Meine Lektüre im Juni 2023: nur außergewöhnlich gute Bücher, die ich alle – in ihrer Unterschiedlichkeit – von Herzen empfehlen kann. Von der episch breiten historischen Erzählung zum verdichteten poetisch-experimentellen Roman: alle waren wirklich herausragend, weswegen ich diesen Monat keinen Favoriten vorstellen kann. Es ist die bunte Vielfalt, die meine Lektüre Juni 2023 so erfolgreich gemacht hat.
Abdulrazak Gurnah – Die Abtrünnigen
In seinem Roman von 2006 taucht der Autor tief in die Kolonialgeschichte Tansanias, Kenias und Sansibars ein und verwebt sie mit einer Liebesgeschichte und autobiografischen Elementen zu einem Roman über Familientradition, Kolonisation und Migration. Aufgeteilt ist der Text in drei große Teile auf drei verschiedenen Zeitebenen.
Es beginnt 1899, zur Zeit des Sultanats Sansibar unter britischem Protektorat, als ein Mzungu, ein Weißer, völlig dehydriert und dem Tode nahe in einer kleinen ostafrikanischen Küstenstadt auftaucht. Der dortige Gebetsrufer, ein indischer Händler namens Hassanali, nimmt den Fremden bei sich auf, lässt ihn von Frau und Schwester pflegen. Es entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen dem Briten und Hassanalis Schwester Rehana. Eine Liebe, die nicht sein darf und auch nicht geduldet wird.
Der zweite Teil des Romans ist vor allem der Liebesgeschichte zwischen Amin, Sohn eines fortschrittlichen Lehrerehepaars auf Sansibar, und Jamila, der Enkelin von Rehana, gewidmet. In Teil drei erzählt Amins Bruder Rashid und man darf vermuten, dass sehr viel von Autor Abdulrazak Gurnah in dem jungen Bildungsaufsteiger steckt, der zur Zeit der scheiternden Liebe zwischen Amin und Jamila und kurz vor der 1963 ausgerufenen Unabhängigkeit Sansibars zum Studium nach England geht. Die Abtrünnigen ist auch ein Roman über hybride Identitäten. Schwarze, Weiße, die Indische und Arabische Elite – in Ostafrika haben sie alle unterschiedlich erfolgreich zusammengelebt. Meist war und ist das Trennende aber so viel mächtiger als das Verbindende. Gurnah erzählt davon.
Susanne Gregor – Wir werden fliegen
Ein Geschwisterroman, eine Flucht- und Migrationsgeschichte, ein Text über das Fortgehen und (Nicht)Ankommen, über die Suche nach Identität, Zugehörigkeit und den eigenen Weg im Leben – all das vereint Susanne Gregor in ihrem neuen Roman Wir werden fliegen. In Rückblicken, verschiedenen personalen Erzählperspektiven und sanften Zeit- und Ortswechseln erzählt die Autorin einfühlsam von einer besonderen Geschwisterbeziehung und vom Aufwachsen im Sozialismus. Es ist trist dort, aber Alan und Miša verleben auch eine glückliche Kindheit.
Alan wird es eines Tages zu eng im slowakischen Žilina. Er ist gerade 18, da flieht er über die Grenze. Ein Schritt, den er noch bereuen wird, erweist sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs doch seine Flucht als überflüssig. Und das Ankommen in Deutschland ist kein leichtes. Doch während ihm später in Wien anscheinend alles gelingt, er als erfolgreicher Assistenzarzt Erfolge verbucht, mit Nora eine glückliche Beziehung führt, treibt seine Schwester Miša eher ziellos durchs Leben, mehrere Studienversuche scheitern. Doch hinter der Fassade von Alans scheinbar glatt verlaufendem Leben scheint doch etwas Düsteres verborgen.
Susanne Gregor erzählt ihre ruhige Geschichte sehr warmherzig. Ein wenig Autobiografisches steckt sicher auch darin, ist doch auch sie 1990 von Žilina nach Österreich übergesiedelt. Das Buch liest sich sehr angenehm, leicht melancholisch, aber auch hoffnungsvoll, besonders mit Blick auf das offene Ende.
Asta Nielsen – Im Paradies
Die Dänin Asta Nielsen war der weibliche Star des deutschen Stummfilms. Weniger bekannt ist, dass sie nach Beendigung ihrer Schauspielkarriere zahlreiche Erzählungen geschrieben hat. In der wunderbaren Reihe Lieblingsbücher von Kat Menschik illustriert erscheinen nun fünf kurze Texte in der gewohnt liebevoll-aufwendig gestalteten Aufmachung des Galiani Verlags: dreiseitiger silbriger Buchschnitt, Glanz-Prägung und in frischen Blau-Tönen gehaltene Illustrationen mit roten Akzenten.
Die Erzählungen von Asta Nielsen sind vorwiegend humorvoll und leicht, oft ein wenig übermütig. Eine wird nach einem Start als heitere Kindheitserinnerung zu einer melancholischen, ja traurigen Geschichte über die ältere Schwester. Sie bleibt aber die Ausnahme.
