Der Mai ist vorüber und es nähert sich die Jahres-Halbzeit. Auch wieder Zeit über die besten Bücher dieser ersten Hälfte nachzudenken. Und auch bei der Lektüre im Mai 2023 gab es da einige Kandidaten.
John Hersey – Hiroshima
Der 1914 in der chinesischen Stadt Tianjin geborene US-amerikanische Schriftsteller, Reporter und Journalist John Hersey bereiste im Auftrag der Zeitschrift New Yorker Japan im Jahre 1946 und führte zahlreiche Interviews mit Überlebenden des Atombombenabwurfs, den sogenannten Hibakusha von Hiroshima. In seiner auch literarisch sehr überzeugenden Reportage erzählt er von sechs davon und schildert minutiös, was sie an jenem schicksalhaften 6. August 1945 um 8.15 Uhr japanischer Zeit taten, als ein gigantischer Lichtblitz den Himmel durchfuhr und die monströse Explosion eine ganze Stadt auslöschte, Sturmwinde und Feuersbrünste entfachte und über 100.000 Menschen tötete, viele davon Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre nach dem Abwurf. In einer multiperspektivischen, oft wechselnden Chronik schaut er auf Toshiko Sasaki, die an ihrem Schreibtisch bei den Ostasiatischen Zinnwerken saß; auf Reverend Kiyoshi Tanimoto, Pastor der Methodistenkirche; auf Pater Wilhelm Kleinsorge, einen katholischen Missionar; auf den Arzt Dr. Fujii; auf die Mutter dreier Kinder, Frau Nakamura und auf Terufumi Sasaki, Arzt in einem Krankenhaus. Diese Form der Reportage bietet den Leser:innen ein hohes Maß an Identifikationsmöglichkeit, was unter anderem ihre starke Wirkung erklärt. Hersey macht aus seinen Recherchen einen trotz seiner absoluten Nüchternheit und Kühle tief erschütternden Bericht.
Éric Vuillard – Ein ehrenhafter Abgang
Wieder hat Éric Vuillard aus Fakten und Fiktion ein für ihn so typisches Buch geschrieben, das irgendwo zwischen historischem Sachbuch und dokumentarischem Roman angesiedelt ist. Mit Ein ehrenhafter Abgang nähert er sich einem düsteren Kapitel französischer Geschichte, und zwar der kolonialen Vergangenheit in Indochina. Die Kolonisierung der Gebiete des heutigen Vietnam (später zusätzlich Laos und Kambodscha) erfolgte von ca. 1858 bis 1887 und diente wie gewöhnlich der wirtschaftlichen Ausbeutung der Länder. Durch Frankreichs Kapitulation 1940 und die zunehmende Besatzung Südostasiens durch Japan geschwächt, nach 1946 mit zunehmenden Guerillabewegungen wie der Viêt Minh in Indochina konfrontiert, wird der Regierung in Paris bald klar: ein Krieg in Indochina ist zu teuer. Zwar wird offiziell betont, vor der Unabhängigkeit die Region zusammen mit den USA vom Kommunismus befreien zu wollen, aber insgeheim sucht man einen Ausweg, einen möglichst „ehrenhaften Abgang“. Frankreich beendet seine Kolonialzeit in Indochina im Juli 1954. Éric Vuillard erzählt „die Geschichten hinter der Geschichte“, von katastrophalen Fehlentscheidungen, Unvermögen, radikalem Klientelismus bestimmter Kreise und immer wieder wirtschaftlichen Interessen, die hinter allem stecken, vor allem auch hinter Kriegen. Diese Machtkritik hat etwas Universelles und oft wird man bei der Lektüre an aktuelle Entwicklungen denken müssen. Éric Vuillard ist kein objektiver Beobachter und Berichterstatter, auch wenn er historisch genau ist. Aber seine pointierte Auswahl von einzelnen historischen Elementen, die er erzählt und als Schlaglichter auf die Geschichte nutzt, seine oft sarkastische, fast karikierende Darstellung bestimmter Akteure und seine Art des gegeneinander Schneidens von harten Fakten und fiktionalisierten Innenwelten offenbaren seinen kapitalismuskritischen, linken Standpunkt. Er schafft eindringliche Bilder für historische Zusammenhänge, macht sie intensiv erlebbar.
