verschiedene Sprachen übersetzt wurde, der Autor aber auch in Frankreich nicht zu den ganz Großen gehört?

Das mag wie in vielen ähnlich gelagerten Fällen auch am Zeitpunkt der Veröffentlichung liegen. Wie in Besprechungen manchmal gesagt wurde, war er „seiner Zeit weit voraus“. Zum einen war die vom Zweiten Weltkrieg verheerte und versehrte europäische Gesellschaft wenig interessiert an Büchern, die ihnen die vergangenen Jahre und ihre eigenen Verfehlungen noch einmal vor Augen führten. Das war in Deutschland so, und auch in Frankreich hörte man nicht gern, dass es eben nicht nur die tapferen Kämpfer der Résistance gab, sondern jede Menge Kollaborateure und Duckmäuser.

Marseille, Hafenviertel. Razzia 1943, Bundesarchiv, Bild 101I-027-1474-29A / Vennemann, Wolfgang / CC-BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Zum anderen bedient sich Jean Malaquais auch eines sehr komplexen, der Moderne des 20. Jahrhunderts verschriebenen Erzählstils, fragmentarisch, mosaikartig, was den Zugang für manche Leser:innen sicher auch erschwerte. Ein weiterer Grund für die eher zurückhaltende Rezeption von Planet ohne Visum im Nachkriegseuropa des Kalten Kriegs liegt aber wohl auch an der politischen Haltung des Autors.

Jean Malaquais alias Wladimir Malacki

Jean Malaquais wurde 1908 als Wladimir Malacki in eine säkulare jüdische Familie in Warschau geboren, verließ Polen aber schon früh und reiste durch Europa. Er bezeichnete sich als „tramp“, Kosmopolit und landete schließlich in Frankreich. Er war Kommunist, Marxist, Trotzkist und Antistalinist und nahm am Spanischen Bürgerkrieg teil. 1943 gelang ihm mit Hilfe von Varian Fry die Flucht aus Südfrankreich in die USA, später ließ er sich in Paris und Genf nieder, wo er 1998 starb.  Bereits 1942 begann er mit dem Roman, der schließlich 1947 erschien. In den späten 1990er Jahren arbeitete der mittlerweile hochbetagte Autor an einer (etwas gekürzten) Neufassung, der die Übersetzung von Nadine Püschel folgt.

„Rund zehn Freunde waren sie gewesen, die in Marseille gelandet waren, wie sie überall in ihrer hehren Heimat, dem in Zonen zerteilten, von Gefangenenlagern übersäten, mit Spitzeln durchseuchten Frankreich hätten landen können; (…) Eine Woche später waren sie wieder zurück, aufgedunsen und grün verfärbt, zwei auf dem Felsen der Madrague, der dritte an der Rhȏne-Mündung, und auch die Nussschale war wieder da, entmastet und kieloben. Zwei weitere hatten sich in den Pyrenäen, kurz vor Andorra, schnappen lassen; mit einem sechsten wurde kurzer Prozess gemacht, weil er das Verbrechen begangen hat, Jude zu sein. Der siebte war in die besetzte Zone zurückgegangen, um Telegrafenleitungen zu sabotieren.“

Marseille 1945

Jean Malaquais siedelt Planet ohne Visum im Marseille des Jahres 1942 an. Marseille war nach dem Zusammenbruch der französischen Verteidigung und den Waffenstillstandsverhandlungen von Marschall Pétain mit dem Deutschen Reich Teil der unbesetzten Südzone des französischen Nachfolgestaats „État français“, nach seinem Regierungssitz auch Vichy-Frankreich genannt, und einer der letzten Fluchtwege aus dem von den Nazis kontrollierten Europa heraus. Hier befanden sich etliche Konsulate und viele Verfolgte, besonders jüdischer Abstammung, erhofften sich, hier die begehrten Ausreisevisa zu erhalten.

Bundesarchiv, Bild 101I-027-1477-34 / Vennemann, Wolfgang / CC-BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Die Vichy-Regierung und ihre Organe kollaborierten aber umfassend mit der deutschen Militärverwaltung der Nordzone und auch die potentiell aufnehmenden Länder erschwerten die Ausreise vielmals durch notwendige Bürgschaften, geforderte Vermögensnachweise etc. Manchmal blieb nur die illegale Überquerung der Pyrenäen Richtung Spanien und dem neutralen Portugal, wo Lissabon ein weiterer Anlaufpunkt für Ausreisen war. „Feindliche“ Ausländer wurden in südfranzösischen Sammellagern wie Les Milles in Aix-en-Provence oder Gurs interniert. Die Wartezeit war für viele der Verfolgten quälend. Nach der Landung der Alliierten in Nordafrika im November 1942 besetzten Deutsche und Italiener auch die bis dahin unbesetzte Südzone Frankreichs und deportierten fortan auch von dort die jüdische Bevölkerung.