Katrin Seddig – Nadine
Wut – ist das erste Wort, das mir zum neuen Roman von Katrin Seddig, Nadine, einfällt. Seine Protagonistin, 50 plus, verheiratet, Anwaltsgehilfin, ist seit Kindertagen voll mit einer unbändigen, meist erfolgreich unterdrückten Wut. Nadine ist wütend, verliert oft die Beherrschung, weil die Mutter fort ist, aber auch, weil sie überall aneckt. Selbst der Vater findet sie zu groß, zu laut, zu dick, zu wenig mädchenhaft. Nadine darf nicht so sein, wie sie will, wird schroff, gewaltbereit. Gleichzeitig versucht sie aber, diese Seite an ihr zu unterdrücken, unauffällig zu sein. Und oft gelingt ihr das.
Sie heiratet ihren viel älteren Logopäden, arbeitet als Anwaltsgehilfin und macht sich für ihren Chef unentbehrlich. Ist das schon das „normale Leben“, ist das schon Glück? Oder ist das Resignation? Viel darüber, wie und warum die Protagonisten im Roman von Katrin Seddig, vor allem Nadine, an der wir sehr nah dran bleiben, geworden sind wie sie sind, erfahren die Leser:innen in Rückblenden, die die Autorin in abweichender Schrifttype und mit vorangestellten Jahreszahlen gekennzeichnet hat. Wirklich sympathisch wird die Frau auch im weiteren Verlauf des Textes nicht. Aber, wenn auch eher widerwillig, lässt man sie näher an sich heran. Verständnis ist vielleicht zu hoch gegriffen, aber man beginnt zu erkennen, was in ihr vorgeht. Ausgesprochen gut konstruiert und geschrieben!
Ingke Brodersen – Lebewohl, Martha
Anfang der 1990er Jahre zog Ingke Brodersen mit ihrer Familie in eine Altbauwohnung in Berlin Schöneberg. Eine helle, geräumige Wohnung im vierten Stock in der Berchtesgadener Straße 37. Vor dem Haus im Pflaster eingelassen befindet sich einer jener Stolpersteine, die an ehemalige jüdische Bewohner:innen erinnert, die Opfer der Verfolgung durch die Nationalsozialisten wurden. Wer war diese Martha Cohen, an die der Stolperstein erinnert? Und wer waren die anderen 24 Menschen, die von der Berchtesgadener Straße 37 aus bis 1942 nach und nach deportiert wurden, wie erste Recherchen ergaben?
Der Autorin gelingt mit ihrem Buch nicht nur, den Lebens- und Schicksalsweg der 24 aus der Berchtesgadener Straße 37 Deportierten mehr oder weniger ausführlich nachzuzeichnen (die Datenlage ist sehr unterschiedlich), sondern die Mechanismen der Entrechtung, Verfolgung und Vertreibung bzw. Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Berlins offenzulegen und die Vorgänge auch in einen Bezug zur heutige Situation von Geflüchteten, die Ingke Brodersen immer wieder ehrenamtlich begleitet, zu bringen. Lebewohl, Martha ist ein berührendes, betroffen machendes Buch, ein wichtiges Buch. Ich lege es jeder Leserin, jedem Leser ans Herz.
Donna Leon – Wie die Saat so die Ernte
Nach einigen recht melancholischen Bänden ihrer Commissario Brunetti-Reihe überrascht es beinehe, dass der neue Roman von Donna Leon fast ein wenig heiter daherkommt, obwohl sich die mittlerweile achtzigjährige Autorin in ihrem 32. Fall einem dunklen Kapitel der jüngeren italienischen Geschichte widmet, und zwar dem Terror der Roten Brigaden in den 1970er und 1980er Jahren. Zunächst beginnt das Buch aber gewohnt gemächlich und wenig thrillerhaft mit dem Alltag des kultivierten und bescheidenen Commissarios Brunetti, der wie immer im Mittelpunkt des Interesses steht, genauso wie die Lagunenstadt mit all ihrer Schönheit und ihren Problemen. Donna Leon gelingt in ihrem zweiunddreißigsten Fall wieder ein schöner, zwar mäßig spannender und am Ende auch sehr durchschaubarer Kriminalfall, der aber wieder mit viel Atmosphäre aufwartet und sich einfach gut lesen lässt.
