Seit 2014 kennen wir die 1973 in Berlin geborene Literaturredakteurin als kompetente und sehr sympathische Moderatorin des Schweizer «Literaturclub» und als Teil eines der beiden Moderatorenteams (gemeinsam mit Franziska Hirsbrunner) von «Zwei mit Buch», der Nachfolgesendung von «52 beste Bücher» im SRF. Zuvor arbeitete Nicola Steiner nach einem Studium der Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien an der Universität Passau bei den Verlagen Hanser und Schöffling & Co. und bei der Zeitschrift «Du» und als Redakteurin für die Sendung «Sternstunde Philosophie», ebenfalls beim SRF, und war freie Mitarbeiterin von Daniel Keel, dem 2011 verstorbenen Verleger des Diogenes Verlags. Sie ist aktuell Mitglied der Jury der SWR-Bestenliste und Jury-Vorsitzende des Solothurner Literaturpreises und als Dozentin an der Ringier-Journalistenschule tätig. Ein ganz schön strammes Programm. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass Nicola Steiner mir im Interview ein paar Fragen zum Literaricum Lech, das 2023 zum dritten Mal am Arlberg stattfinden wird und dessen Kuratorin sie außerdem noch ist, beantwortet hat. Besonders da ab 1. September 2023 eine neue herausfordernde Aufgabe auf sie wartet: Nicola Steiner übernimmt als Nachfolgerin von Gesa Schneider die Leitung des Zürcher Literaturhauses.
Interview mit nicola Steiner
* Liebe Nicola Steiner, das Literaricum Lech findet dieses Jahr zu dritten Mal statt. Kannst du es uns kurz vorstellen und die Idee dahinter verraten?
„Die Idee ist bestechend einfach, und ich kann das sagen, weil sie nicht von mir, sondern von Michael Köhlmeier war: wir stellen in jedem Jahr einen Klassiker der Weltliteratur ins Zentrum, von dem ausgehend wir in unsere Zeit und ihr Literatur-Schaffen blicken. Dabei steht nicht nur die Belletristik im Fokus, sondern auch Übersetzungen, Sachbücher, Reportagen und anderes. Der Klassiker ist gewissermassen die Galionsfigur der jeweiligen Ausgabe, alle Veranstaltungen sollen jedoch auch unabhängig davon funktionieren und Erkenntnisgewinn bringen.“
* Wie kommt es zum Veranstaltungsort Lech bzw. Oberlech am Arlberg?
„Vermutlich kennen die meisten das «Philosophicum Lech», das ebenfalls von Michael Köhlmeier vor 25 Jahren ins Leben gerufen wurde und von Paul Konrad Liessmann zu einer festen Größe im Kulturleben des Ferienortes Lech entwickelt hat – mit einer Strahlkraft, die in den ganzen deutschsprachigen Raum reicht. Wir versuchen nun, dieses Prinzip der «Bildung und Unterhaltung auf buchstäblich hohem Niveau», man könnte auch von «Gipfeltreffen» sprechen, im literarischen Kontext weiterzuführen. Wichtig ist dabei nicht (nur) die Höhe mit dem Blick in die Weite, also die Weitsicht, wichtig wäre mir auch die Einsicht, die die Literatur uns schenken kann.“
* Im Mittelpunkt des Literaricums steht jedes Jahr ein bestimmter Klassiker der Weltliteratur. Wie geschieht die Auswahl? Welches Potential siehst du im diesjährigen Titel „Stolz und Vorurteil“?
„Ein Klassiker ist ein Werk, das den härtesten aller Kritiker überzeugt hat: die Zeit. Das Literaricum will diese Zeitlosigkeit feiern. Wir rennen nicht der Aktualität hinterher wie oft im Journalismus, sondern suchen mit Sorgfalt unser Programm unabhängig der laufenden Verlagsprogramme zusammen. Und trotzdem versuchen wir natürlich, an den jeweiligen Klassiker immer auch zeitgenössische Diskussionen anbinden zu können. Im ersten Jahr haben wir – Pate stand der «Simplicius Simplicissimus» von Grimmelshausen – über Werke gesprochen, die Krieg, Gewalt und Migration thematisieren. Wir hatten unter anderem den deutschen Reporter Wolfgang Bauer zu Gast, der direkt aus Afghanistan nach Lech gereist war. Im zweiten Jahr – als «Bartleby, der Schreiber» von Melville Ausgangspunkt war – haben wir über Arbeitswelten gesprochen und darüber, wann es sich lohnt, sich zu verweigern. Und heuer – mit «Stolz und Vorurteil» – wird es um die Autonomie der Frau gehen, um Familien- und Lebenskonzepte und um weibliche Überlebensstrategien in einer Welt, die immer noch stark von Konventionen geprägt ist.“
* Was bedeuten dir persönlich Klassiker?
