Olga Tokarczuk – Empusion

Es ist September 1913, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, als ein junger, polnischer Student der Kanalisationsbautechnik aus Lemberg im Lungensanatorium Gröbersdorf (das heutige Sokolowsko) in Niederschlesien ankommt. Natürlich denkt die Leserin/der Leser sofort an Thomas Manns Zauberberg und seinen Helden Hans Castorp. Dass die Nobelpreisträgerin von 2019 Olga Tokarczuk mit ihrem neuen (und ersten Post-Nobel)Roman Empusion nicht nur einen Wiederaufguss oder eine Reminiszenz an den berühmten Sanatoriumsroman schreiben wollte, zeigen bereits der ungewöhnliche Titel und die beigefügte Gattungsbezeichnung „Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte.

Der kühl-elegante, manche Leser:innen würden auch sagen staubtrockene Zauberberg hat nun so gar nichts von einem romantischen Schauerroman an sich. Und was ist eigentliche ein(e) Empusion? Tatsächlich ist dies ein Kunstwort von Olga Tokarczuk, das die Empusa, eine weibliche Spukgestalt aus der griechischen Mythologie (oder auch die Gottesanbeterinnenart Empuse) mit einem ebenfalls aus der griechischen Antike stammenden Trinkgelage=Symposion oder der modernen Verwendung des Begriffs als wissenschaftliche Zusammenkunft, die „dem Austausch von Gedanken und Erkenntnissen“ dient, zusammenbringt. Man sieht schon, wie durchdacht, vielschichtig und anspielungsreich dieser kluge Roman ist. Aber keine Sorge: Er macht auch auf reiner Textebene, ohne eine der Anspielungen oder intertextuelle Verweise auf den Zauberberg zu verfolgen, einen Riesenspaß.

Sanatorium Gröbersdorf

Der 24-jährige angehende Ingenieur Mieczysław Wojnicz kommt nun also in Gröbersdorf, das übrigens tatsächlich das Vorbild für Thomas Manns Luftkurort Davos war (der Arzt Hermann Brehmer hatte dort bereits 1855 ein anerkanntes Sanatorium mit sehr progressiven Heilmethoden gegründet), an. Es ist nicht so ganz klar, ob Mieczysław tatsächlich an Tuberkulose leidet oder ob sein strenger, mit der „schwächlichen“ Konstitution seines Sohnes unzufriedene Vater dazu gedrängt hat. Für militärischen Drill und Männlichkeitsgehabe hat der ohne Mutter aufgewachsene Junge zu seinem Bedauern so gar nichts übrig.

Da im Augenblick im Kurhaus selbst keine Betten frei sind, kommt Mieczysław zunächst im „Gästehaus für Herren“ bei Wilhelm Opitz unter. Dort macht er die Bekanntschaft des sozialistischen Altphilologen August August aus Wien, des katholischen, erzkonservativen Gymnasiallehrers Longinus Lukas aus Königsberg, des Berliner Kunststudenten Thilo von Hahn und des aus Breslau stammenden Geheimrats Walter Frommer, der sich später als geheimer Ermittler zu erkennen geben wird. In dieser Herrenrunde wird man die künftigen Wochen opulent speisen, über die politische Situation und gesellschaftliche Entwicklung in Europa, Kultur und Religion diskutieren und reichlich dem hausgemachten Likör, der „Schwärmerei“ zusprechen. Dieser Likör wird auf psychoaktive Pilze angesetzt und die eine oder andere Entwicklung im Roman ist sicher neben der Alkohol- auch dieser Wirkung zuzuschreiben.

Das Weibliche

Frauen lässt Olga Tokarczuk in Empusion nahezu keine auftreten. Die Gattin des Pensionswirts Opitz begeht direkt nach Mieczysławs Ankunft Selbstmord (um den verblüffend wenig Aufhebens gemacht wird). Eine elegante Dame mit großem Hut wandelt durch Kurort und Mieczysławs Phantasie. Und zwei alte Dorfbewohnerinnen sitzen tagein, tagaus auf der Bank vor ihrem Haus. Und doch sind Frauen im Roman omnipräsent, kann man Empusion als feministisch lesen. Worüber auch immer die Herren schwadronieren, es dauert nicht lange und sie sind beim Thema Frauen oder sehr allgemein „das Weibliche“ angekommen.