Wolfgang Schiffer und Dinçer Güçyeter (Hrsg.) – Türschwellenkinder
Türschwellenkinder ist der von Wolfgang Schiffer und Dinçer Güçyeter herausgegebene Sammelband betitelt, in dem 26 Menschen „über die Arbeit der Eltern“ erzählen. Viele der „in kreativ-künstlerischen Bereichen“ tätigen Menschen, die die Herausgeber um ihre Texte gebeten haben, haben einen Migrationshintergrund und/oder kommen aus den sogenannten „einfachen Verhältnissen“. Viele der Mütter kämpften mit der so gern übersehenen Sorgearbeit, oft zusätzlich zur Erwerbsarbeit, denn die Familienkasse musste ja stimmen. Und so rackerten, putzten, kochten, bastelten, wuschen sie, meist ohne irgendeine Anerkennung. Einige der Texte sind poetisch verdichtet, die meisten von ihnen erzählen aber ihre Geschichten schnörkellos, oft aus der Kinderperspektive. Denn so klar die Arbeit der Mütter meist ist (auch wenn sie für manche nicht als Arbeit gilt), so rätselhaft und geheimnisvoll ist manchmal die der Väter, die morgens mit Aktentasche und Brotdose verschwinden, um dann abends erst heimzukehren.
Dinçer Güçyeter – Unser Deutschlandmärchen
Der Preis der Leipziger Buchmesse ging 2023 an Dinçer Güçyeter für seinen autobiografisch gefärbten Roman Unser Deutschlandmärchen. Auch wenn es darin um Güçyeters Familie und vor allem die Frauen in ihr geht, handelt es sich nicht um einen klassischen Familienroman. Der Lyriker Güçyeter, der 2022 für seinen Gedichtband Mein Prinz, ich bin das Ghetto den Peter-Huchel-Preis verliehen bekommen hat, webt ein äußerst vielfältiges Gewebe, in dem der zentrale Mutter-Sohn-Dialog zu einer Collage aus Gedichten, Prosatexten, Chören und Theaterszenen erweitert wird. Vielstimmig, amüsant, sowohl poetisch als auch rau schreibt er eine so eigenwillige wie schön zu lesende Familien- und Migrationsgeschichte, in der auch die rassistischen Erfahrungen in Deutschland, die Anschläge von Mölln und Solingen, die NSU-Morde und die Tötungen von Hanau Eingang finden.
Gwendolyn Brooks – Maud Martha
Die 1917 geborene Gwendolyn Brooks lebte zeitlebens in Chicago und verfasste schon früh Gedichte. 1950 erhielt sie für ihren Lyrikband Annie Allen als erste Schwarze Autorin den Pulitzer Prize. 1953 entstand dann ihr einziger, stark autobiografisch gefärbter Roman Maud Martha. Darin erzählt sie in kleinen, zarten Episoden vom Leben und Aufwachsen einer Schwarzen Frau in der Chicagoer South Side.
Leise, poetisch und verdichtet, dabei aber auch lakonisch und das Unschöne eines Lebens nicht aussparend erzählt Gwendolyn Brooks von dem Mädchen Maud Martha, dessen Schwester Helen in ihren (und leider auch den Augen ihrer Eltern und der meisten Außenstehenden) so viel hübscher und begabter ist als sie, deren Hautfarbe auch für die eigene Community viel zu dunkel ist. Ihren lebensklugen Humor lässt sie sich allerdings nicht nehmen. Obwohl dem Pulitzer Prize zahlreiche Auszeichnungen folgten, geriet Gwendolyn Brooks zunehmend in Vergessenheit. Prominente Fürsprecher wie Barack Obama und Bernadine Evaristo haben sie in jüngerer Zeit daraus befreit. Vielleicht aus deswegen können wir nun diesen schönen, leisen Roman auch auf Deutsch genießen.
Ali Smith – Gefährten
Die britische Autorin Ali Smith schreibt wundersame, schwebende und ungemein poetische Romane. Mit ihrem Jahreszeiten-Quartett aus Herbst, Winter, Frühjahr und Sommer hat sie dies mit ganz aktuellen Vorgängen in ihrem Heimatland verbunden.Auch ihr neuester Roman knüpft daran an. Ali Smith lässt Gefährten während der Corona-Pandemie spielen. Sandy, Mitte 50 und Künstlerin, leidet unter der Ungewissheit, die die Trennung von ihrem Vater bedeutet, der wegen akuter Herzprobleme im Krankenhaus liegt. Sie darf ihn zwar besuchen, aber nur wenige Stunden in der Woche. Sie macht sich Sorgen.
Zur gleichen Zeit erhält sie einen Anruf von einer ehemaligen Kommilitonin, Martina Ingles, mit der sie nie wirklich viel zu tun hatte, die sich nun aber mit einem Problem an sie, die „Literaturexpertin“ wendet. Gefährten ist scharfe Kritik an der Flüchtlingspolitik, an der Abschottung, aber auch an der zunehmenden sozialen Ungleichheit, an Misogynie und Klimapolitik. Das Ganze aber auf eine leichte, spielerische, sich nicht festlegende, alles in der Schwebe belassende Art. Wer eine stringente Handlung und klare Entwicklungen und Aussagen erwartet, ist bei den Texten von Ali Smith falsch, geht wohlmöglich ratlos aus ihnen hervor. Stattdessen bekommt man witzige Dialoge, Sprachspiele und reichlich intertextuelle Verweise.