Wieder ein wunderbarer Lesemonat – die Lektüre im Februar 2023 war vielseitig, anregend, klug und und einige der gelesenen Bücher, wie Die Verwandelten oder Sibir haben tatsächlich Potential, Jahreshighlights zu werden. Fünf Bücher habe ich, teilweise schon in den Vormonaten, teilweise auch zum zweiten Mal für den Bloggerpreis Das Debüt gelesen. Auch das mit großem Gewinn.
Außerdem begann Ende des Monats für mich die Lesungs-Saison 2023 mit einer Veranstaltung im Hessischen Literaturforum in Frankfurt mit Dinçer Güçyeter und Ralph Tharayil.
Ulrike Draesner – Die Verwandelten
Ulrike Draesner hat mit ihrem großartigen Roman „Die Verwandelten“ ein drittes Buchzum Thema Flucht und Vertreibung vorgelegt, das mit „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ und „Schwitters“ eine Art lockere Trilogie bildet.
Diesmal stehen Frauenschicksale im Zentrum und reichen von der Zeit des Nationalsozialismus bis ins Heute. Der Lebensborn ist Thema, also Säuglingsheime, die der Förderung arischer Geburtenraten dienen sollten und zunächst anonyme Geburten rassisch genehmer Kinder ermöglichten (damit diese nicht abgetrieben wurden) und schließlich sogar regelrecht die Züchtung solcher Nachkommen betrieben. Vom Leid und Elend von Krieg und rassischer Verfolgung, von Vertreibung und immer wieder, was das vor allem für die Frauen, die damals lebten, bedeutete. Transgenerationelle Weitergabe von Traumata an die Kriegsenkel, die „Nebelkinder“, mit denen über die Vergangenheit kaum gesprochen wurde.
Im Mittelpunkt steht eine komplex zusammengesetzte deutsch-polnische Familie, die Kraft, Verzweiflung und Resilienz der Frauenfiguren. Und wie sich der Alptraum des Krieges bis heute fortsetzt und unfassbarerweise wieder erneut aktuell wird.
So komplex wie die familiären Verflechtungen ist auch Ulrike Draesners Roman. Multiperspektivisch, eine Reihe verschiedener Erzähltechniken heranziehend, lyrisch und sprachlich brillant. Herausfordernd, überwältigend und ungeheuer bereichernd wird mich „Die Verwandelten“ sicher noch lange beschäftigen. Ein Buch, das nachhallt und sicher eines der literarischen Ereignisse diesen Jahres. „Wenn jemand spricht, wird es hell“, so endet der Roman mit einem Zitat von Sigmund Freud. Ich wandle es ab. Auch wenn Autor:innen wie Ulrike Draesner schreiben, wird es hell.
Sergio del Molino – Leeres Spanien
Viermal bin ich bisher auf jeweils unterschiedlichen Routen mit dem Zug durch Spanien gefahren. Die sich über Hunderte von Kilometern hinziehenden Ebenen mit wahlweise Sonnenblumen, Olivenbäumen, Weinreben oder auch gar nichts werde ich genauso wenig vergessen wie die Öde der Wüste von Almeria, wo man ganze Wild-West-Dörfer besichtigen kann, in denen einst Italo-Western gedreht wurden. Leeres Spanien, ja das sagt mir etwas, und unterscheidet sich so dramatisch von den Großstädten wie Madrid, Barcelona, Bilbao und den dichtbesiedelten Küstenregionen. Mit seinem erzählenden Sachbuch Leeres Spanien hat Sergio del Molina 2016 dort einen Nerv getroffen und etwas losgetreten. Es wurde ein Riesenerfolg in Spanien und löste breite gesellschaftliche Diskussionen aus, schaffte es sogar in eine Parlamentsdebatte.
Die Landflucht nämlich und die damit einhergehende Verödung und Entvölkerung ganzer Landstriche hat Spanien natürlich nicht exklusiv, aber doch ganz vehement getroffen. Heute leben 75% der Bevölkerung in den Ballungsgebieten. 50% der Fläche Spaniens steht quasi leer, mit einer Bevölkerungsdichte wie in Lappland. Diese demografische Leere, diese überall anzutreffenden Geisterdörfer haben Del Molina als übers Land reisenden Reporter zu diesem Buch inspiriert. Er beleuchtet „das große Trauma“, das vor allem in den Jahren von 1950 bis 1970 unter Diktator Franco, der zwar seine Stimmen bevorzugt aus der verarmten Landbevölkerung bezog, diese aber durch seine rücksichtslose Industrialisierungspolitik und gnadenlose Vertreibungen zum Bau etwa gigantischer Staudammprojekte immer tiefer in Elend und Rückständigkeit trieb, tiefe Spuren in der spanischen Landschaft hinterließ.
