Der März ist ja normalerweise der Monat der Leipziger Buchmesse. Da diese 2023 vorsichtshalber auf Ende April verschoben wurde, blieb in diesem März nicht nur viel Zeit für spannende Lektüre, sondern auch für viele Lesungsbesuche: Dinçer Güçyeter, Bernardine Evaristo, Ian McEwan, Julian Barnes, Éric Vuillard waren die hochkarätigen Autor:innen, die ich live erleben durfte.
Aber auch Hochkarätiges auf Papier war dabei: Besonders gefallen hat mit die ukrainische Familiengeschichte von Victoria Belim und die französische von Sylvie Schenk. Außerdem überzeugte Das Porzellanzimmer von Sunjeev Sahota besonders.
Wie sein Autor hat der Protagonist Kaan eine armenisch-türkische Mutter und einen deutschen Vater, ist in München aufgewachsen und ein großartiger Gitarrist. Den ersten, fast die Hälfte des Buchs umfassenden Teil seines Buches widmet Marc Sinan dem Heranwachsen Kaans , seinen inneren Kämpfen und der, auch an familienbedingten Traumata scheiternden Beziehung zu seiner großen Jugendliebe Zizi. Um es gleich zu sagen, dieser Teil sprach mich wenig an, und das liegt nur zum Teil an meiner generellen Skepsis Liebesgeschichten und aufopferungsvollen Frauengestalten gegenüber. Es dauert einfach zu lange, bis der Autor zum Kern seiner Geschichte und eben zu jenen Traumata in der Familie kommt, die auch im Klappentext angekündigt werden. Es lohnt aber unbedingt, dranzubleiben. In den Zeit- und Handlungsebenen sowie in den Orten hin und her springend, erzählt Marc Sinan dann eine große, tragische Familiengeschichte vor dem Hintergrund des 20. Jahrhundert und das große Schweigen über den Völkermord an den Armeniern. Das Schweigen der Täter, aber auch das der Opfer, das eine wirkliche Aufarbeitung verunmöglicht.
Victoria Belims Großmutter Valentina ist alles andere als begeistert darüber, dass ihre Enkelin sich bei ihrem Besuch in der Ukraine 2015 auf familiäre Spurensuche begeben möchte. Die Annexion der Krim und die Unterstützung der Separatistengebiete in der Ostukraine durch Russland haben zuvor zum Bruch der in Belgien lebenden Victoria mit ihrem Onkel Wladimir, der Dankbarkeit gegenüber der Sowjetunion fordert, geführt. Großmutter Valentina ist eine Überlebende des Holodomors, sie möchte vergessen und sich lieber der Pflege ihres großen Kirsch- und Gemüsegarten widmen. Die Enkelin findet Spuren zu einem Bruder ihres Großvaters, Nikodim, der in der Familie nie erwähnt wurde. Spuren, die weit hinein in die dunkle Zeit der stalinistischen Säuberungen, in den Holodomor, aber auch zum Reaktorunglück von Tschernobyl 1986, zur orangenen Revolution 2004 und bis zum Euromaidan und der Krimbesetzung führen.
Eher reportageartig als literarisch, detailreich mit einer Fülle an Personen und historischen Fakten erzählt Victoria Belim in Rote Sirenen über hundert Jahre ukrainische Geschichte anhand ihrer eigenen Familie. Das ist spannend, anschaulich, empathisch und sehr erhellend.
Bernardine Evaristo – Mr. Loverman
Im Mittelpunkt von Mr. Loverman steht der weltoffene „Loverman“ Barrinton Jedidah Walker, geboren auf der Kleine Antillen-Insel Antigua, seit mehr als 50 Jahren im Londoner Stadtteil Hackney ansässig und dort Teil einer lebendigen karibischen Community und ist durch kluge Investitionen nun ein reicher Mann. Mehr als 50 Jahre ist Barry auch mit seiner Frau Carmel verheiratet, mit ihrer Ehe steht es mittlerweile nicht mehr zum Besten, auch wenn Carmel nicht ahnt, dass Barry seit langem eine homosexuelle Beziehung zu seinem alten Freund Morris unterhält. Im umfangreichsten Teil von Mr. Loverman lässt Bernardine Evaristo den nun 74 Jahre alten Barry zu Wort kommen. Seine Großspurigkeit ist schon ein wenig unsympathisch, zumal er auch voller Vorurteile und poltriger, patriarchaler Überheblichkeit steckt und sich als Selfmade-Mann geradezu feiert. Dennoch mag man den alternden Mr. Loverman und seinen schnodderigen Ton irgendwie gern. Gut ist aber, dass wir neben Barrys Sicht in sechs Kapiteln, die formal anders, lyrisch geschrieben sind, auch Carmels Sicht der Dinge kennenlernen. Und diese Sicht ist eine ganz andere.
