2019 erhielt die britische Autorin Bernardine Evaristo für ihren polyphonen, feministischen Roman „Girl, Woman, Other“ (dt. Mädchen, Frau etc.) den Booker Prize. Ausgezeichnet wurde sie, und das war etwas ganz besonderes, zusammen mit der großen kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood. Ein großartiges Duo, das auch ganz wunderbar zusammenpasste. 2022 folgte dann ihr Memoir Manifesto und nun erscheint ein etwas älterer Roman von Bernardine Evaristo, Mr. Loverman (2013).
Im Mittelpunkt steht Barrinton Jedidah Walker, geboren auf der Kleine Antillen-Insel Antigua, seit mehr als 50 Jahren im Londoner Stadtteil Hackney ansässig und dort Teil einer lebendigen karibischen Community. Mehr als 50 Jahre ist Barry auch mit seiner Frau Carmel verheiratet, die mit ihm einst aus Saint John´s nach England kam und mit der er zwei Töchter hat. Als Maschinenschlosser bei Ford hat er sein bescheidenes Einkommen sehr gewinnbringend in meist recht heruntergekommene Immobilien investiert und ist nach der Gentrifizierung von Hackney nun ein reicher Mann. Im umfangreichsten Teil von Mr. Loverman lässt Bernardine Evaristo den nun 74 Jahre alten Barry zu Wort kommen. Ein Jahr lang, vom 1. Mai 2010 bis zum 1. Mai 2011 begleiten wir ihn durch eine ganz spezielle Zeit.
Eine lange Ehe
Mit der Ehe von Barry und Carmel steht es nicht zum Besten, was nach so vielen Ehejahren vielleicht nicht unbedingt erstaunen muss. In seinen Kapiteln zieht Barry über seine Frau auch ganz schön vom Leder (auch wenn man eine tiefe Verbundenheit und, ja, auch Zuneigung verspürt). Ein wenig langweilig, wenig attraktiv, stets mäkelig, schroff und bigott in ihrer Pfingstgemeinde aktiv und mit nervenden Freundinnen gesegnet stellt er sie uns vor.
Er dagegen präsentiert sich als weltoffener Lebemann, wie es der Titel schon ankündigt. Charmant, flott, lässig – so ist auch seine Sprache, die neben Straßenjargon und dem karibischen Patois auch gerne Literatur-Zitate verwendet. Seine Liebe gehört William Shakespeare. Er verschweigt nicht, dass er ziemlich promisk unterwegs war, dem Alkohol zuneigt und ja, seine Großspurigkeit ist schon ein wenig unsympathisch, zumal er auch voller Vorurteile und poltriger, patriarchaler Überheblichkeit steckt und sich als Selfmade-Mann geradezu feiert. Dennoch mag man den alternden Mr. Loverman von Bernardine Evaristo irgendwie gern.
Gut dass wir neben Barrys Sicht in sechs Kapiteln, die formal anders – nämlich lyrisch, ohne Satzpunkte, „Lieder“ genannt – auch Carmels Sicht der Dinge kennenlernen. Und diese Sicht ist eine ganz andere. Ihre Kapitel erzählen von einem gerade mal 16jährigen Mädchen, schwärmerisch und sehnsuchtsvoll, die den gutaussehenden Barry kennenlernt, sich sehr verliebt, mit ihm nach London geht und hier in allen ihren Hoffnungen enttäuscht wird. Von einer Frau, die aber sehr klug und diszipliniert ist, ihren Schulabschluss und sogar einen Bachelor in Betriebswirtschaft nachholt und bei der Londoner Wohnungsverwaltung eine mittlere Karriere macht. Dass Barry sie nicht liebt, spürt sie sehr wohl, vermutet, dass er sie regelmäßig mit anderen Frauen betrügt.
Eine lange Liebe
Dass es sich ganz anders verhält, erfahren die Leser:innen im Gegensatz zu Carmel sehr bald. Denn Barry liebt schon seit Teenagerjahren seinen Freund Morris, der vor ihm nach London ging, weswegen Barry wohl den Werbungen seiner Frau nachgab. Außerdem war die Ehe ein Deckmantel für seine Homosexualität, die in Antigua und bis 1967 auch in Großbritannien strafbar war. Doch auch wenn diese Zeiten lang vorbei sind, scheut Barry das Coming-Out.
Dabei führt er seit seiner Ankunft in London seine heimliche Beziehung zu Morris weiter, die damit länger als seine Ehe währt. Auch wenn Barry nicht treu ist, sondern zumindest in jüngeren Jahren zu keinem schönen Mann nein sagen konnte, ist die Liebe zwischen ihm und Morris tief und stabil, auch sexuell noch erfüllend. Wie die Beiden miteinander umgehen, ist geradezu rührend. Schon länger drängt Morris, ihre Verbindung öffentlich zu machen, vielleicht sogar zu legalisieren. Barry scheut den Schritt, Carmel lehnt jede Art von Trennung rigoros ab (sie ahnt ja auch nichts von seinem Doppelleben). Und was werden die Leute sagen? Oder die Töchter Maxine und Donna? Aber mit zunehmendem Alter stellt auch Barry sich die Frage nach dem richtigen Leben. Und sehnt sich zunehmend danach, seine restlichen Jahre mit Morris zu verbringen.
Da scheint sich eine Gelegenheit zu bieten. Carmel reist für längere Zeit nach Antigua zu ihrem totkranken Vater. Danach will sich Barry definitiv outen. Aber Tochter Donna, die ihre Mutter begleitet, braucht währenddessen einen „Babysitter“ für ihren heranwachsenden Sohn Daniel…
Leicht, humorvoll und witzig
Leicht, humorvoll und witzig, temporeich und empathisch erzählt Bernardine Evaristo in Mr. Loverman eine Liebes-, Ehe- und Migrationsgeschichte und kommt dabei fast ohne Klischees aus. Die Figuren sind ambivalent, bis vielleicht auf den wirklich herzensguten Morris. Das liest sich frisch und aktuell, die zehn Jahre, die der Text alt ist, merkt man ihm nicht an. Und ein schönes, versöhnliches Ende gibt es auch noch. Lesefreude pur.
Weitere Besprechungen beim Bücheratlas und bei Kulturgeschwätz
Beitragsbild: John Earl – Dapper Gentleman (CC BY-ND 2.0) via Flickr
____________________________________________________
*Werbung*
.
Bernardine Evaristo – Mr. Loverman
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Tropen Februar 2023, 336 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag, € 25,00