Annika Büsings Debütroman Nordstadt war 2022 ein fulminanter Erfolg. Den höchstdotierten Debütpreis, den Maria-Cassens-Preis, sicherte sich die Lehrerin aus Bochum ebenso wie den Literaturpreis Ruhr und eine Nominierung für den Bayerischen Buchpreis. Nun ist ihr zweiter Roman veröffentlicht, der den gleichen locker-schnodderigen Ton anschlägt und gleichzeitig die großen Fragen des Lebens anspricht.
Zwei junge Männer trifft im Park der legendäre Coup de foudre. Der schüchterne, an einer Essstörung und einer an Kontrollwahn grenzenden Überlegtheit leidende Chris aus Hannover, trifft in Leipzig auf den impulsiven, leichtlebigen Kolja, von allen Koller genannt. Dieser lädt ihn spontan zu einer Fahrt an die Ostsee ein. Dort in der Nähe von Klütz besaß die kürzlich verstorbene Oma von Kolja ein Haus und ein riesiges Becken mit 34 Kois. Dort ist Kolja mit seiner behinderten Schwester Birte quasi aufgewachsen. Die alleinerziehende Mutter Barbara litt an Depressionen und konnte oft nicht richtig für ihre Kinder sorgen. In einem alten klapprigen Polo geht es los. Und das erinnert tatsächlich ein wenig an die berühmte Roadnovel Tschick von Wolfgang Herrndorf.
Aber die beiden Männer, die sich ähnlich wie die Protagonisten in Nordstadt nicht blindlings ihrer Liebe hingeben können, weil sie etliche Probleme mit sich herumschleppen, sind älter und tragen mehr Verantwortung. Chris hat eine Scheinehe mit einer Asylbewerberin platzen lassen und Kolja hat mit Ella eine vierjährige Tochter, die gerade bei ihrem Onkel im Ahrtal lebt. Es ist der Sommer 2021, die Ahr ist auf fatale Weise über die Ufer getreten und die Sorge um Hannah bewirkt, dass aus dem Trip an die Ostsee eine rasante Reise quer durch Deutschland wird.
Annika Büsing erzählt Koller vom Ende her. Deshalb wissen wir, dass Chris und Koller schließlich am Ostseestrand ankommen. Die sieben Tage, die sie bis zum wohltuend offenen Ende miteinander verbringen, lesen sich abwechslungsreich und im schon fast „typischen“ Büsing-Sound. Dabei werden immer mehr Einzelheiten zu Kolja und Chris und ihren Familien bekannt. Und am Schluss hofft man, dass den Beiden das gelingt, was der Koi Dean Martin ihnen vormacht.
„So ist das Leben: Man schwimmt eine Runde durch den Teich und guckt, was so geht.“
Lisbeth Exner – Realitätenhandlung
Neunundvierzig Minuten
Neunundvierzig Minuten verbringen fünf Menschen plus ein Geist in einer etwas heruntergekommenen Altbauwohnung im 9. Wiener Bezirk. Seit über 50 Jahren wohnt die alte Frau in dieser Wohnung zusammen mit der riesigen Bibliothek ihres verstorbenen Vaters, der Boden ist übersät mit Zeitungen und Zeitschriften, die sich über die Jahre angesammelt haben und von denen sie sich nicht trennen mag. Seit einiger Zeit erscheint sie ein wenig verwirrt, ja man könnte von einer Demenz sprechen. Oft entzündet sie zahlreiche Kerzen inmitten der Papierberge. Kein Wunder also, dass sich die Mieter im Haus und die Wohnungseigentümerin Sorgen machen.
