Jakob Guanzon – Überfluss

Ein Vater und sein achtjähriger Sohn am unteren Rand der US-amerikanischen Gesellschaft: Henry und Junior leben seit einiger Zeit in ihrem alten Truck im mittleren Westen, nachdem sie aus ihrem Trailer rausgeworfen wurden. Sie waschen sich in öffentlichen Toiletten, essen, was sie sich gerade leisten können, und das ist nicht viel. Trotzdem versucht Henry, das Leben irgendwie wieder in den Griff zu bekommen, fährt den Kleinen täglich zur Schule, versucht eine gewisse Regelmäßigkeit. Wie die Beiden sich durchschlagen und wie es überhaupt so weit hat kommen können, davon erzählt Jakob Guanzon in seinem bewegenden Debütroman Überfluss.

Der Roman bewegt sich auf zwei Zeitschienen. Die erste begleitet Henry und Junior an zwei Tagen in der Gegenwart fast in Echtzeit. Es ist der achte Geburtstag des Jungen und Henry möchte ihm einen ganz besonderen Tag bereiten, trotz allem. Essen bei McDonalds inklusive Bällchenbad, ein Geschenk vom Sonderangebotstisch bei Walmart, ein großes Eis, obwohl dem Kleinen davon schlecht wird, und zur Krönung eine Nacht in einem richtigen Bett in einem Motelzimmer. Henry hat sich alles so wunderbar überlegt, sein schlechtes Gewissen, seinem Sohn ein so prekäres Leben zuzumuten, soll wenigstens für einen Tag verstummen. Am nächsten steht ein vielversprechendes Bewerbungsgespräch an, vielleicht wendet sich ja alles noch zum Guten.

Doch wie so oft, kommt es anders. Und wie so oft, schlechter. Junior ist traurig. Er vermisst sein Zuhause, auch wenn es nur ein heruntergekommener Trailer im Trailerpark am Stadtrand war. Und er vermisst seine Mutter Michelle, die nach einem Gewaltausbruch von Henry gegangen ist. Auch wenn sie drogenabhängig war und sich zuletzt kaum noch um ihn gekümmert hat. Aber sie waren trotzdem so etwas wie eine Familie. Und nun nicht mehr. Vielleicht war es das Eis, vielleicht auch nicht, aber Junior ist schlecht, er hat Bauchschmerzen, muss sich übergeben, bekommt hohes Fieber. Die Nacht im Motelzimmer wird zur Hölle. Bei einer Auseinandersetzung mit einem Zimmernachbarn schlägt Henry diesen nieder.

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Am nächsten Morgen muss Henry arbeiten, denn ihr Bargeld, das die jeweiligen Kapitelüberschriften bildet, bewegt sich mittlerweile im einstelligen Bereich, außerdem steht mittags das Vorstellungsgespräch an. Junior muss in die Schule, trotz Übelkeit und Fieber. Sicher eine der vielen Fehlentscheidungen, die Henry trifft, vielleicht treffen muss, und eigentlich sein ganzes Leben über traf. Denn in einer zweiten Zeitschiene erfahren wir, wie es mit Henry so weit gekommen ist.

Eigentlich war Henrys Start ins Leben kein schlechter. Die Eltern, beide Akademiker, lieben sich und schaffen ihrem Kind ein schönes Zuhause. Der Vater stammt von den Philippinen, arbeitet als Lehrer. Nach einer Aggression gegen einen Schüler verliert er allerdings seine Lehrberechtigung und muss fortan auf dem Bau arbeiten. Vollends verbittert er, als seine Frau schwer erkrankt, alle Behandlungsversuche, die ihm enorme Schulden einbringen, nicht helfen und sie stirbt. Henry distanziert sich zunehmend von seinem kühlen Vater, rutscht in die Drogenszene ab, schmeißt die Schule. Bei einer Therapie lernt er die an Bulimie leidende Michelle kennen, verliebt sich in sie und sie wird schwanger.

Henry ist glücklich, er freut sich auf Kind und Familie. Das Erbe seines Vaters, der bei einem Baustellenunfall ums Leben kommt, schafft ihnen wegen der Schulden nur wenig finanziellen Spielraum. Bald ist das Geld verpulvert und Henry lässt sich auf ein Drogengeschäft ein. Nach anfänglichem Erfolg erwischt ihn die Polizei bald nach der Geburt von Henry Junior und er muss für fünf Jahre ins Gefängnis. Junior wächst ohne ihn auf.

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Es ist diese Mischung aus ungünstigen Umständen, Fehlentscheidungen, Naivität und Dummheit, die Henrys Geschichte so glaubwürdig macht. Er ist kein schlechter Kerl, aber manchmal möchte man ihn als Leser:in gerne schütteln. Sein Verhalten gegenüber Junior ist verantwortungslos und dennoch will er ja nur das Beste für seinen Sohn. Aber wie kommt er da raus, als Vorbestrafter bekommt er so leicht keinen Job und keine Unterstützung, aus Michelles Trailer ist er rausgeflogen und Angehörige hat er keine. Henry wird sehr ambivalent geschildert. Er neigt auch zu Unbeherrschtheit und Gewalt, dennoch gehört ihm die Sympathie der Leserin. Die Geschichte bleibt auch ganz nah an ihm dran. Dennoch vermeidet sie jede Spur von Armutsromantik oder Wehleidigkeit.

Der Blick auf Armut, auf prekäre Lebensumstände, besonders wenn es Menschen aus der Mittelschicht trifft, auf Menschen, die wirklich hart arbeiten, durch persönliche Fehlentscheidungen oder unglückliche Umstände wie Krankheit, Unfälle o.ä. aber sehr schnell vom Weg abkommen können, ist in der Literatur immer noch viel zu selten. Das soziale Netz ist in den USA sicher noch viel löchriger, die individuelle Verantwortung wird hier noch viel höher gehängt als anderswo. Dennoch hat das Erzählte etwas Allgemeingültiges.

Die Geschichte von Henry und Junior auf bewegende, eindrückliche Weise zu schildern, ist Jakob Guanzon mit Überfluss sehr gut gelungen. Sie geht nicht gut aus. Guanzon lässt den Ausgang aber ein wenig offen. Und endet an einem lang vergangenen Frühlingstag, als alles noch so hoffnungsvoll aussah. Seinem Debütroman sind viele Leser:innen zu wünschen.

Eine weitere Besprechung in Haukes Leseschatz

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Jakob Guanzon - Überfluss.

Jakob Guanzon – Überfluss
Aus dem amerikanischen Englisch von Dietlind Falk
Elster&Salis Januar 2023, Gebunden, Seiten 384, € 25,00

 

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