Bereits in Schnell, dein Leben und Eine gewöhnliche Familie hat uns Sylvie Schenk, 1944 in Chambéry, Frankreich, geboren, seit 1966 in Deutschland lebend und auf Deutsch schreibend, Einblicke in ihre Familie gegeben, jetzt hat sie sich mit Maman auf ihre Mutter konzentriert, mit der sie eine nicht leichte Beziehung verband.
„Unsere Mutter, die sprach nur mit der Wäsche und mit Babys.“
Unnahbar war diese Mutter, verschlossen und distanziert bis gleichgültig ihren Kindern gegenüber. Zärtlichkeiten und Vertrautheit gab es wenig und die Kinder, zumindest die kleine Sylvie, spürten schon bald, dass die Mutter nicht glücklich war, nicht in ihrer Ehe, nicht in ihrer Mutterrolle, nicht als doch recht gut situierte Zahnarztgattin in Lyon. Da gab es etwas, dass sie von ihrem Glück abhielt, über das sie aber beharrlich schwieg. Erst nach ihrem Tod erfahren Sylvie und ihre vier Geschwister, wer diese Frau eigentlich wirklich war, welche Gespenster aus der Vergangenheit ihr zeitlebens nachhingen.
Autofiktion
Zusammen mit ihrer jüngsten Schwester recherchierte die Autorin. Gespräche und Telefonate, durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen und eigene Zweifel am Wahrheitsgehalt von Erinnerungen und Nachforschungen nimmt Sylvie Schenk mit hinein in Maman, das als trotz des eindeutig autobiografischen Materials als „Roman“ bezeichnet und von ihr selbst „Text“ genannt wird. Leerstellen werden fiktionalisiert – wie hätte es sein können -, Namen abgeändert, aber es ist dennoch die persönliche Geschichte von Sylvie Schenk, ihrer Mutter, ihrer Großmutter und sogar ihrer Urgroßmutter. Neben dieser ganz persönlichen Geschichte ist es aber auch die allgemeine von Frauen aus sogenannten „einfachen Verhältnissen“ im Frankreich des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, zerrieben in einem patriarchalen Klassensystem.
Schenks Mutter, Renée Gagnieux, wird 1916 geboren. Ihre ledige Mutter stirbt kurz nach der Geburt. Diese Cécile Garnieux war ebenfalls ein uneheliches Kind. Sie arbeitete wie ihre Mutter als Seidenspinnerin und Wäscherin in Lyon. Berufe, die für alleinstehende Frauen, zumal noch mit Kind(ern), nicht das Auskommen sicherten, weswegen Sylvie Schenk vermutet, dass sich beide durch Prostitution einen Zusatzverdienst verschafften. Beide Väter, sowohl der von Cécile als auch der von Renée sind unbekannt. Renée wird als Säugling zunächst unter staatliche Obhut gestellt, kommt aber schon sehr früh zu Pflegeeltern in die Ardèche. Diese bessern dadurch lediglich ihre Einkünfte auf, spannen schon das Kleinkind für Arbeiten auf dem Bauernhof ein und behandeln es völlig lieblos. Diese frühkindliche Phase, in der Renée sich völlig allein gefühlt haben muss, hat sie und ihr Verhältnis zu ihrer Umgebung für immer geprägt.
Frühkindliche Prägung
Daran ändert auch wenig, dass sie mit sechs Jahren von einem liebevollen Apothekerehepaar aus Lyon adoptiert wird. Besonders die Adoptivmutter Marguerite kümmert sich rührend um die Kleine. Diese fühlt sich aber stets als nicht dazugehörig, versagt in der Schule, hat keinerlei Selbstvertrauen. In den 1940er Jahren führt der Weg dann in eine Ehe, die die Adoptiveltern mit dem Zahnmedizin studierenden Sohn einer befreundeten Familie arrangieren. Es ist der Beginn einer unglücklichen, aber lange währenden Beziehung, aus der fünf Kinder hervorgehen. Besonders die bösartige, bürgerliche Schwiegermutter macht Renée das Leben schwer, zeigt ihr ihre Verachtung, ihren Hass. Hass ist es auch, der nach eigenem Bekunden Sylvie Schenks Gefühle ihrer Großmutter und der väterlichen Familie gegenüber bestimmen. Stockkonservativ, erzkatholisch, arrogant und herablassend muss diese Familie gewesen sein. Ein kleiner Fluchtpunkt war und ist das Chalet der Familie in den Französischen Alpen.
Das Mutterporträt Maman von Sylvie Schenk wird so auch zu einer kleinen soziologischen Studie, einem wenn auch engen Gesellschaftsporträt der französischen Bourgeoisie. Ihrer unglücklichen, irgendwie auch chancenlosen Mutter setzt die Autorin trotz ihres gnadenlosen Blicks, der genauso weit von jeder Verklärung wie von einer kalten Abrechnung entfernt ist, eine Art Denkmal. Sie macht das in sehr kurzen, pointierten Kapiteln, hoch reflektiert, nachdenklich, aber auch lebendig und mit Witz.
„Maman hätte tagelang graben und graben, schaufeln und wegschaufeln können, sie wäre zu keinem Ergebnis gekommen. Im großen Schweigen gab es nur Platz für Belangloses, für gestickte Tücher und kindische Träume: Die kleine Prinzessin heiratet den Prinzen, sie haben viele Kinder und leben noch, wenn sie nicht gestorben sind.“
Beitragsbild via pxfuel CC0
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Sylvie Schenk – Maman
Hanser Verlag Februar 2023, Fester Einband, 176 Seiten, 22,00 €