Wut – ist das erste Wort, das mir zum neuen Roman von Katrin Seddig, Nadine, einfällt. Seine Protagonistin, 50 plus, verheiratet, Anwaltsgehilfin, ist seit Kindertagen voll mit einer unbändigen, meist erfolgreich unterdrückten Wut. Aber manchmal, besonders wenn Nadine nicht weiter weiß, entlädt sich diese Wut, oft auch in Gewalt. Da wird geschubst, gekratzt, geschlagen. „Mangelnde Impulskontrolle“ wird dem Vater schon während der Schulzeit mitgeteilt, sei Nadines großes Problem. Und der Vater, der seit ihrem zehnten Lebensjahr die Tochter allein erzieht, nachdem ihre Mutter die Familie Hals über Kopf verlassen hat, und selbst vaterlos aufwuchs, ist überfordert, reagiert seinerseits mit drastischen Maßnahmen, beispielsweise der „Kammer“, in die er Nadine immer wieder einschließt.
WUT
Nadine ist wütend, verliert oft die Beherrschung, weil die Mutter fort ist, aber auch, weil sie überall aneckt. Selbst der Vater findet sie zu groß, zu laut, zu dick, zu wenig mädchenhaft. Nadine darf nicht so sein, wie sie will, wird schroff, gewaltbereit. Gleichzeitig versucht sie aber, diese Seite an ihr zu unterdrücken, unauffällig zu sein. Und oft gelingt ihr das. Sie heiratet ihren viel älteren Logopäden, arbeitet als Anwaltsgehilfin und macht sich für ihren Chef unentbehrlich. Ist das schon das „normale Leben“, ist das schon Glück? Oder ist das Resignation?
„Die Gedanken strengen sie an und überfordern sie. Sie kann die Anstrengung des Aufgebens nicht bewältigen. Es ist zu schwierig. Es erfordert zu viel. So macht sie einfach weiter.“
Vielleicht ist es die ersehnte Tochter Mizzi, die das Glück bringt. Aber Mizzi ist ein schwieriges Kind, wird in der Pubertät aufsässig, kämpft mit Depressionen, trinkt Alkohol. Hat Nadine schon wieder versagt? Auf traditionelle Erziehung hat sie nach den Erfahrungen mit ihrem Vater wenig Lust.
„Sie wusste vielleicht, dass man Regeln aufstellen und ein Kind erziehen sollte, zu seinem eigenen Besten! Aber sie verspürte eine große Abneigung dagegen, sie wollte es nicht und stand der Erziehung aus eigener Erfahrung negativ gegenüber.“
Trauerarbeit
Viel darüber, wie und warum die Protagonisten im Roman von Katrin Seddig, vor allem Nadine, an der wir sehr nah dran bleiben, geworden sind wie sie sind, erfahren die Leser:innen in Rückblenden, die die Autorin in abweichender Schrifttype und mit vorangestellten Jahreszahlen gekennzeichnet hat. Denn zu Beginn des Romans sind wir schon weiter. Dort wird Nadine und Frank der Tod ihrer Tochter mitgeteilt. Mizzi hat sich vor einen Zug gelegt, sich das Leben genommen. Verstörend emotionslos nimmt Nadine diese Nachricht entgegen. Und wirklich sympathisch wird die Frau auch im weiteren Verlauf des Textes nicht. Aber, wenn auch eher widerwillig, lässt man sie näher an sich heran. Verständnis ist vielleicht zu hoch gegriffen, aber man beginnt zu erkennen, was in ihr vorgeht.
Und dann dreht Katrin Seddig die Geschichte noch einmal und macht ihren beobachtenden, empathischen Blick auf Nadine zu einem unbarmherzigen. Und rüttelt die Leserin noch einmal so richtig durch. Ich hatte das Buch eigentlich nicht auf meiner Leseliste und habe wie üblich keinen Klappentext gelesen, deshalb hat es mich kalt erwischt. Ich finde das Buch ausgesprochen gut konstruiert und geschrieben. Mir eine Figur wie Nadine nahe zu bringen ist wahrscheinlich nicht ganz einfach. Katrin Seddig ist das bravourös geglückt. Wie gut, dass ich dieses Buch lesen durfte.
Beitragsbild von Goran Horvat auf Pixabay
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Katrin Seddig – Nadine
Rowohlt Berlin April 2023, gebunden, 304 Seiten, € 24,00