Victoria Belim – Rote Sirenen

In Folge des furchtbaren Angriffskriegs auf die Ukraine erscheinen im Moment erfreulicherweise zahlreiche Bücher über das Land und/oder von ukrainischen Autor:innen. Eines davon ist das Memoir der 1978 dort geborenen Victoria Belim. Aufgewachsen in der Gegend von Poltawa, ca. 140 km südöstlich von Charkiw, ging Belim in Kiew zur Schule, besuchte ein Internat auf der Krim und verließ mit 14 Jahren zusammen mit ihrer Mutter die Ukraine Richtung USA. Bereits sechs Jahre zuvor hatten sich die Eltern getrennt, der Vater lebte auch in Amerika. Belim spricht 18 Sprachen und hat in Yale Politikwissenschaften studiert. Heute lebt sie in Belgien. Nachdem sie lange Zeit eher lose Bindungen zu ihrem Heimatland verspürt hat, waren die Ereignisse 2014 für sie der Impuls, sich wieder intensiver mit ihm auseinanderzusetzen. Wie sehr sich das Verhältnis von Victoria Belim zur Ukraine und zu ihrer dort lebenden Großmutter Valentina verändert hat, erzählt sie in Rote Sirenen.

„Die Schießerei auf dem Maidan raubte mir die Illusion, die Ukraine sei weit weg. Als das Parlament dann am 1. März 2014 die Entscheidung Putins billigte, in der Ukraine militärische Gewalt anzuwenden, wurde mir eine weitere Illusion geraubt. Ein Krieg war unvermeidbar.“

Das Hahnenhaus

Der Titel des Buchs geht auf das „Hahnenhaus“ in Poltawa zurück, dessen Eingang von den Roten Sirenen geschmückt wird und das zu Sowjetzeiten den berüchtigten Geheimdienst beherbergte. Ein Ort des Schreckens auch heute noch für viele Bewohner. Auch Victoria Belims Großmutter Valentina, die im benachbarten Dorf Bereh zuhause ist, ist alles andere als begeistert darüber, dass ihre Enkelin dort Nachforschungen anstellen will. Doch durch die blutigen Unruhen nach dem Euro-Maidan, bei dem die pro-westliche Bevölkerung gegen die Aufhebung eines EU-Assoziationsabkommens durch den damaligen pro-russischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch und allgemein gegen eine zunehmend autoritäre und korrupte Regierung protestierte, die gewaltsame Annexion der Krim durch Russland und die Abspaltung der Provinzen Luhansk und Donezk durch Separatisten, animieren Victoria Belim, sich in ihrer alten Heimat auf familiäre Spurensuche zu begeben. Hat sie sich doch über die jüngsten Ereignisse mit ihrem in Tel Aviv lebenden Onkel Wladimir, der Dankbarkeit gegenüber Russland fordert, zerstritten.

In Bereh entwickelt sie eine starke Bindung zur Großmutter Valentina, die passioniert und fast schon obsessiv ihren großen Obst- und Kirschgarten pflegt. Sie ist eine Überlebende des Holodomors, das prägt sie, aber auch ihre Enkelin, die in Brüssel stets eine gut gefüllte Vorratskammer unterhält.

„Wenn du deine Existenz der Hungersnot verdankst, bist du von Angst gebrandmarkt. Ich weiß, das ist absurd, aber ich kann nicht anders.“

Verwandtschaft

Victoria findet auch Dinge, die an ihren geliebten Großvater Boris, ihren Urgroßvater Sergij, die Urgroßmutter Asja und – versteckt und in der Familie nie erwähnt – einen Bruder von Sergij, Nikodim, erinnern. In einem Notizbuch entdeckt sie den Eintrag, dass dieser Bruder 1937 „für eine freie Ukraine“ verschwunden ist. Die Spurensuche führt also weit hinein in die dunkle Zeit der stalinistischen Säuberungen, in den Holodomor, aber auch zum Reaktorunglück von Tschernobyl 1986, zur orangenen Revolution 2004 und bis zum Euromaidan und der Krimbesetzung. Bei ihren Nachforschungen für Die roten Sirenen trifft Victoria Belim in Poltawa, Kiew und Charkiw auf allerlei Bürokratie, die noch in Sowjetzeiten steckengeblieben scheint, auf viel Schweigen, aber auch auf hilfsbereite, offene Menschen.

„Dachten Sie, dass die sowjetische Lebensweise mit dem Staat verschwunden wäre? Es wird noch lange dauern, bis wir verlernt haben werden, sowjetisch zu denken und zu handeln.“

Wie ihre Großmutter Valentina wollen viele ihr Schweigen über die alten Zeiten nicht brechen, aber schließlich erhält sie doch Gewissheit darüber, dass ihr Urgroßonkel damals erschossen wurde. Was sie wiederum an eine andere Wunde erinnert: Ihr Vater erschoss sich einige Jahre zuvor in den USA, weil er vor einem Bankrott stand. Über viele Dinge wurde in der Familie nicht gesprochen. Weil sie zu schmerzhaft waren, alte Verletzungen nicht angrührt werden sollten. Aber:

„Da dachte ich, dass sich die Geschichten schmerzhafter Ereignisse, wenn sie nicht erzählt werden, in schwarze Löcher verwandeln, die alles um sie herum verschlingen. Die Traumata sind unsichtbar, aber die Schwerkraft, die sie umgibt, wird so stark, dass sie alles in ihrer Nähe aufsaugen.“

Eher reportageartig als literarisch, detailreich mit einer Fülle an Personen und historischen Fakten erzählt Victoria Belim in Rote Sirenen über hundert Jahre ukrainische Geschichte anhand ihrer eigenen Familie. Das ist spannend, anschaulich und sehr erhellend. Und am Ende versöhnlich. Denn wie Valentina einmal sagte:

„Sich wegen eines Landes zu streiten, das es gar nicht mehr gibt! Das ist doch ein Witz.“

 

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Victoria Belim - Rote Sirenen. Geschichte meiner ukrainischen Familie.

Victoria Belim – Rote Sirenen
Übersetzer:in: Ekaterina Pavlova 
Aufbau Januar 2023, Hardcover mit Schutzumschlag, 350 Seiten, € 22,00

 

 

 

 

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