Mit einer längeren Reise von Carmel ergibt sich nun für Barry eine Gelegenheit, endlich sein Coming-Out zu begehen und sich zu seiner Liebe zu Morris zu bekennen. Doch ganz so einfach ist das nicht… Leicht, humorvoll und witzig, temporeich und empathisch erzählt Bernardine Evaristo in Mr. Loverman eine Liebes-, Ehe- und Migrationsgeschichte und kommt dabei fast ohne Klischees aus. Die Figuren sind ambivalent, bis vielleicht auf den wirklich herzensguten Morris. Das liest sich frisch und aktuell, die zehn Jahre, die der Text alt ist, merkt man ihm nicht an. Und ein schönes, versöhnliches Ende gibt es auch noch. Lesefreude pur.
Die 1989 in Rotterdam geborene niederländische Autorin Lisa Weeda, die großmütterlicherseits aus der Ukraine abstammt, hat ihren Roman Aleksandra wenige Monate vor dem Beginn des Angriffskriegs Russlands veröffentlicht. Obwohl Roman, steckt sehr viel persönliche Familiengeschichte darin. Ich-Erzählerin ist eine Lisa, die wohl viel mit der Autorin gemein hat. Beispielsweise die 1924 in Luhansk geborene Großmutter Aleksandra. Diese wächst in einer Bauernfamilie im Donbass auf und erlebt in den fast einhundert Jahren ihres bisherigen Lebens alle Grausamkeiten, denen die Ukraine in ihrer jüngeren Geschichte ausgesetzt war. Aleksandra wird, wie viele junge Frauen und Mädchen, von den deutschen Besatzern ins Deutsche Reich deportiert, wo sie Zwangsarbeit verrichten muss. Nach dem Krieg geht sie mit ihrem niederländischen Mann in dessen Heimat.
2018, auf der Gegenwartebene des Romans, bittet Aleksandra ihre Enkelin Lisa, ein besticktes Tuch, ein Rushnyk, für ihren seit den kriegerischen Auseinandersetzungen in den von prorussischen Separatisten eingenommenen Gebieten der Ostukraine vermissten Cousin Kolja in den Donbass zu bringen. Beim Grenzübergang von der Ukraine in die Separatistengebiete, der Lisa mangels Ausweispapieren zunächst verwehrt wird, gerät die junge Frau in eine Art magisches Zeitloch. Im „Palast des verlorenen Donkosaken“ trifft sie ihren lange verstorbenen Urgroßvater Nikolaj, weiße Hirsche mit goldenen Pfeilen und die Geschichte ihrer Ahnen. Russische Revolution, Sowjetunion, Stalin, deutsche Besatzung, kalter Krieg, Krimannexion und russisch-ukrainischer Krieg seitdem – die Multiperspektivität gewährt einen tiefen, erhellenden, spannenden Einblick in die ukrainische Geschichte, leider ist der roman aber ein wenig überkonstruiert. Für mich wird die Geschichte durch die magischen Anteile nicht rund, bleibt Vieles zu unübersichtlich, episodenhaft, zersplittert. Die Geschichte ist stark genug, dass man als Leser:in trotzdem dranbleibt. Aber weniger wäre hier mehr gewesen.
Sunjeev Sahota – Das Porzellanzimmer
Die Geschichte in Das Porzellanzimmer klingt unglaublich, ist aber wohl an die Familiengeschichte des 1981 geborenen britischen Autors Sunjeev Sahota angelehnt. Wie die Protagonistin Mehar wurde seine indische Urgroßmutter als kleines Mädchen dem Sohn einer anderen Familie versprochen und musste diesen mit 15 Jahren heiraten ohne ihn vorher auch nur gesehen, geschweige denn kennengelernt zu haben. 1929, in einem kleinen Dorf im nördlichen indischen Bundesstaat Punjab, findet die Hochzeit von Mehar parallel zu der von zwei anderen, ebenso jungen Mädchen statt. Keine von ihnen kennt die drei Brüder, denen sie angetraut werden, keine weiß, welcher von ihnen der jeweilige Bräutigam ist. Mehar meint bald zu wissen, welcher der Brüder ihr Angetrauter ist, und entwickelt Gefühle, ja sogar Leidenschaft für ihn. Erst zu spät merkt sie, dass sie einem fatalen Irrtum aufgesessen ist. Sunjeev Sahota bettet die Geschichte in eine Rahmenerzählung ein, die 2019 spielt. Der betagte Vater des Ich-Erzählers benötigt nach einer Knie-OP die Hilfe seines Sohnes, der daraufhin in sein Elternhaus zurückkehrt. Dort erinnert ihn ein Foto an eine Episode seines Lebens viele Jahre zuvor, als der damals 18jährige nach Indien zu seinem Onkel reist, um seine Drogenprobleme in den Griff zu bekommen.