Tokarczuk hat zahlreiche Paraphrasen von Textpassagen berühmter Dichter und Denker ihrem Personal in die Münder gelegt. Sie reichen von Plato über Thomas von Aquin und William Shakespeare bis zu Jean-Paul Sartre und sind sich alle in einem einig: in ihrer abschätzigen, verächtlichen Einstellung dem weiblichen Geschlecht gegenüber. Dabei sind nicht alle so bekannt misogyn wie der österreichische Philosoph Otto Weininger. Aber besonders in der Gleichsetzung von Frauen, Natürlichkeit („beunruhigende Nähe zu allem Natürlichen“), Minderwertigkeit und Triebhaftigkeit sind sie sich alle einig. Einige Zitate:

„Ob es uns gefällt oder nicht – einzig die Mutterschaft rechtfertigt die Existenz dieses problematischen Geschlechts.“

 

„Ihr Atavismus gefährdet die Ordnung!“

 

„Indem das Weib ein Weib ist, gehört es uns allen.“

Und, der Klassiker:

„Wissen sie eigentlich, wer verantwortlich ist für all unsere Misserfolge? Die Mütter! Sie prägen unser Verhältnis zur Welt und zum eigenen Körper. Das sagen die neuesten Erkenntnisse einer Wissenschaft, die Psychoanalyse heißt.“

Rache am Patriarchat

Bissig, satirisch und sowohl ungemein komisch als auch beklemmend häuft Olga Tokarczuk in Empusion eine misogyne Äußerung auf die andere. Und zeigt das patriarchale System in seinem ganzen Elend, wie es sich nur durch Herabsetzung des anderen Geschlechts selbst definieren kann. Neben der Präsenz des Weiblichen in den Diskussionen gibt es aber auch eine weitere. Und hier kommt der Schauerroman ins Spiel: „Weibliche Wesenheiten“, Geister, die zeitweise als Erzählinstanz dienen und sich auch immer wieder an die Leser:innen wenden.

Der Legende nach sind als Hexen verfolgte Frauen vor vielen Jahrhunderten in die Wälder geflohen und führen dort noch immer ihr „Unwesen“. Zeitweise nimmt selbst der Wald, die Landschaft selbst etwas schwer Bedrohliches an. Im November sollen jedes Jahr rätselhafte Männermorde geschehen. Auch Mieczysław fühlt sich zunehmend beobachtet, verfolgt, bedroht, hört rätselhafte Geräusche, findet auf dem Dachboden nicht nur die Kammer der verstorbenen Hausherrin, sondern auch seltsame Folterinstrumente. Man denke an die literarische Tradition der „mad woman in the attic“, fragt sich aber immer wieder auch, wieviel Anteil der reichliche Genuss des Pilzlikörs an diesen Phänomenen haben mag.

Vielschichtig, intelligent und großartig

Skurril und spielerisch verhandelt Olga Tokarczuk in Empusion nicht nur den anscheinend nicht ausrottbaren Frauenhass – zunehmende Ressentiments, eingeschränkte Frauenrechte, wachsende Misogynie drohen auch heute -, sondern auch die Komplexität und Vielfalt des Lebens, Genderfluidität, Selbstermächtigung. Und das auf so spielerische, ironische, elegante Art und Weise, dass man gar nicht jeden Verweis und jede Parallele zum Zauberberg oder zu anderen Werken aus Literatur, Psychoanalyse und anderen Wissenschaften erkennen und würdigen muss. Aber man kann. Und das macht das Buch so vielschichtig, intelligent und großartig.

„All diese Angelegenheiten beschäftigten sein Denken, zogen die Außenwelt in sein Inneres, in diesen gewaltigen Raum, den jeder Mensch in sich trägt und der gefüllt ist mit all dem unsichtbaren Gepäck, das jeder ein Leben lang mit sich schleppt, ohne zu wissen, warum. Das eigene Ich.“

 

Auf den Blogs gibt es zahlreiche Rezensionen, z.B. beim Bookster HRO, bei Sandras Literarische Abenteuer, bei Literatur leuchtet und bei Kommunikatives Lesen

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Olga Tokarczuk - Empusion.

Olga Tokarczuk – Empusion
Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte
Übersetzt von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein
Kampa 2023, 384 Seiten, Gebunden, € 26,–

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