Tatjana Gromača – Die göttlichen Kindchen

„Eine allgemeine Einführung in die Welt meiner Mutter, ihre persönlichen und gesamtgesellschaftlichen Krankheiten“ – so umschreibt Tatjana Gromača das erste Kapitel ihres Buchs Die göttlichen Kindchen. Und beginnt es gleich sehr drastisch:

„Es gibt verschiedene Arten von Messern, aber für das Abschlachten von Menschen im Krieg sind am besten etwas längere Exemplare geeignet, so wie Jagdmesser zum Schlachten von Wildschweinen.“

Um dann fortzufahren:

„Wenn es um Stichwunden geht, war die alte Frau eines alten Mannes – eines Freundes von Mutter und Vater – wohl unübertroffen, deren Körper nachweislich siebenundzwanzig Messerstiche erlitt, und die, man wird es kaum glauben, wie durch ein Wunder das Massaker überlebte, welches die Mehrzahl jener, denen es gelang , erfolgreich massakriert zu werden, nicht überlebte, damals zur Zeit des großen Schlachtens, während des großen sogenannten Zweiten Weltkriegs, der, wie mehr oder weniger bekannt ist, eine Menge minderen, aber nicht minderwertigeren Schlachtens nach sich zog, wobei das Schlachten, das die Ehefrau des Freundes von Mutter und Vater überlebte, mit Sicherheit zu den bemerkenswertesten gehörte, da es sich in einer Räumlichkeit sogenannter geistlicher, respektive sakraler Bedeutung, also in einer Kirche, zutrug, womit ihm im Umfeld des Krieges ein durchaus nicht zu vernachlässigender Wert zukam.“

Die Ich-Erzählerin beschreibt, oft in diesen langen, mäandernden Sätzen und mit diesem bissigen Zynismus, wie es ihrer Mutter erging, „als sich die Menschen über Nacht in wilde Tiere verwandelten“ und „der neue Kurs“ alles, was nach „östlicher Abstammung“ aussah, mit Misstrauen, Ausgrenzung und Hass verfolgte. Zwischen 1991 und 1995 tobte nach dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien auch in Kroatien ein blutiger Bürgerkrieg mitten in Europa.

Die Mutter der Ich-Erzählerin verliert aufgrund ihrer Abstammung ihr Zugehörigkeitsgefühl, ihren Platz in der Welt. Angst bestimmt ihr Leben, sie verfällt in eine langanhaltende Depression. Krankheit als eine Art Flucht.

„Zum Glück gab es das Krankenhaus, wo jeder sein konnte, was er war.“

Zwischen „guten“ Phasen liegen im Leben der Mutter immer wieder solche, in der sie sich völlig zurückzieht oder sogar stationär im Krankenhaus behandelt werden muss. Darüber geredet wird in der Familie kaum.

„Das, was ihr nicht behagte oder womöglich ein wenig schlecht war, wurde demnach unter den Teppich gekehrt.“

Der Krieg hat nach Ansicht der Ich-Erzählerin nicht nur einzelne Menschen, sondern eine ganze Gesellschaft gebrochen, mit der sie hart ins Gericht geht.

„Niemand verspürte das Bedürfnis, über die schrecklichen Tage zu sprechen, weil alle mit Tabletten vollgestopft waren (…)“

 

„Jeder in der Stadt musste Antidepressiva nehmen, sehr viel und ständig, weil in der jüngeren Vergangenheit dort etwas passiert war, das auf keinen Fall zugegeben werden sollte, denn allein das Geständnis über etwas beängstigend Schreckliches und Unmenschliches in der jüngeren Vergangenheit hätte gewissermaßen als Verrat gegolten.“

So werden in der Gesellschaft nach Kriegsende auch die in ihm verübten schrecklichen Taten totgeschwiegen, können die einstigen Täter wieder ihre alten Plätze einnehmen. Totgeschwiegen wie die herrschende Misogynie in der patriarchalen Gesellschaft, die Verachtung, der Hass, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Und so lernt auch bald die Ich-Erzählerin:

„Ein Sohn war durch nichts wettzumachen oder zu ersetzen.“

 

„Mutters Vater war keineswegs ein außerordentlicher Vater, nicht einmal darin für sie „ihr Gott“ zu sein, denn er gehörte zu den Millionen identisch erzogenen Vätern, die auf identische Weise ihren Nachwuchs erzogen. Sie gaben nur das weiter, was sie geerbt hatten und nicht besonders hinterfragten, sondern annahmen und blind befolgten. Dieser Vorstellung nach war jeder Mann Gott, auch schon im Mutterleib, und jede Frau eine Schande oder zumindest eine mögliche Schande, auch schon im Leib ihrer Mutter.“

Lakonisch, bitter, voll schneidendem Witz lässt Tatjana Gromača ihre Ich-Erzählerin in Die göttlichen Kindchen nicht nur von ihrer traumatisierten Mutter erzählen, sondern von einer Gesellschaft, an der sie wenig Gutes lässt.

„Durch systematische Einschüchterung, Verbote, Angst und Bestrafung wurden Menschen als Kinder getötet, um zu dem zu werden, was sie waren, und sie fristeten halbverdorrte Leben und trösteten sich, dass alle anderen genauso lebten und dass es nichts Besseres geben konnte.“

Bei aller analytischen Schärfe und aller Schonungslosigkeit wohnt den Aufzeichnungen eine gewisse Naivität inne, verlässt die Erzählerin nie ganz ihre beobachtende Kind-Position. Vielleicht deshalb verliert der Text aber auch bis zum Ende trotz aller Härte nicht die Hoffnung, zumindest auf eine Annäherung zwischen Mutter und Tochter.

 

Eine weitere Besprechung findet ihr bei Alexander Carmele von “Kommunikatives Lesen”

Beitragsbild: AdobeStock_126826188

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TATJANA GROMAČA - Die Göttlichen Kindchen.

TATJANA GROMAČA – Die Göttlichen Kindchen
Aus dem Kroatischen von Will Firth
STROUX edition, November 2022, 132 Seiten, Klappenbroschur, € 20,00

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