Ein Reiseführer für Französisch-Indochina aus den 1920er Jahren mit einem passenden Sprachführer, der fast ausschließlich Redewendungen im Imperativ enthielt, war es nach eigenem Bekunden, der den französischen Autor Éric Vuillard zu seinem neuesten Buch, Ein ehrenhafter Abgang, inspirierte. Und wieder hat er aus Fakten und Fiktion ein für ihn so typisches Genre geschaffen, das irgendwo zwischen historischem Sachbuch und dokumentarischem Roman angesiedelt ist. Schon in seinem mit dem Prix Goncourt gekürten Buch Die Tagesordnung, in Der 14. Juli und Der Krieg der Armen hat er diese Art der Komposition angewendet, die man vielleicht am besten als literarische Inszenierung historischer Ereignisse beschreiben kann. Dafür montiert er Fakten, die er präzise aus Dokumenten wie Briefen, Reden, Memoiren recherchiert hat, mit einer erfundenen Innen- und Gefühlswelt der beteiligten Personen. Bei aller Faktentreue entsteht daraus dann ein weniger sachliches als engagiertes Stück Literatur.
Mit Ein ehrenhafter Abgang nähert sich Éric Vuillard einem düsteren Kapitel französischer Geschichte, und zwar der kolonialen Vergangenheit in Indochina. Die Kolonisierung der Gebiete des heutigen Vietnam (später zusätzlich Laos und Kambodscha) erfolgte von ca. 1858 bis 1887 und diente wie gewöhnlich der wirtschaftlichen Ausbeutung der Länder. Éric Vuillard widmet dem das Anfangskapitel seines Buchs. Darin besichtigen Gewerbeaufseher im Auftrag der französischen Kolonialverwaltung eine Kautschukplantage der Firma Michelin. Eine irritierende Häufung von Selbstmorden unter den Plantagenarbeitern hat die Öffentlichkeit aufhorchen lassen. Und auch die Inspektoren stoßen auf eine Reihe von grausamen Arbeitsbedingungen und menschenverachtenden Foltermethoden. Es werden Berichte geschrieben, Bedauern ausgedrückt und es geschieht – nichts.
Das dunkle Gesicht des Kolonialismus
„(…)wie gehabt weiß der Plantagendirektor von nichts, und wie gehabt wirkt er ausnehmend betroffen und erklärt, zwar seien gewisse Übergriffe zu Ohren gekommen, aber er habe sofort durchgegriffen und einen beflissenen jungen Assistenten losgeschickt, solche Ausschreitungen jedoch habe er sich nicht im Entferntesten ausmalen können (…) Der Gewerbeaufseher verfasst gewissenhaft seinen Bericht, die Behörden sprechen ein paar Empfehlungen aus. Ihnen folgen weder Reform noch Verurteilung. In jenem Jahr erzielte die Firma Michelin einen Rekordgewinn von dreiundneunzig Millionen Francs.“
1950 sieht die Lage etwas anders aus. Durch die Kapitulation vor den Deutschen 1940 und die zunehmende Besatzung Südostasiens durch Japan geschwächt, nach 1946 mit zunehmenden Guerillabewegungen wie der Viêt Minh in Indochina konfrontiert, wird der Regierung in Paris bald klar: ein Krieg in Indochina ist zu teuer. Zwar wird offiziell betont, vor der Unabhängigkeit die Region zusammen mit den USA vom Kommunismus befreien zu wollen, aber insgeheim sucht man einen Ausweg, einen möglichst „ehrenhaften Abgang“. Die verheerende Niederlage der Franzosen bei der Schlacht bei Điện Biên Phủ gegen die Viêt Minh im März 1954 mit hohen Verlusten, die zunehmende Einflussnahme von einerseits China, andererseits der USA drängt das Land an den Rand. Frankreich beendet seine Kolonialzeit in Indochina im Juli 1954. Nach der Teilung Vietnams werden die USA noch bis 1975 weiterkämpfen. 30 Jahre Krieg, der Millionen Opfer gefordert hat.
Die Geschichten hinter der Geschichte
Éric Vuillard erzählt „die Geschichten hinter der Geschichte“, von katastrophalen Fehlentscheidungen, Unvermögen, radikalem Klientelismus bestimmter Kreise und immer wieder wirtschaftlichen Interessen, die hinter allem stecken, vor allem auch hinter Kriegen. Diese Machtkritik hat etwas Universelles und oft wird man bei der Lektüre an aktuelle Entwicklungen denken müssen. Éric Vuillard ist kein objektiver Beobachter und Berichterstatter, auch wenn er historisch genau ist. Aber seine pointierte Auswahl von einzelnen historischen Elementen, die er erzählt und als Schlaglichter auf die Geschichte nutzt, seine oft sarkastische, fast karikierende Darstellung bestimmter Akteure und seine Art des gegeneinander Schneidens von harten Fakten und fiktionalisierten Innenwelten offenbaren seinen kapitalismuskritischen, linken Standpunkt. Das wird ihm gelegentlich vorgeworfen.
Aber engagierte Literatur ist wichtig. Éric Vuillard schafft eindringliche Bilder für historische Zusammenhänge, macht sie erlebbar. Bei Die Tagesordnung, wo es um den „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich 1938 geht, ist das für die deutschen Leser:innen vielleicht etwas einfacher als bei Ein ehrenhafter Abgang, da zumindest mir die französische Kolonialpolitik in Indochina weniger präsent ist. Ein wenig Internetrecherche ist da sicher hilfreich. Aber auch wenn die meisten der Akteure auf französischer Seite sich namentlich nicht tiefer einbrennen, einen erhellenden Einblick darin, wie historische Abläufe „funktionieren“, hat Éric Vuillard auch mit Ein ehrenhafter Abgang wieder eindrucksvoll präsentiert.
Beitragsbild: Vietnamesische Truppen 1951 by U.S. Information Agency 51-15497, Public domain, via Wikimedia Commons
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Éric Vuillard – Ein ehrenhafter Abgang
Matthes&Seitz März 2023, 139 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 20,00 €
Übersetzung: Nicola Denis
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