Die Geschichte in Das Porzellanzimmer klingt unglaublich, ist aber wohl an die Familiengeschichte des 1981 geborenen britischen Autors Sunjeev Sahota angelehnt. Wie die Protagonistin Mehar wurde seine indische Urgroßmutter als kleines Mädchen dem Sohn einer anderen Familie versprochen und musste diesen mit 15 Jahren heiraten ohne ihn vorher auch nur gesehen, geschweige denn kennengelernt zu haben.
1929, in einem kleinen Dorf im nördlichen indischen Bundesstaat Punjab, findet die Hochzeit von Mehar parallel zu der von zwei anderen, ebenso jungen Mädchen statt. Keine von ihnen kennt die drei Brüder, denen sie angetraut werden, keine weiß, welcher von ihnen der jeweilige Bräutigam ist. Und das soll auch so bleiben. Tief verschleiert findet nicht nur die Zeremonie statt, sondern in absoluter Dunkelheit und bedeckt auch die Hochzeitsnächte und alle weiteren Nächte, in denen die Männer ihre Frauen in einem eigens dafür vorgesehenen Zimmer „besuchen“. Vorwiegend um Söhne zu zeugen. Organisiert werden diese Besuche wie alles im Haushalt von der Mutter der drei Brüder, Mai.
Das rigide Regiment der Witwe Mai
Die Witwe Mai führt ein rigides Regiment im Haus. Der älteste Sohn Jeet ist ihr erklärter Liebling, den jüngsten Sohn Suraj, der sich nur widerwillig an der Arbeit auf der elterlichen Farm beteiligt, verachtet sie. Die jungen Ehefrauen sind für sie nur billige, ihr Gehorsam schuldende Arbeitskräfte. Sie leben zu dritt in einem Zimmer, in dem die wenigen Teller aus Mais Mitgift aufbewahrt werden – dem Porzellanzimmer. Zwischen den Frauen entsteht eine fragile Solidarität. Mehar meint bald zu wissen, welcher der Brüder ihr Angetrauter ist, und entwickelt Gefühle, ja sogar Leidenschaft für ihn. Erst zu spät merkt sie, dass sie einem fatalen Irrtum aufgesessen ist.
Sunjeev Sahota bettet die Geschichte von Mehar in Das Porzellanzimmer in eine Rahmenerzählung ein, die 2019 spielt. Der betagte Vater des Ich-Erzählers benötigt nach einer Knie-OP die Hilfe seines Sohnes, der daraufhin in sein Elternhaus zurückkehrt. Dort erinnert ihn ein Foto, dass seine Urgroßmutter Mehar mit ihm als Säugling zeigt (und das am Ende in der Version Sunjeev mit Urgroßmutter abgedruckt ist) an deren Geschichte. Und an eine Episode seines Lebens viele Jahre zuvor.
Eine Reise nach Indien
Damals hatte der 18jährige, in England lebende Ich-Erzähler seine ziemlich versiebt und hatte ein ausgewachsenes Drogenproblem. Um von den Drogen loszukommen, reist er nach Indien zu seinem Onkel Jai. Dessen Frau Kuku begegnet ihm ziemlich feindselig und als er die Aufsicht über den kleinen Cousin vernachlässigt, wirft sie ihn aus dem Haus. Er zieht sich daraufhin auf die alte, verlassene, etwas außerhalb gelegene Farm der Familie zurück, eben jene Farm mit dem Porzellanzimmer. Dort kommt er nicht nur der Geschichte seiner Urgroßmutter nah, sondern auch seiner Kindheit in der englischen Provinz, die von Diskriminierungserfahrungen geprägt war. Er lernt die junge Ärztin Radhika, Tanbir, den Leiter einer Mädchen-Sekundarschule und den alten Laxman kennen – alles Außenseiter in der Gesellschaft des Ortes, die sich ihre Freiheit nehmen – und nicht zuletzt auch sich selbst.
Elegant konstruiert, in einer ausnehmend schönen Sprache, übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, erzählt Sunjeev Sahota seine ineinander verwebten Geschichten bildreich und lebendig und lässt sowohl das Innenleben seiner so unterschiedlichen Protagonisten als auch die verschiedenen indischen Szenarien farbig und empathisch vor uns erstehen. Ein sehr schönes Buch!
Beitragsbild by Rabe!, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
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Sunjeev Sahota – Das Porzellanzimmer
übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
hanserblau Januar 2023, Fester Einband, 240 Seiten, 23,00 €