Mehr assoziativ als streng wissenschaftlich, leider auch manchmal ein wenig redundant, analysiert Sergio Del Molino dieses Leeres Spanien, auch gern anhand von Bezügen zur Literatur und Film. Den verächtlichen Blick der Stadtbevölkerung auf die vom Land entdeckt er dabei schon bei Miguel de Cervantes. Während man dessen Don Quichote nun meistenteils kennt, sind seine anderen Verweise, wie etwas auf den Film „Furchen“ („Surcos“) von José Antonio Nievos Conde einem deutschen Lesepublikum wahrscheinlich ebenso unbekannt wie geschichtliche Spezialitäten wie die Karlistenkriege. Da zieht sich dieses Langessay ziemlich und man braucht einen langen Atem und zumindest ein starkes Interesse an Spanien.
Ich habe das Buch mit Gewinn gelesen. Aber mir zogen bei der Lektüre eben auch die endlosen Sonnenblumenfelder und die menschenleeren, mit Windmühlen gesprenkelten Ebenen durch den Sinn.
Najat El Hachmi – Wir wollen die ganze Freiheit! Über Feminismus und Identität. Ein notwendiges Manifest
Im vergangenen Jahr lernte ich Dank des Gastlandauftritts Spaniens zur Frankfurter Buchmesse die katalanische Autorin Najat el Hachmi kennen. In ihrem Buch Am Montag werden sie uns lieben schrieb sie über das Aufwachsen junger Musliminnen mit maghrebinischen Wurzeln in Barcelona. Nun hat sie einen Essay voller Unverständnis, Wut und Empörung geschrieben. Geboren in einem Umfeld, in dem die Religion Frauen stets einschränkte, unterdrückte und sie zwang, Kopftuch, Hidschab oder Schleier zu tragen, rebellierte sie als junge Frau und engagierte sich im feministischen Kampf.
„Wenn ich Feminismus sage, sage ich Freiheit. Nicht die Freiheit, mir etwas auszusuchen, nicht die Freiheit zum konsum, nicht die Freiheit, mich vor ein Regal voller Möglichkeiten zu stellen und mich für eine davon zu entscheiden, was auch immer das dann bedeutet. Nein, wenn ich Feminismus sage, wenn ich Freiheit sage, dann meine ich: Ich will leben, ohne als nachrangig zu gelten. Ich will nicht, dass mein Leben, meine Meinung, meine Lust und mein Schmerz weniger wert sein sollen als Leben, Meinung, Lust und Schmerz meiner männlichen Mitmenschen.“
Nun bemerkt sie um sich herum immer mehr junge Frauen muslimischer Herkunft, die wieder freiwillig den Schleier tragen und als Symbol für kulturellen Respekt und sogar für die Emanzipation der muslimischen Frau deklarieren, als Rückkehr zu einem Islam, von dem, so El Hachmi, „niemand weiß, ob er je zuvor existiert hat.“
„Wann hat denn die feministische Debatte aufgehört, sich gegen Mechanismen der Diskriminierung zu richten, sie aufzuzeigen und anzuklagen? Wann ist sie stattdessen zu einem Streit um Repräsentation geworden?“
So beklagt sie die Abgrenzung von „westlichen, weißen Feministinnen“ und beklagt, dass sich mit dem „Totschlagargument Islamfeindlichkeit“ und unter dem Motto Diversität und Respekt eine Re-Islamisierung und Festigung des religiösen Patriarchat vollzieht, ohne dass selbst laizistische und linke Kreise dagegen protestieren.
„Eine der abstrusesten Formen, die dieser aals Feminismus verkleidete Islamismus annimmt, ist die des dekolonialen Feminismus. Da wird argumentiert, es gebe einen weißen westlichen Feminismus, der eher ein Instrument der kolonialen Herrschaft sei, als dass er der Emanzipation der Frauen diene. Nach Jahrzehnten des Kampfs gegen den biologistischen Rassismus und sein Konstrukt der „rassischen“ Unterschiede will uns nun ein „antikolonialer“ Aktivismus wieder in getrennte Abteile einsortieren. Bist du Schwarz, dann hier entlang, bist du Muslimin, dann dort, und bist du weiß, dann halt den Mund, denn du bist eine Privilegierte die alle anderen unterdrückt.“
All dies hat Najat El Hachmi veranlasst, ihren Essay zu schreiben, ein flammendes Plädoyer, die Fortschritte, die Frauen in der westlichen Gesellschaft erreicht haben, nicht aufzugeben und sich im Kampf für Frauenrechte nicht aufspalten zu lassen.
