Ein Geschwisterroman, eine Flucht- und Migrationsgeschichte, ein Text über das Fortgehen und (Nicht)Ankommen, über die Suche nach Identität, Zugehörigkeit und den eigenen Weg im Leben – all das vereint Susanne Gregor in ihrem neuen Roman Wir werden fliegen, der an ihr voriges Buch Das letzte rote Jahr anknüpft, sich aber auch ganz wunderbar ohne Vorwissen lesen lässt (ich habe vom Vorgänger auch erst nach dem Lesen erfahren).
Alan Novák ist verschwunden. Der junge Orthopäde aus Wien hat die Wohnung, die er mit seiner Lebensgefährtin Nora bewohnt, wie jeden Morgen verlassen, um ins Krankenhaus zu fahren. Erst als er am Abend nicht zurückkehrt, erfährt Nora, dass er dort gar nicht mehr arbeitet. Aber wo ist der ernste, gewissenhafte Mann, der sich nach seiner Flucht aus der Tschechoslowakei kurz vor der Wende so gut integrierte, nach seiner Zeit als ungelernter Arbeiter auf dem Bau in Hamburg und einem schweren Arbeitsunfall so ehrgeizig und erfolgreich Medizin studierte und dann als Arzt an eine Wiener Klinik ging? Wien, weil dort der Rest seiner Familie, Vater Milan, Mutter Nini und seine Schwester Miša sich nach der Grenzöffnung 1990 niedergelassen haben.
Nora ist ratlos, Mutter Nini in Panik. Nur Miša wundert sich nur mäßig. Schon einmal hat Alan alles hinter sich gelassen und sie, zu der er immer ein ungeheuer enges Verhältnis hatte, ohne Vorwarnung und Ankündigung zurückgelassen. Seitdem waren die Beiden sich nie mehr so wirklich nah.
Aufwachsen in der Tschechoslowakei
In Rückblicken, verschiedenen personalen Erzählperspektiven und sanften Zeit- und Ortswechseln erzählt Susanne Gregor einfühlsam von einer besonderen Geschwisterbeziehung und vom Aufwachsen im Sozialismus. Es ist trist dort, aber Alan und Miša verleben auch eine glückliche Kindheit. Der Vater ist immer wieder auf Geschäftsreisen im Westen, bringt von dort Geschichten und im Sozialismus unerreichbare Dinge mit. Wartet dort drüben die Freiheit, die Zukunft? Alan wird es eines Tages zu eng im slowakischen Žilina. Er ist gerade 18, da flieht er über die Grenze. Ein Schritt, den er noch bereuen wird, erweist sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs doch seine Flucht als überflüssig. Und das Ankommen in Deutschland ist kein leichtes.
Doch während ihm später in Wien anscheinend alles gelingt, er als erfolgreicher Assistenzarzt Erfolge verbucht, mit Nora eine glückliche Beziehung führt, treibt seine Schwester Miša eher ziellos durchs Leben, mehrere Studienversuche scheitern, ebenso ihre Rückkehr zur Großmutter Anikó in der Slowakei und die Beziehung zum Engländer Joe. Doch hinter der Fassade von Alans scheinbar glatt verlaufendem Leben scheint doch etwas Düsteres verborgen.
Susanne Gregor erzählt ihre ruhige Geschichte sehr warmherzig. Ein wenig Autobiografisches steckt sicher auch darin, ist doch auch sie 1990 von Žilina nach Österreich übergesiedelt. Das Buch liest sich sehr angenehm, leicht melancholisch, aber auch hoffnungsvoll, besonders mit Blick auf das offene Ende.
Beitragsbild by Arthur Diebold (CC BY-SA 4.0) via Wikipedia
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Susanne Gregor – Wir werden fliegen
Frankfurter Verlagsanstalt 2023, 252 Seiten, Hardcover, € 24,00