Sabrina Janesch – Sibir

Sibir – dieses Wort schreibt der von Demenz bedrohte Vater der Ich-Erzählerin Leila im neuem Roman von Sabrina Janesch in den Staub der Gartentischplatte, bezeichnenderweise in drei Sprachen: Deutsch, Russisch und Kasachisch. Drei Sprachen und drei Länder, die das Leben von Josef Ambacher geprägt haben. Seine Familie stammte aus Galizien, wohin die Vorfahren im 18. Jahrhundert aus dem Egerland eingewandert waren und wo sie sich eine Heimat aufgebaut hatten. Seit 1920 gehörten sie zu Polen, wurden 1939 von den Nationalsozialisten „heim ins Reich“ geholt, eine Heimat, die aber plötzlich nicht mehr das Egerland, sondern der annektierte „Reichsgau Wartheland“ war. Hier verlebte der kleine Josef mit seinem Bruder und den Eltern eine schöne Kindheit. Bis die Wirren des blutigen 20. Jahrhundert die Familie erneut einholten.

Nach Kriegsende 1945 wurde die deutsche Bevölkerung von den siegreichen Russen als Zivilgefangene – das waren vor allem Alte, Kinder und ihre Mütter – nach Kasachstan verschleppt. „Sibir“, Sibirien, wie damals alles hieß, was östlich des Urals lag und als Synonym für Elend, Öde, Schrecken stand.

„Da ist die Steppe, die Erdhütte, der Schneesturm, das Wolfsrudel, da ist der Hunger, die Kälte, die übermenschliche Anstrengung. das alles, zusammengekratzt und zusammengesetzt, das ist, in einem Wort, Sibirien. So nammten die Verschleppten das dunkle Entsetzen, das sich hinter dem Ural und südlich davon ausdehnte, hinter Europa, hinter dem Ende der Welt. Alles, was sich dort befand, ganz Zentralasien, Russisch-Fernost-egal ob Tundra, Taiga oder Steppe, all das wurde Sibirien genannt, hinter vorgehaltener Hand nur und mit schreckgeweiteten Augen. Sibirien, das war der Tod.“

Verschleppung nach Kasachstan

Und Schrecken und Tod bedeute  die „Umsiedelung“ nach Kasachstan auch für die Familie Amberger, die Großeltern, Tante Antonia, Mutter Emma und die beiden Kinder. Der kleine Bruder verhungert bereits auf der Zugfahrt, die Mutter verschwindet in einem Schneesturm, der in der Steppe, in der sie regelrecht ausgesetzt wurden, aufkommt. Sie wird nie gefunden werden. Die Kasachen der Gegend begegnen den Ankömmlingen mit einer gehörigen Portion Misstrauen, aber Josef gewinnt im Jungen Tachawi schnell einen neuen Freund, der den Kummer des Zehnjährigen über den Verlust von Mutter, Bruder, der Heimat und aller Gewiss- und Sicherheiten ein wenig abmildert.

„Man muss nur zu stur sein, um zu erfrieren, zu stur, um sich fortwehen zu lassen, zu vertrockenen wie ein Pappelblatt, man muss sturer sein als die Bolschewisten, dann überlebt man, das müssen sich die Deutschen von den Kasachen abschauen oder von ihren Kamelen.“

Hungerwinter in Kasachstan
Hungerwinter in Kasachstan via Zentrales Staatsarchiv der Republik Kasachstan für Film- und Fotodokumente sowie Tonaufnahmen

Die Kasachen und andere zentralasiatische Länder haben die „Gier und den Hochmut“, die imperialistischen Ziele der Sowjetunion bereits früher kennengelernt, auch Kasachstan war Opfer der großen Hungerkrise zu Anfang der 1930er Jahre.