Mit gerade mal gut 30 locker bedruckten Seiten ist Der junge Mann sicher der schmalste der schon prinzipiell schmalen autofiktionalen Texte der Nobelpreisträgerin. Im vergangenen Jahr veröffentlicht, wurde er bereits Ende des vergangenen Jahrhunderts verfasst, kurz nachdem die in ihm geschilderte Beziehung beendet war. Damals war die Schriftstellerin Mitte 50 und hatte eine längere Affäre zu einem dreißig Jahre jüngeren Studenten. In der ihr eigenen nüchternen, gnadenlos ehrlichen und auch sich selbst gegenüber schonungslosen Art erzählt sie davon und macht deutlich, dass A., wie sie ihn zögerlich benennt, sie als Person gar nicht wirklich interessiert hat. Geschmeichelt von der ihr entgegengebrachten Verehrung, den bewundernden Briefen, der körperlichen Anziehungskraft gibt sie dem Drängen des jungen Mannes nach und gefällt sich spürbar darin. Der Sex, die missbilligenden, gefühlt neidvollen Blicke der Umgebung und der Triumph, sich als ältere Frau das zu nehmen, was sich viele ältere Männer schon immer erlauben, geben ihr Genugtuung. Davon so hart und kühl zu erzählen hat schon etwas selbstgefälliges. So blieb mir bei der kurzen Lektüre stets ein etwas ungutes Gefühl. Annie Ernaux macht keinen Hehl daraus, dass A. für sie nur eine Episode, ja sogar nur eine Art Werkzeug war. Er war für sie ein „Zeitöffener“, „die verkörperte Vergangenheit“, entstammte er doch auch einem ähnlichen proletarischen Milieu wie die junge Annie, hatte er doch auch einen ähnlichen Aufstiegswillen. Mit ihm hatte Ernaux das Gefühl, ihrer Vergangenheit und Jugend erneut zu begegnen. Die Affäre wurde für sie der Schreibanlass für ihr Werk Das Ereignis. Das thematisiert die Autorin genauso klar und analytisch wie die Mechanismen der eigenen Erinnerung. Der Text reiht sich damit nahttlos in ihre anderen autofiktionalen Werke ein. Und doch verstört ihre Mitleidlosigkeit und geradezu Kälte dieses Mal ein wenig.
Tatjana Gromača – Die göttlichen Kindchen
„Eine allgemeine Einführung in die Welt meiner Mutter, ihre persönlichen und gesamtgesellschaftlichen Krankheiten“ – so umschreibt Tatjana Gromača das erste Kapitel ihres Buchs Die göttlichen Kindchen. Die Ich-Erzählerin beschreibt darin, wie es ihrer Mutter erging, „als sich die Menschen über Nacht in wilde Tiere verwandelten“ und „der neue Kurs“ alles, was nach „östlicher Abstammung“ aussah, mit Misstrauen, Ausgrenzung und Hass verfolgte. Sie erinnert sich an die Zeit zwischen 1991 und 1995, als nach dem Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien in Kroatien ein blutiger Bürgerkrieg tobt. Die Mutter der Ich-Erzählerin verliert aufgrund ihrer Abstammung ihr Zugehörigkeitsgefühl und ihren Platz in der Welt. Angst bestimmt nun ihr Leben, sie verfällt in eine langanhaltende Depression, flieht in die Krankheit. Zwischen „guten“ Phasen liegen im Leben der Mutter immer wieder solche, in der sie sich völlig zurückzieht oder sogar stationär im Krankenhaus behandelt werden muss. Darüber geredet wird in der Familie kaum. Der Krieg hat nach Ansicht der Ich-Erzählerin nicht nur einzelne Menschen, sondern eine ganze Gesellschaft gebrochen, mit der sie hart ins Gericht geht. So werden in der Gesellschaft nach Kriegsende auch die in ihm verübten schrecklichen Taten totgeschwiegen, können die einstigen Täter wieder ihre alten Plätze einnehmen. Totgeschwiegen wie die herrschende Misogynie in der patriarchalen Gesellschaft, die Verachtung, der Hass, die Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Lakonisch, bitter, voll schneidendem Witz lässt Tatjana Gromača ihre Ich-Erzählerin nicht nur von ihrer traumatisierten Mutter erzählen, sondern von einer Gesellschaft, an der sie wenig Gutes lässt. Bei aller analytischen Schärfe und aller Schonungslosigkeit wohnt den Aufzeichnungen eine gewisse Naivität inne, verlässt die Erzählerin nie ganz ihre beobachtende Kind-Position. Vielleicht deshalb verliert der Text aber auch bis zum Ende trotz aller Härte nicht die Hoffnung, zumindest auf eine Annäherung zwischen Mutter und Tochter.