Was im Deutschen vielleicht als etwas merkwürdiger Titel erscheinen mag, hat im Österreichischen eine andere Bedeutung. Realitäten werden dort auch Immoblien genannt. Und um die Zwangsräumung der genannten Wohnung geht es im Roman der 1964 in Wien geborenen Autorin. Es ist ihr erster Roman, den sie wie ein Kammerspiel entwickelt. Eine Stimme erhalten die alte Mieterin, die Wohnungseigentümerin, der Gerichtsvollzieher, ein Spediteur und ein Mann vom Schlüsseldienst. Und der erwähnte Geist, der in der Wohnung herumspukt und der Großmutter der Eigentümerin gehört, die nicht loslassen kann von dieser „Realie“, die wiederum deren Vater einst einem von den Nazis vertriebenen Juden billig abgekauft hat.
Vielstimmig erzählt Lisbeth Exner also ein breites Panorama rund um Besitz, Eigentum, Altern und Erbe, aber auch über die Bedeutung von Büchern und Dingen. Dazu lässt sie uns Leser:innen in die Köpfe der anwesenden Personen schauen, der Eigentümerin, die sich die Räumung schönredet, des Gerichtsvollziehers, der mit seiner Alkoholsucht kämpft, des kleinkriminellen Spediteurs, des beim Schlüsseldienst arbeitenden Studenten, der ein Loblied auf den Sozialreformer und Begründer der Freiwirtschaftslehre Silvio Gesell hält. „Ganz normale Marktwirtschaft. Nur ohne Kapitalismus.“ Ja, und auch der in ihrer alten, rassistischen Gedankenwelt verfangenen Geistfrau. In Halluzinationen der alten Dame fließen Passagen aus Büchern ein. Überhaupt die Bücher.
Es ist ein etwas wunderliches, kleines, feines Buch, das Libeth Exner als Debüt vorgelegt hat. Ich mochte es gern.
Andrej Blatnik – Platz der Befreiung
Boy meets girl: Andrej Blatnik lässt seinen Protagonisten auf einer Demo im Sommer 1988 auf dem Platz der Befreiung auf eine ihn faszinierende junge Frau treffen. Es ist die erste große Massendemonstration in Slowenien. Drei Jahre später, im Juni 1991 verkündet das Land seine Unabhängigkeit. Vor dem Hintergrund dieser Zeit bis in die Gegenwart hinein erzählt Blatnik vom Erwachsen- und Älterwerden von Protagonist und Land. Zwischen den beiden jungen Menschen entwickelt sich eine nicht ganz einfache Liebesbeziehung. Sie stammt aus sehr wohlhabendem Haus, er aus eher einfachen Verhältnissen. Er und sie lieben Musik und Literatur und philosophieren gern über Gott und die Welt, in Dialoge voll ironischer Distanz und Spitzfindigkeiten. Die Verflechtung von Liebes- und individueller Entwicklungsgeschichte mit den gesellschaftlichen und politischen Vorgängen in Slowenien ist Andrej Blatnik meiner Meinung nach sehr gut gelungen. Gerade für Leser.innen wie mich, die nicht allzu viel über das Land und seine Literatur wissen, bietet es einen guten Einstieg. Zwei ausführliche Nachworte ergänzen den empfehlenswerten Text.
Es ist September 1913, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, als ein junger, polnischer Student der Kanalisationsbautechnik aus Lemberg im Lungensanatorium Gröbersdorf in Niederschlesien ankommt. Natürlich denkt die Leserin/der Leser sofort an Thomas Manns Zauberberg und seinen Helden Hans Castorp.Nicht die einzige (literarische) Anspielung in Olga Tokarczuk klugem und vielschichtigem Roman. Der 24-jährige Mieczysław Wojnicz macht zahlreiche Männerbekanntschaften und in dieser Herrenrunde wird man die künftigen Wochen opulent speisen, über die politische Situation und gesellschaftliche Entwicklung in Europa, Kultur und Religion diskutieren und reichlich dem hausgemachten Likör, der „Schwärmerei“ zusprechen. Dieser Likör wird auf psychoaktive Pilze angesetzt und die eine oder andere Entwicklung im Roman ist sicher neben der Alkohol- auch dieser Wirkung zuzuschreiben. Es dauert meist nicht lange und die Herren sind beim Thema Frauen oder sehr allgemein „das Weibliche“ angekommen. Tokarczuk hat zahlreiche Paraphrasen von Textpassagen berühmter Dichter und Denker ihrem Personal in die Münder gelegt, die sich alle in ihrer Verachtung und Misogynie gleichen. Das patriarchale System in seinem ganzen Elend, wie es sich nur durch Herabsetzung des anderen Geschlechts selbst definieren kann.