Elegant konstruiert, in einer ausnehmend schönen Sprache erzählt Sunjeev Sahota seine ineinander verwebten Geschichten bildreich und lebendig und lässt sowohl das Innenleben seiner so unterschiedlichen Protagonisten als auch die verschiedenen indischen Szenarien farbig und empathisch vor uns erstehen. Ein sehr schönes Buch!
Virginie Despentes – Liebes Arschloch
In einem Social-Media-Feed beleidigt der bekannte Schriftsteller Oscar Jayack die Schauspielerin Rebekka Latté aufs übelste. Diese antwortet nicht weniger drastisch auf diesen viral gehenden Post. Daraus entwickelt sich überraschend ein intensiver, zunehmend freundschaftlicher E-Mail-Austausch.
Beide befinden in schwierigen persönlichen Situationen. Ihm wird von der feministischen Internetinfluencerin Zoé Katana, einst die Pressereferentin seines Verlags, sexueller Missbrauch vorgeworfen, ihr macht das Alter zunehmend zu schaffen. Interessante Rollen werden ihr kaum noch angeboten. Beide haben zudem ein heftiges Drogenproblem. In diese ganz besonderen persönlichen Umständen platzt die Corona-Pandenie. Isoliert, wie beide aktuell sind, haben sie alle Zeit der Welt, sich über ihre Situation, ihre Probleme, Gedanken, Vergangenheit und Hoffnungen auszutauschen. Sie nähern sich nicht nur an, sondern empfinden bald so etwas wie Sympathie füreinander, vielleicht auch Verständnis. Wer weiß, vielleicht werden sie sich eines Tages treffen. Neben all den vielen zeitaktuellen Themen wie MeToo, Feminismus, Diversität, Klassismus (sowohl Oscar als auch Rebekka kommen aus sogenannten ganz einfachen Verhältnissen), Drogenkonsum, Coronapolitik, Shitstorms in den Sozialen Medien, Cancel Culture und Hatespeech ist der eigentliche, innerste und sehr warmherzige Kern des Romans der Appell als Gesellschaft im Gespräch zu bleiben, einander zuzuhören, in der Solidarität zu leben. Dass Virginie Despentes ihre vielen Themen nicht nur mit leichter Hand authentisch und sozialkritisch eingebunden hat (auch wenn die Monologe zeitweise ein wenig ermüden und das Buch gegen Ende ein wenig von seiner Rasanz verliert, fast ein bisschen erbaulich wird), sondern das Ganze auch noch mit viel Witz und Ironie aufgeschrieben hat, macht Liebes Arschloch zu einem großen Lesevergnügen.
Die seit 1966 in Deutschland lebende und auf Deutsch schreibende Sylvie Schenk erzählt autofiktional von ihrer Mutter. Unnahbar war diese Mutter, verschlossen und distanziert bis gleichgültig ihren Kindern gegenüber. Zärtlichkeiten und Vertrautheit gab es wenig und die Kinder, zumindest die kleine Sylvie, spürten schon bald, dass die Mutter nicht glücklich war, nicht in ihrer Ehe, nicht in ihrer Mutterrolle, nicht als doch recht gut situierte Zahnarztgattin in Lyon. Da gab es etwas, dass sie von ihrem Glück abhielt, über das sie aber beharrlich schwieg. Erst nach ihrem Tod erfahren Sylvie und ihre vier Geschwister, wer diese Frau eigentlich wirklich war, welche Gespenster aus der Vergangenheit ihr zeitlebens nachhingen. Neben dieser ganz persönlichen Geschichte ist es aber auch die Geschichte von Frauen aus sogenannten „einfachen Verhältnissen“ im Frankreich des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, zerrieben in einem patriarchalen Klassensystem. So wird das Mutterporträt Maman von Sylvie Schenk auch zu einer kleinen soziologischen Studie, einem wenn auch engen Gesellschaftsporträt der französischen Bourgeoisie. Ihrer unglücklichen, irgendwie auch chancenlosen Mutter setzt die Autorin trotz ihres gnadenlosen Blicks, der genauso weit von jeder Verklärung wie von einer kalten Abrechnung ist, eine Art Denkmal. Sie macht das in sehr kurzen, pointierten Kapiteln, hoch reflektiert, nachdenklich, aber auch lebendig und mit Witz.