Macht nennt die norwegische Autorin Heidi Furre ihren schmalen Roman, in dem sie eine junge Frau, um die Dreißig, erzählen lässt. Vorderhand scheint alles perfekt in ihrem Leben. Der Mann Terje ist liebevoll zugewandt und verantwortungsvoll, kümmert sich mit ihr zusammen um die beiden kleinen Kinder Rosa und Johannes. Ein Einfamilienhaus am Rande von Oslo, ein erfüllender Job als Pflegerin. Doch da ist ein „Vorfall“, wie sie selbst bezeichnet, was 15 Jahre zuvor geschehen ist und von dem sie nicht einmal Terje etwas erzählt hat. Bis jetzt. Denn durch den Bruder einer neuen Patientin, den „berühmten Schauspieler“, dem einst sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde, kommt ihr ihre eigene Vergewaltigung wieder mit Macht ins Bewusstsein. Sie hat sie nicht angezeigt, mit aller Kraft verdrängt, mit sich gehadert (man kennt die Selbstzweifel, war sie nicht vielleicht doch auch ein bisschen schuld an dem ganzen „Vorfall“?) und sich vor allem dagegen gewehrt, ein „Opfer“ zu sein, eine Zahl in der Statistik, die besagt, dass jede zehnte Frau in Norwegen Opfer eines sexuellen Übergriffs wird.
Die ganze Verdrängung, die Fokussierung auf die Oberfläche („Eine Frau mit festlichem Kleid und vom Regen durchweichten Schuhen nervt mich, ihrem Outfit fehlt es an Empathie“), die perfekt zu sein hat, die fast schon Besessenheit, wie sie in der Außensicht wirkt, ihr exzessives Konsumverhalten („Ich existiere, solange ich konsumieren kann.“) – all das verhindert natürlich nicht, dass ihr der „Vorfall“ bis heute bestimmt Denk- und Verhaltungsmuster aufzwingt, sie eine stete Bedrohung empfinden lässt. Kein Weg am Abend, ohne dass sie Terje am Handy begleitet, kein Abstecher in den Park in der Dämmerung. Die Erfahrung, die Kontrolle über ihren Körper und die Macht über ihr Leben zu verlieren, sitzt tief. Heidi Furre hat sie in ihrem Roman sehr verdichtet. Er bewegt, auch wenn man mit der Ich-Erzählerin oft hadert. Eine wirkliche Identikationsfigur oder Sympathieträgerin ist sie nicht. Muss sie auch nicht sein. Vielleicht wird dadurch die Dringlichkeit des Erzählten sogar noch gesteigert. Ein hoffnungsvolles Ende, Freundschaft und die Kunst von Niki de Saint Phalle beschließen das Buch.
Eine autofiktionale Familiengeschichte der Autorin Sabrina Janesch, Tochter einer polnischen Mutter und eines als Jungen von den Russen mit der Familie aus dem Reichsgau Wartheland nach Kasachstan verschleppten Vaters. Dessen Geschichte bildet das Grundgerüst des Romans, der auf verschiedenen Zeitebenen spielt. Die Gegenwart, in der die Ich-Erzählerin Leila die Geschichten ihres an Demenz erkrankten Vaters aufschreiben will, die Kindheit des Vaters in Kasachstan und die Kindheit Leilas im Aussiedlerviertel einer kleinen norddeutschen Stadt. Sabrina Janesch schreibt ungeheuer atmosphärisch, lässt die Landschaft Kasachstans genauso bildlich entstehen wie die norddeutsche Kleinstadt. Sibir ist ein Roman über die schwierige deutsch-russisch-polnische Historie des vergangenen Jahrhunderts. Es ist aber auch eine wunderschöne Vater-Tochter-Geschichte und eine große, wunderbare Erzählung über Freundschaft, über Resilienz und Zusammenhalt.
dazu kamen noch die fünf Romane für den Bloggerpreis für Literatur Das Debüt:
Noemi Somalvico – Ist hier das Jenseits, fragt Schwein
Ursula Knoll – Lektionen in dunkler Materie
Slata Roschal – 153 Formen des Nichtseins
Claudia Schumacher – Liebe ist gewaltig
Annika Büsing – Nordstadt