Breites figurenpanorama

Planet ohne Visum beginnt kurz zuvor im noch unbesetzten Marseille und zeichnet ein höchst komplexes politisches und soziologisches Bild. Der Autor wirft uns Leser:innen gleich hinein in ein vielstimmiges, breites Figurenpanorama. Ein Personenverzeichnis hätte dem Buch vllt. nicht geschadet, ich habe mir ein eigenes gemacht (plus kurze Handlungsabrisse der einzelnen Kapitel). Die Personen sind angelehnt an reale Menschen, wie den amerikanischen Journalisten und Fluchthelfer Varian Fry, den Antistalinisten Victor Serge, den Résistancekämpfer Marc Chirik oder Malaquais Förderer André Gide, und sehr nuanciert und ambivalent gestaltet. So ist auch Varian Fry nicht als strahlender Held, sondern als idealistischer, aber teils auch überforderter Retter dargestellt. Und ein verfolgter Jude kann sich durchaus auch als Antisemit herausstellen (und trotzdem empathisch geschildert werden). Politische Flüchtlinge, Juden, Kollaborateure, Nazis und die Vichy-Elite, alle tummeln sich im Roman und zeigen ein äußerst differenziertes Bild der Zeit.

„Er dachte, dass die Franquisten und Nazis und Stalinisten und Japaner nicht die Einzigen waren, die das Leben hassten, da waren die Türken gewesen, die die Armenier umbrachten, und die Puritaner, die die Rothäute niedermetzelten, und die Papisten, die die Ungläubigen und andere Katharer vernichteten, allesamt im Namen des barmherzigen Gottes, der, Grundgütiger, seinen Sohn den Erlöser ans Kreuz liefert und sein auserwähltes Volk ans Messer.“

I, Anima, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Mosaik

Jean Malaquais erzählt in einzelnen Episoden, fragmentarisch, wie ein Mosaik, das sich erst langsam zusammensetzt. Viele der Personen begegnen sich im Laufe der Geschichte, manche aber auch nie. Einige verschwinden für immer, andere tauchen nach vielen Kapiteln wieder auf. Zeitsprünge und Perspektivwechsel, Innensichten und Charakterstudien, innere Monologe und breite Diskussionen – der Autor bedient sich einer Fülle von Erzähltechniken. Dabei ist der Text trotz seiner Montagetechnik sehr genau, atmosphärisch und lebendig. Der Autor zeigt immer wieder einen wunderbaren Humor, der sogar zu manchen Slapstick-Szenen führt.

„Die Fischer, denen Netze, Ersatzteile und, um ehrlich zu sein, der Antrieb fehlten, wagten sich kaum noch aufs Meer hinaus, zumal das mit Bomben und Torpedos und treibenden Seeminen gespickte Mare Nostrum von den Fischen geächtet wurde, denn die waren ja nicht dumm. Auch die Sonntagsmaler – mehrheitlich Ausländer – waren verschwunden, weil sie keine Leinwände, Farben und Aufenthaltsgenehmigungen mehr hatten. Unverändert geblieben waren allein die strahlende Sonne und die milchige Himmelskuppel, die in der Ferne mit dem aus dem Meer aufsteigenden Dunst verschmolz.“

Wieder- und Neuentdeckung

Jean Malaquais geht hart ins Gericht. Nicht nur mit den deutschen Besatzern, sondern auch mit den vielen, vielen französischen Kollaborateuren. Das hat man auch in Frankreich sicher nicht gern gelesen. Auch sein kritisches Kriegstagebuch (Malaquais nahm auf französischer Seite am Krieg teil und wurde von den Deutschen gefangengenommen; ihm gelang die Flucht nach Südfrankreich) stieß auf wenig Interesse. Heute kann man nur stauen, dass dieses großartige, breit und komplex angelegte Zeitpanorama bisher noch nicht auf Deutsch zu lesen war. Beachtenswert ist auch, wie der Autor gegen verbreitete Misogynie anschrieb, auch da hochmodern und sehr empathisch. Mir bleibt nur, eine ausdrückliche Leseempfehlung für diesen von Nadine Püschel wunderbar übersetzten Roman auszusprechen. Für mich übertrifft er sogar moderne Klassiker zum Thema wie Anna Seghers Transit oder Lion Feuchtwangers Der Teufel in Frankreich.

Wir haben unser Möglichstes getan. Aber wir müssen eben das Unmögliche tun. Ich glaube an das Unmögliche. Was soll man der Verzweiflung sonst entgegensetzen?“

 

Beitragsbild: Marseille, unter deutscher Besatzung, 1940er by Hans-Michael Tappen (CC BY-NC-SA 2.0) via Flickr

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Jean Malaquais - PLANET OHNE VISUM.

Jean Malaquais – Planet ohne Visum
Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Nadine Püschel
Edition Nautilus September 2022, Gebunden, 664 Seiten, 32,00 €

 

 

 

 

 

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