Helga Schubert – Der heutige Tag

Derden – der, den ich liebe – nennt die Ich-Erzählerin, die unzweifelhaft Helga Schubert selbst ist, ihren pflegebedürftigen Mann. Mehr als 50 Jahre sind sie zusammen, der 96-jährige Psychologe und Maler Johannes Helm wird seit 15 Jahren von seiner nun 83-jährigen Frau zuhause auf dem Mecklenburger Land gepflegt. Der heutige Tag  ist, so der Untertitel, „ein Stundenbuch der Liebe“, ein literarisches Tagebuch, in dem Helga Schubert im abendlichen Schreiben, wenn der Pflegealltag zu Ende ist, nach eigenem Bekunden ihre Rettung findet, ihre Zuflucht.

Episodenhaft, in einzelnen, nicht chronologischen Momentaufnahmen und Betrachtungen erzählt Helga Schubert detailgetreu und reduziert von ihrem Alltag mit dem hochbetagten, schwerkranken Mann. Von allen Tiefen, von Überlastung und Verzweiflung, vom sich im Stich gelassen fühlen, wenn sich wieder keine Betreuungsperson finden lässt, obwohl ein wichtiger Termin ansteht. Von Kindern, die sich nicht kümmern und von Behörden, die nicht helfen. Aber sie erzählt auch, und das noch viel eindringlicher, von den vielen Glücksmomenten, die sich im Leben mit dem geliebten Partner auch jetzt noch finden lassen. Wenn die Amsel zwitschert, die Sonne scheint und dem Mann der Sahnejoghurt so gut schmeckt.

Loslassen

Dieses Buch ist, auch wenn es an keiner Stelle romantisiert oder gar verkitscht, kein Lamento und alles andere als deprimierend. Helga Schubert versteht sich nicht als Opfer, als Leidtragende, auch wenn sie viel Leid und vor allem Verantwortung tragen muss. Sie plädiert vielmehr für ein Loslassen, ein Akzeptieren, dafür, dass ein Mensch in Würde, Vertrauen und Nähe verwelken darf. Sie spricht davon, ein „Leben auszuatmen“. Dafür ist natürlich ein gehöriges Maß an Stärke nötig. Stärke, die Helga Schubert aus ihrer Liebe zu ihrem Mann zieht. In Rückblenden wird vom Beginn dieser Beziehung erzählt, als Johannes Helm Professor der Klinischen Psychologie an der Humboldt Universität in Ost-Berlin und Schubert seine Studentin war. Helga Schubert wurde in der DDR von der Stasi überwacht und wäre gern in den Westen ausgereist. Das kam für ihren Mann nicht in Frage.

Gemeinsames Leben

2008 zog das Paar aufs Land. Auch das war eine Entscheidung von Helm. Schubert war damit von der  literarischen Szene Berlins mehr oder weniger abgeschnitten. Seit Mitte der 1990er Jahre veröffentlichte sie nicht mehr. Sie, die 1980 zum Klagenfurter Ingeborg Bachmann Preis eingeladen war, der aber die Ausreise nicht genehmigt wurde. Gewann überraschender- und verdienterweise 2020 diesen Preis mit einem neuen Text, Vom Aufstehen, der 2021 zusammen mit anderen als Buch veröffentlicht wurde. Es verblüfft, dass das Aufgeben jeden Karrierestrebens – Schubert hat allerdings stets weitergeschrieben – nicht zu sichtbarer Verbitterung oder zu Groll geführt hat. Während ihr Mann im Mecklenburger Haus über 1000 Bilder gemalt hat, bliebt ihr Werk stets überschaubar.

Eine tiefe, eine auf ständigen Austausch gegründete Beziehung hat Helga Schubert und Johannes Helm augenscheinlich verbunden. Die Stärke dieser Verbindung gibt nun auch Halt und Kraft, wo der von Demenz betroffene Partner diesen Austausch nur noch bedingt führen kann. Daneben ist es der Glaube, der Helga Schubert hilft, was sie im Motto, das sie Der heutige Tag voranstellt, deutlich macht. Es stammt aus dem Matthäus-Evangelium.

„Darum sorgt nicht für den anderen Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“

Ganz im Jetzt leben, aber auch mit liebevollen Erinnerungen, einen Menschen sein Leben ausatmen lassen, die Kraft dafür aus kleinen Momenten der Nähe und Schönheit zu finden – das vermittelt Helga Schubert auf so klare, knappe wie zärtlich-poetische Weise. Das sorgt neben dem immer wieder aufblitzenden Humor dafür, dass dieses Buch über das Verlöschen eines Menschen und den harten, anstrengenden Pflegealltag niemals deprimierend wirkt, sondern wahrhaft tröstlich.

 

Beitragsbild via PXhere

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Helga Schubert - Der heutige Tag.

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Helga Schubert – Der heutige Tag 
dtv März 2023, 272 Seiten, EUR 24,00

 

 

 

 

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