„In der Schule hatte Josef lange die Karte der Sowjetunion betrachtet, ihr Bauch schien bis zum Bersten gefüllt, ein Land, das sich selbst bis zur Unkenntlichkeit gemästet hatte.“

Aussiedlung nach Deutschland

Später, nachdem von Konrad Adenauer 1955 bei Verhandlungen mit Russland die Freilassung von Kriegs- und Zivilgefangenen erreicht wird und die Familie Amberger in Norddeutschland am Rande der Lüneburger Heide eine neue Heimat findet, noch später, als Josef dort eine eigene Familie gründet, werden die Jahre voll Hunger, Kälte, Angst, werden die elenden Erdhäuser, die Ablehnung der Einheimischen, die aus der Steppe über den zugefrorenen Fluss in die Dörfer einfallenden Wolfsrudel zu spannenden, manchmal auch launigen Anekdoten, die er bevorzugt seiner Tochter Leila erzählt. Dies ist neben den Erzählungen aus Krieg und Verbannung nach Kasachstan und der Rahmenhandlung die zweite Zeitebene, auf der erzählt wird.

Leila hört die Geschichten des Vaters gern. Sie spürt aber auch, dass hinter all dem eine große Traurigkeit und Unsicherheit steckt. Der Vater ist ein erfolgreicher Diplom-Ingenieur, die Familie wohnt in einem Einfamilienhaus, aber dennoch ist eine gewisse Eigentümlichkeit zu spüren, bleibt der Vater ein Außenseiter. Als einmal bei einem Elternabend laut an die verschlossene Klassenzimmertür gepocht und die Klinke unsanft gerüttelt wird, springt der Vater panisch aus dem Erdgeschoss-Fenster. Und an einem anderen Tag verbrennt er im Garten alle Aufzeichnungen, Fotos, Bücher aus früherer Zeit und verstört seine Tochter dadurch nachhaltig. Es geht auch um Weitergabe von Traumata an folgende Generationen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ankommen neuer Aussiedler aus Kasachstan im kleinen fiktiven Wohnort der Ambachers brechen viele alte Wunden wieder auf.

Fortbestehende und weitergegebene Traumata

Die Siedlung, in der die Ambachers wohnen, ist voll mit traumatisierten Menschen, die die stalinistischen Säuberungen mitbekommen haben, den Holodomor, die Verfolgung von allems, was nach Deutsch und/oder Abweichlertum aussah. Auch Leilas bester Freund Arnold stammt aus einer ähnlichen Familie. Und so horten die Kinder Vorräte, legen geheime Verstecke an, für den Notfall, sollte einmal die „schwarze Stunde“ kommen. Was hinter den Ängsten der Erwachsenen steckt, können sie allenfalls ahnen. Denn die Eltern gehören zu der Generation, die vornehmlich schweigt. Mehr als zurechtgestutzte Anekdoten geben sie nicht preis. Auch deshalb hat sich Leila nun aufgemacht, um die Geschichten des Vaters vor dem Vergessen zu bewahren und sie aufzuschreiben, sie zu hinterfragen, zu recherchieren.

Viel von Autorin Sabrina Janesch steckt in der Ich-Erzählerin Leila in Sibir. Es ist die fiktionalisierte Geschichte ihres eigenen Vaters. 2018 reiste sie selbst nach Kasachstan, auch um zu recherchieren. Sie schreibt ungeheuer atmosphärisch, lässt die Landschaft Kasachstans genauso bildlich entstehen wie das norddeutsche Aussiedlerviertel. Sibir ist ein Roman über die schwierige deutsch-russisch-polnische Historie des vergangenen Jahrhunderts. Es ist aber auch eine wunderschöne Vater-Tochter-Geschichte und eine große, wunderbare Erzählung über Freundschaft, über Resilienz und Zusammenhalt.

 

Beitragsbild: Joloman/Kasachstan by Kabelleger / David Gubler, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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Sabrina Janesch - Sibir.

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Sabrina Janesch- Sibir
Rowohlt Berlin Januar 2023, 352 Seiten, gebunden, € 24,00

 

 

 

 

 

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