Zahlreiche Bücher erscheinen zurzeit in Deutschland über die Ukraine und zeigen ein bisher eher zurückhaltendes Interesse an osteuropäischer Literatur. Meistens beschäftigen sich die Autor:innen anhand von mehr oder weniger fiktionalisierten Familiengeschichten mit der Geschichte der Ukraine und ihren meist unheilvollen Beziehungen zum großen Nachbarn Russland. So auch die 1989 in Rotterdam geborene niederländische Autorin Lisa Weeda, die großmütterlicherseits aus der Ukraine abstammt, mit ihrem Roman Aleksandra, der wenige Monate vor dem Beginn des Angriffskriegs Russlands im Original erschien.
Eine Jugend in der Ukraine
Ich-Erzählerin ist eine Lisa, die wohl viel mit der Autorin gemein hat. Beispielsweise die 1924 in Luhansk geborene Großmutter Aleksandra. Diese wächst in einer Bauernfamilie im Donbass auf und erlebt in den fast einhundert Jahren ihres bisherigen Lebens alle Grausamkeiten, die die Ukraine erleiden musste. Der Vater Nikolaj Krasnov stammt von Donkosaken ab, die sich während der russischen Revolution meist auf der Seite der Weißen Armee befanden und von den siegreichen Bolschewiki verfolgt wurden. Auch die Familie Krasnov, alles andere als „Großbauern“, wird als Kulaken bestraft.
Die Tochter Nastja, älteste Schwester von Aleksandra, fällt der großen Hungersnot, dem Holodomor der 1930er Jahre, zum Opfer, als die Bauern gezwungen wurden, ihre kompletten Ernten an die Bolschewiken abzugeben. Für manche der Betroffenen war der Einmarsch der Deutschen 1941 deshalb auch die Hoffnung auf eine Art Befreiung, was sich sehr bald als großer Irrtum herausstellte. Viele von ihnen wurden nach dem Krieg als vermeintliche oder tatsächliche Kollaborateure Opfer des stalinistischen Terrors.
Aleksandra wird, wie viele junge Frauen und Mädchen, von den deutschen Besatzern ins Deutsche Reich deportiert, wo sie Zwangsarbeit verrichten muss. Es verschlägt sie ins hessische Griesheim, in eine zu den IG-Farben gehörende Fabrik. Dort lernt sie ihren späteren niederländischen Mann kennen, in die Ukraine kehrt sie danach kaum noch zurück, ihre Eltern sieht sie nicht wieder.
Eine Reise in die Ukraine
2018, auf der Gegenwartebene des Romans, bittet Aleksandra ihre Enkelin Lisa, ein besticktes Tuch, ein Rushnyk, in den Donbass zu bringen. Diese rituellen, wie Stammbäume gepflegten Tücher, deren Stickereien in Rot=Leben und Schwarz=Tod quasi eine Lebensreise dokumentieren sollen, werden oft schon zur Geburt geschenkt und bei der Beerdigung dem Verstorbenen beigegeben. Aleksandras Rushnyk ist für den seit den kriegerischen Auseinandersetzungen in den von prorussischen Separatisten eingenommenen Gebieten der Ostukraine vermissten Cousin Kolja bestimmt.
Beim Grenzübergang von der Ukraine in die Separatistengebiete, der Lisa mangels Ausweispapieren verwehrt wird, und den sie sich erzwingt, indem sie in einem unbeobachteten Moment in ein Kornfeld läuft, gerät die junge Frau in eine Art magisches Zeitloch. Sie findet sich in einem an den nie verwirklichten, gigantischen Palast des Sowjets erinnernden „Palast des verlorenen Donkosaken“ wieder und trifft hier auf ihren lange verstorbenen Urgroßvater Nikolaj, der sie durch die vielen Stockwerke und Zimmer des Bauwerks und damit durch die Zeit mitnimmt. Lisa Weeda arbeitet auch im Bereich Virtual-Reality und ähnlich mutet diese magische Reise durch die Vergangenheit in Aleksandra ein wenig an. Zumal noch weiße Hirsche mit goldenen Pfeilen auftreten. In diese verwandeln sich die berühmten Pferde der Donkosaken einer Legende folgend nach ihrem Tod. Und auch hier sprechen sie in einem raunenden „Wir“ wohl für die Ahnen Lisas, vielleicht auch für alle verstorbenen Ukrainer.
Eine Geschichte der Ukraine
Russische Revolution, Sowjetunion, Stalin, deutsche Besatzung, kalter Krieg, Krimannexion und russisch-ukrainischer Krieg seitdem – in Rückblicken, viel in mündlicher Erzählung, in Ich-Perspektive und auktorialen Passagen springt die Geschichte wild hin und her. Ein schier nicht zu überschauendes Figurenensemble tritt auf, dem man nur dank des beigegebenen Stammbaums einigermaßen folgen kann. Die Familienmitglieder stehen durchaus nicht immer auf derselben Seite, es geht wie durch viele russische und ukrainische Familien heute auch hier ein Bruch mitten durch. Die Multiperspektivität gewährt einen tiefen, erhellenden, spannenden Einblick in die ukrainische Geschichte und zeigt Parallelen durch alle Zeitepochen hinweg.
Lisa Weeda hat Aleksandra leider aber ein wenig überkonstruiert. Für mich wird die Geschichte durch die magischen Anteile nicht rund, bleibt Vieles zu unübersichtlich, episodenhaft, zersplittert. Die Geschichte ist stark genug, dass man als Leser:in trotzdem dranbleibt. Aber weniger wäre hier mehr gewesen.
Beitragsbild via Pixabay
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Lisa Weeda – Aleksandra
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann
Kanon Verlag Februar 2023, Gebunden mit SU, 288 Seiten, € 25,00
Hallo Petra,
mein Fazit zum Buch fällt so aus wie deines. Etwas durcheinander, trotzdem irgendwie gut. Ich habe dabei viel im Internet recherchiert über Donkosaken und natürlich die wechselnden politischen Verhältnisse.
Grüße
Silvia
Liebe Silvia, ja, ein Buch, das nicht direkt begeistern konnte, aber am Ende sehr lohnend war. Sehen wir uns in Leipzig? Viele Grüß, Petra