Virginie Despentes – Liebes Arschloch

„Überraschend versöhnliche Töne“ vom weiblichen „Enfant terrible“ der französischen Buchszene hieß es verbreitet in der Literaturkritik zum neuen Roman von Virginie Despentes, Liebes Arschloch. Und tatsächlich verheißt der Titel und auch der unmittelbare Beginn des Romans eine der literarischen Provokationen, mit denen die Autorin ab 2002 viel Beachtung fand.

In einem Social-Media-Feed beleidigt der bekannte Schriftsteller Oscar Jayack die Schauspielerin Rebekka Latté aufs übelste. Eine „Schlampe“ sei sie, „alt“, „auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibsstück“. Rebekka antwortet nicht weniger drastisch auf diesen viral gehenden Post. „Liebes Arschloch“ antwortet sie ihm in einer E-Mail und wünscht dass seine „Kinder von einem Lastwagen überfahren werden und du ihren Todeskampf mitansehen musst, ohne etwas tun zu können (…)“. Das ist krass, das haut rein. Das ist wohl auch gut fürs Marketing. Doch weiter geht es (zum Glück) ganz anders.

Ein E-Mail-Roman

Gleich zu Beginn müssen die Leser:innen eine nicht wirklich wahrscheinliche Prämisse akzeptieren, ohne die das Buch nicht funktionieren würde. Nämlich, dass Oscar auf diese furchtbare Nachricht versöhnlich antwortet und sich daraus langsam ein intensiver, zunehmend freundschaftlicher E-Mail-Austausch entsteht. Und überhaupt, dass sich in der heutigen Zeit zwei Menschen derart lange, tiefgehende Nachrichten schreiben. Beide Annahmen erleichtert Virginie Despentes durch ganz bestimmte Umstände. Zum einen erweist sich Oscar Jayack als Pseudonym des kleinen Bruders der ehemaligen besten Schulfreundin der Schauspielerin, Corinne. Schon als kleiner Bub hat er die schöne, eigenwillige Rebekka angehimmelt. Diese geht auf seine digitalen Annäherungsversuche auch deshalb ein, um wieder mit Corinne in Kontakt zu kommen.

Zum anderen befinden sich sowohl Oscar als auch Rebekka in schwierigen persönlichen Situationen. Ihm wird von der feministischen Internetinfluencerin Zoé Katana, einst die Pressereferentin seines Verlags, sexueller Missbrauch vorgeworfen. Intensives Stalking hat sie genötigt, traumatisiert und zum Verlust ihres Arbeitsplatzes geführt. Für den Uneinsichtigen war es nur „Verliebtheit“, ein „vielleicht etwas zu starkes Drängen“ und männliche Verzweiflung über die Abweisung durch Zoé. Nun steckt er in einem veritablen MeToo-Skandal, das Internet kocht. Allerdings richtet es sich auch gegen Zoé, der zwischen dem Briefwechsel der beiden anderen immer wieder Passagen gewährt werden, in denen sie ihre vor Wut und Verzweiflung schäumenden Posts ausbreitet.

MeToo, Alter und Drogen

Rebekka befindet sich auch in einer schwierigen Lage. Das Alter macht der 50jährigen zunehmend zu schaffen. Interessante Rollen werden ihr kaum noch angeboten, das Liebes- und überhaupt Leben machen ihr immer weniger Spaß und ja, für jemanden, dessen stärkstes Pfund immer die Schönheit, vor allem auch des Körpers war, sind die sichtbaren Zeichen der Zeit besonders bitter. Sowohl sie als auch Oscar haben zudem ein heftiges Drogenproblem (sie vor allem Heroin, Crack, aber eigentlich alles, was „so richtig wegballert; er vorwiegend Alkohol und Kokain).

Zu diesen ganz besonderen persönlichen Umständen kommt noch die allgemeine Lage. Denn mitten in den Briefwechsel platzt die Corona-Pandenie. Isoliert, wie beide aktuell sind, haben sie alle Zeit der Welt, sich über ihre Situation, ihre Probleme, Gedanken, Vergangenheit und Hoffnungen auszutauschen. Beide besuchen (voneinander unabhängig) die NA, die Narcotics anonymus (zu Coronazeiten tatsächlich anonym, nämlich digital). Sie nähern sich nicht nur an, sondern empfinden bald so etwas wie Sympathie füreinander, vielleicht auch Verständnis. Wer weiß, vielleicht werden sie sich eines Tages treffen.

Solidarität

Das scheint für manche Leser:in oder Kritiker:in überraschend versöhnlich, dabei ging es schon in der Vernon Subutex-Trilogie der Autorin hauptsächlich um so etwas „Versöhnliches“ wie Freundschaft, Solidarität, Gemeinschaft. Und das ist auch neben all den vielen zeitaktuellen Themen wie MeToo, Feminismus, Diversität, Klassismus (sowohl Oscar als auch Rebekka kommen aus sogenannten ganz einfachen Verhältnissen), Drogenkonsum, Coronapolitik, Shitstorms in den Sozialen Medien, Cancel Culture und Hatespeech der eigentliche, innerste und sehr warmherzige Kern, den Virginie Despentes Liebes Arschloch verleiht. Wir müssen als Gesellschaft im Gespräch bleiben, so wie Oscar und Rebekka. Eine Chance für die Menschlichkeit besteht nur im einander Zuhören, in der Solidarität, der gegenseitigen Unterstützung.

Sympathisch sind sie alle nicht wirklich, die Protagonist:innen in Liebes Arschloch. Nicht die drogensüchtige, egozentrische Rebekka, nicht der uneinsichtige „Maskulinist“ Oscar, nicht die rabiate, lesbische Schwester Corinne, auch nicht das Stalkingopfer Zoé, die zeitweise in der Psychiatrie landet. Aber sie sind es wert, dass man ihnen zuhört, über ihre Positionen nachdenkt, auch wenn man so manches verwirft. Dass Virginie Despentes ihre vielen Themen nicht nur mit leichter Hand authentisch und sozialkritisch eingebunden hat (auch wenn die Monologe zeitweise ein wenig ermüden und das Buch gegen Ende ein wenig von seiner Rasanz verliert, fast ein bisschen erbaulich wird), sondern das Ganze auch noch mit viel Witz und Ironie aufgeschrieben hat, macht Liebes Arschloch zu einem großen Lesevergnügen.

 

Eine weitere Besprechung auf Kommunikatives Lesen

Beitragsbild via pxhere CC0

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Virginie Despentes - Liebes Arschloch.

Virginie Despentes – Liebes Arschloch 
Übersetzt von: Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis
Kiepenheuer&Witsch Januar 2023, gebunden, 336 Seiten, € 24,00

 

 

 

 

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