Möge der Tigris um dich weinen nennt die Fotografin, Journalistin und Autorin Emilienne Malfatto ihren mit knapp 90 locker bedruckten Seiten sehr kurzen, aber ungemein intensiven Roman über einen Ehrenmord im Irak. Möge der vorderasiatische Fluss Tigris, der zusammen mit dem Euphrat das legendäre, einst hochentwickelte Zweistromland Mesopotamien bildete, um all die Frauen weinen, die auch heute noch oder mit Blick auf das benachbarte Afghanistan gerade heute wieder, im 21. Jahrhundert, mit aller Gewalt Opfer der überlebten und doch so machtvollen patriarchalen Systeme werden.
Es ist eine Art Chronik eines angekündigten Todes. Die namenlose Ich-Erzählerin fühlt ihn kommen mit den Bewegungen in ihrem Leib. Der Gang zum Arzt bestätigt es, sie ist schwanger. Und der Vater ihres Kindes, der geliebte Kindheitsfreund des ältesten Bruders Amir, der zukünftige Verlobte, dessem Drängen sie vor seinem Fortgehen zu den irakischen Milizen ein einziges Mal nachgegeben hat, ist im Kampf gegen den IS getötet worden. Sie weiß, dass das in einer Gesellschaft, in der die Ehre wertvoller ist als das Leben einer Frau, ihren Tod bedeutet. Unfassbar gelassen und ergeben fügt sie sich in ihr Schicksal.
Chronik eines angekündigten todes
Neben der todgeweihten jungen Frau bekommen auch die anderen Familienmitglieder in kurzen Abschnitten eine Stimme. Sie verkörpern dabei in der rigiden Ordnung, in der sich diese patriarchale Gesellschaft bewegt, bestimmte Rollen. Da ist die Schwägerin Baneen, „die Ehefrau, die unterwürfige Frau, die untadelige Frau“; die Mutter, „die vorzeitig gealterte Frau, der formlose Körper unter schwarzen Schleiern“, in Frömmigkeit erstarrt und der tote Verlobte Mohammed.
Da ist der kleine Bruder Hassan, der „der noch kein Mann ist“, „der Junge, dessen Zukunft noch nicht geschrieben steht. (…) der kein Mörder sein wird, vielleicht“ und der mittlere Bruder Ali, „der moderne, der gemäßigte. Der, der nicht töten wird. Der, der gerne alles verhindern würde, der aber den Mörder nicht hindern wird.“ Da ist die kleine Schwester Layla, „die zukünftige Frau. Die für die man tötet. Die, deren Ehre man um jeden Preis bewahren muss. (…) die, die in einem Krieg geboren ist und den Frieden nie gekannt hat.“ Und da ist schließlich der Mörder, Amir, der älteste Bruder, „Träger der männlichen Autorität“.
Acht Menschen, deren Schicksal vorgezeichnet scheint, genauso unerbittlich wie in einer antiken Tragödie. Wie im mesopotamischen Gilgamesch-Epos, aus dem Emilienne Malfatto kurze Passagen zwischen die Kapitel von Möge der Tigris um dich weinen streut. Auch der Tigris selbst erhält solche kurzen, poetischen Passagen. Die Autorin, die als Fotografin und Journalistin häufig im Irak arbeitet, erhielt für ihren intensiven Kurzroman 2021 den Prix Goncourt du Premier Roman.
___________________________________________________
*Werbung*
.
Emilienne Malfatto – Möge der Tigris um dich weinen
Aus dem Französischen von Astrid Bührle-Gallet
Orlanda Verlag 2023, 96 Seiten, Klappenbroschur, € 16,00