„Ich liebe Klassiker! Wie könnte es anders sein? Klassiker haben mein Leben geprägt, vermutlich genau deshalb, weil sie so zeitlos aktuell sind. Als Jugendliche haben ich an jedem Weihnachtsfest einen Klassiker geschenkt bekommen, das klingt jetzt etwas arg bürgerlich, hat bei mir aber den Grundstock gelegt für meine Liebe zur Literatur. Wir werden das Literaricum also hoffentlich noch möglichst lange machen können!“
Das Literaricum
Auf der Internetseite des Literaricum Lech findet man folgende Eigenvorstellung:
„Literatur entführt in fremde Welten, erzählt von vergangenen Epochen, ist gleichzeitig Unterhaltung und Bildung. Das Literaricum Lech fühlt sich dieser Tradition verpflichtet und lädt jährlich namhafte Persönlichkeiten zum Austausch über Literatur ein. Jedes Jahr wird im Rahmen des Literaricums ein Klassiker der Weltliteratur zum Wieder- und Neuentdecken ins Rampenlicht gerückt, um von ihm ausgehend seinen Echoraum in unser zeitgenössisches Literaturschaffen zu erkunden.“
Initiiert von Michael Köhlmeier und Raoul Schrott und kuratiert von Nicola Steiner, stand 2021 „Der Abentheuerliche Simplicius Simplicissimus“ von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1668) im Zentrum, 2022 die Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ von Herman Melville. In diesem Jahr widmet man sich vom 13. bis 16. Juli Jane Austens „Stolz und Vorurteil“ in herrlicher Bergkulisse.
„Denn dieses Buch ist weit mehr als eine Geschichte über die romantische Liebe. Es ist die Geschichte einer selbstbestimmten Frau, die lernt, für sich selbst einzustehen in einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Konventionen alles bestimmen. Mit der bissigen Gesellschaftskritik war die Autorin ihrer Zeit weit voraus und schuf mit dem Roman einen «Modernen Klassiker» in bestem Sinn.“
Ich habe die Wieder-Lektüre sehr genossen und mich an Austens feinem, bissigen Witz sehr erfreut. Für mich hat das Buch tatsächlich über die Jahre nichts von seinem Zauber verloren.
Im letzten Jahr durfte ich bereits beim Literaricum sein und von dort berichten. Es ist eine kleine, sicher aufgrund seiner Lage etwas exklusive, aber keinesfalls elitäre Veranstaltung. Alles ist sehr entspannt und offen, man kommt schnell in Kontakt und ins Gespräch. Meine Eindrücke vom Literaricum Lech im Jahr 2022 habe ich in zwei Beiträgen zusammengefasst. Auch dieses Jahr werde ich täglich auf Instagram berichten und auch hier wird (mindestens) ein Beitrag zu finden sein.
Als Gäste werden dieses Jahr neben Nicola Steiner, Raoul Schrott und Michael Köhlmeier Katja Gasser, Verena Roßbacher, Sarah Diehl, Andrea Ott und Horst Lauinger, Martin Mosebach, Alice Schwarzer und Dinis Scheck (von links oben) erwartet. Am Sonntag, den 16. Juli wird als Abschluss Michael Krüger als der erste Poeta laureatus gewürdigt. Der Preisträger verfasst monatlich ein Gedicht, das sich mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzt und im Rahmen einer Medienpartnerschaft mit ORF, Der Standard, SWR und Die Welt veröffentlicht wird.
Ich bin voller gespannter Vorfreude auf die nächste Woche. Und vielleicht sehe ich ja einen von euch dort. Beim Klicken auf das nachfolgende Foto gelangt ihr zum Veranstaltungstrailer auf Youtube.
«Ich könnte eine Romanze ebenso wenig schreiben wie ein episches Gedicht. Es sei denn, es ginge um Leben und Tod; und wenn dies der Fall wäre und ich niemals zu meiner Erholung über mich oder andere Leute lachen dürfte, würde ich mich ganz bestimmt aufhängen, noch ehe ich das erste Kapitel beendet hätte»
Jane Austen