Die beigefügte Gattungsbezeichnung „Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte“ deutet an, dass es auch unheimlich zugehen wird. „Weibliche Wesenheiten“, Geister, die zeitweise als Erzählinstanz dienen und sich auch immer wieder an die Leser:innen wenden – der Legende nach sind als Hexen verfolgte Frauen vor vielen Jahrhunderten in die Wälder geflohen und führen dort noch immer ihr „Unwesen“. Im November sollen jedes Jahr rätselhafte Männermorde geschehen. Auch Mieczysław fühlt sich zunehmend beobachtet, verfolgt, bedroht, hört rätselhafte Geräusche, findet auf dem Dachboden nicht nur die Kammer der verstorbenen Hausherrin, sondern auch seltsame Folterinstrumente.
Skurril und spielerisch verhandelt Olga Tokarczuk in Empusion nicht nur den anscheinend nicht ausrottbaren Frauenhass, sondern auch die Komplexität und Vielfalt des Lebens, Genderfluidität, Selbstermächtigung. Und das auf so spielerische, ironische, elegante Art und Weise, dass man gar nicht jeden Verweis und jede Parallele zum Zauberberg oder zu anderen Werken aus Literatur, Psychoanalyse und anderen Wissenschaften erkennen und würdigen muss. Aber man kann. Und das macht das Buch so vielschichtig, intelligent und großartig.
Dieses Buch ist ein Knaller. Sehr widerwillig nähert man sich der titelgebenden Nadine, deren Tochter Mizzi sich gerade vor einen Zug geworfen hat. Seltsam emotionslos nimmt sie dieses Nachricht auf und wird zunächst auch nicht sympathischer, obwohl wir den ganzen Text über sehr nah an ihr dran bleiben. Dann aber kommt uns uns Nadine durch Rückblenden in ihre nicht gerade glückliche Kindheit, ihre eher lieblose Ehe, die Mutterschaft doch irgendwie nahe. Nur um am Ende völlig entsetzt zuzusehen, was diese Frau so treibt. Katrin Seddig hat da einen ganz verblüffenden, verblüffend guten Roman vorgelegt, von dem man möglichst nicht zu viel verraten sollte. Leseempfehlung!
Arno Frank – Seemann vom Siebener
Ein Spätsommertag im Freibad des kleinen fiktiven Ortes Ottersweiler in der Pfalz. Ein Tag, der nochmal alle Schönheit des Sommers auffährt, von dem man aber nicht weiß, ob es vielleicht der letzte des Jahres werden wird. Neben zahlreichen mehr oder weniger liebenswerten Figuren steht das Provinzbad im neuen Roman von Arno Frank im Mittelpunkt. Hier warten keine Attraktionen auf die Besucher, keine Riesenrutsche, keine Erlebnisgastronomie. Liegewiese, 50 Meter-Becken, schon etwas marode Holz-Umkleidekabinen mit den üblichen Spannerlöchern, Kassenhäuschen und Kiosk mit Pommes und Langnese-Eiskarte – das war`s. Dann ist das noch der 7er, der Sprungturm, dessen oberste Plattform seit einem tragischen Vorfall dauerhaft geschlossen ist.
Arno Frank fängt die Atmosphäre eines provinziellen Freibads perfekt ein. Es riecht förmlich nach Chlor und Sonnenmilch, man hört die Kinder toben und das Wasser plätschern. Und in dieser Atmosphäre entfaltet Arno Frank ein Beziehungsgewebe, in dem die Figuren den Leser:innen sehr nahe kommen. Ein schöner Roman – nicht nur fürs Freibad.
Hallo Petra,
Koller fand ich auch nett, mehr aber auch nicht. Der Seemann vom Siebener gefiel mir sehr gut.
An Empusion habe ich mich noch nicht angetraut. Nadine hört sich ziemlich gut an.
Liebe Grüße
Silvia